Warum gesagt werden muss, was jeder weiß (I)

Warum gesagt werden muss, was jeder weiß (I)

Ein wenig komisch ist die ganze Sache ja schon. Da meint ein Schriftsteller, es müsse endlich einmal etwas gesagt werden; aber was da endlich gesagt werden muss, ist doch nichts anderes, als schon lange in aller Munde ist. Weil es aber gesagt werden muss, sagt er es selbst, obwohl er gar keine Qualifikationen vorweisen kann; seine Ignoranz stellt er in seinem Beitrag unter Beweis und doch zeigt die internationale Resonanz, dass es keine Anmaßung war, die ganze Welt hätte auf seine Meinung gewartet. Und weil das Thema so wichtig ist, dass er dazu nicht länger schweigen kann, schreibt er ausgerechnet ein Gedicht; statt in zweistelliger Auflage veröffentlicht und von ein paar Studienräten genossen zu werden, bezahlen ihm die Süddeutsche Zeitung, La Repubblica und ein paar weitere Zeitungen die Veröffentlichung an prominenter Stelle.

Je größer der Skandal, desto gegenstandsloser sein Inhalt. Nichts Neues, könnte man meinen, allenfalls lernen wir, was von Grass, den beteiligten Zeitungen und Kommentatoren zu halten ist. Aber das wussten wir schon. Ob Grass antisemitisch, anti-zionistisch oder bloß ignorant ist, tut wenig zur Sache. Interessant ist immer das Ungewöhnliche. Warum meinte Grass, dass seine Israelkritik endlich einmal gesagt werden und als Gedicht formuliert werden musste? Warum war die Reaktion, gerade auch in Deutschland, überwiegend negativ? Darauf gibt es die vorschnelle Antwort, Grass sei fuchsig auf Publizität aus und die deutschen Intellektuellen wollten sich aus der Schusslinie nehmen. Das Spektakel sei sein eigener Inhalt und die Ware, die bezahlt werde. In der Tat ist das die Ökonomie des Tabubrechers. Wir brauchen daher uns tatsächlich nicht mit der Frage nach der Authentizität aufzuhalten, damit ob Grass und seine Kritiker wirklich glauben, was sie sagen. Doch die Frage nach dem Inhalt stellt sich in neuem Licht: entweder das Spektakel lässt sich nur – oder doch am besten – durch Kritik an den Juden herstellen; oder es hätte sich genauso gut anders, vielleicht gerade durch eine Verteidigung eines israelischen Militärschlags gegen iranische Atomanlagen herstellen lassen. Beides verlangt nach einer Erklärung. Die im Folgenden zu erhärtende Vermutung ist, dass es ideologische Konstellationen gibt, die individual- und massenpsychologisch als Einheiten aktiviert werden, dass diese Konstellationen ökonomische und politische Komponenten haben, die sie frucht- und furchtbar machen, dass sie aber über das ökonomisch und politisch opportune hinausreichen und gerade deswegen in ihren potentiellen Konsequenzen ernst genommen werden müssen.

Beginnen wir mit Grass. Bei ihm scheint sich der Kreis insofern zu schließen, als ihm heute die Juden so sehr als größte Gefahr gelten wie der Organisation, der er in seiner Jugend angehörte. Wer heute der jüdischen Verschwörung die Übel der Welt anlastet, gilt als wahnhaft. Dass Grass jahrzehntelang über seine Vergangenheit geschwiegen hat, ist nicht wahnhaft, sondern opportunistisch: nach Kriegsende sich zur Mitgliedschaft in der Waffen-SS bekannt zu haben, wäre unklug gewesen; es als »Blechtrommel«-Autor zu tun, hätte eine hübsche Karriere gefährden können. Immer hatte er einen Ruf zu verlieren. Andrerseits: für einen moralischen Nationaldichter gehört sich so was nicht. Hätte er nicht mit sich selbst ins Gericht gehen, auf seine Kosten seine Vergangenheit aufarbeiten müssen? Den Verdacht zumindest muss man haben, dass Grass eben kein eiskalter Opportunist war, sondern dass er spürte, eine solche Offenbarung wird nicht ohne Rechtfertigung abgehen, sobald er seine Vergangenheit offenbarte wird sie ihn einholen: nicht nur moralisch oder eventuell juristisch, sondern auch ideologisch. Mit sich selbst abrechnen wollte er nicht. Hätte er dann als postfaschistischer Dicher nicht besser geschwiegen? Weil er seinen Ruf nicht verlieren wollte, hatte das Geständnis von vorneherein das Programm der Rechtfertigung: in der Jugend einer fanatisch nationalsozialistischen Organisation angehört zu haben musste kompatibel sein zum Nobelpreis und vor allem zum postfaschistischen bundesdeutschen Selbstverständnis.

Grassens Vergangenheit diskreditiert daher die Nachkriegsgesellschaft, die einen Neuanfang zu machen beanspruchte. Aber wenn der Verfasser der Blechtrommel, eines zwar nicht antifaschistischen aber doch nicht-faschistischen Romans, ein paar Jahre zuvor noch die Waffen-SS hoch genug schätzte, um Mitglied werden zu wollen: dann zeigt sich, wie kompatibel die scheinbar harmlose Nachkriegsliteratur mit dem Nationalsozialismus ist, dann wird alles, was nicht explizit antifaschistisch ist, zumindest fragwürdig. Und zeigt sich nicht auch, dass alles was nicht antifaschistisch, ja antideutsch ist, etwas ist, was auch der Waffen-SS gefallen könnte, etwas, in dem der Nationalsozialismus überwintern kann?

In der Tat scheint es so zu sein. Kaum hat sich Grass offenbart, kommt der derbste Antizionismus zum Vorschein, der erst kurz vor explizitem Antisemitismus halt macht. Aufarbeitung der Vergangenheit ist möglich nur dort, wo der Wille existiert, dass sie sich nicht wiederhole. Wo dieser Wille existiert, lässt sich auch die eigene Vergangenheit aufarbeiten, ja dort muss sie aufgearbeitet werden, will man nicht – bewusst euphemistisch ausgedrückt – die eigenen Fehler noch einmal machen. Wenn man aber nur deswegen Scham empfindet, weil man in der Vergangenheit gescheitert ist, dann ruft die (Selbst-)Bewusstmachung der Vergangenheit nur alte Assoziationsketten auf und regt alte Reflexe an. Dann ist es besser, die Vergangenheit wird nicht aufgearbeitet Das schuldige Subjekt ist dann besorgt, dass man ja nichts sagen dürfe. Und solange die Furcht so groß ist, dass es auch tatsächlich nichts sagt, ist das eine gute Sache.

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