Warum gesagt werden muss, was jeder weiß (III)

Warum gesagt werden muss, was jeder weiß (III)

Grass veröffentlicht ein Gedicht und dann wir über seine Person und über die Reaktion der Presse diskutiert. Aber was ist nun mit dem Gegenstand? »Natürlich« sei Grassens Behauptung, Israel beabsichtige die Auslöschung des iranischen Volkes, ungeschickt formuliert. Wie nun? Dass sie »ungeschickt« formuliert sei, interessiert nur bei einer wahren Aussagen, denn nur bei der können wir hoffen eine wahre Sache besser zu formulieren. Bei einer falschen könnten wir allenfalls fürchten, sie ist so vage und verklausuliert formuliert, dass wir ihren Wahrheitsgehalt nicht dingfest machen können. Aber ist das hier der Fall? Beabsichtigt Israel die »Auslöschung des iranischen Volkes«? Nein. Könnte Israel das »iranische Volk« auslöschen, selbst wenn es Atomwaffen besäße und sie gegen das iranische Atomprogramm einsetzen würde? Nein. Die Behauptung von Grass ist also falsch. Wie geht man mit einer falschen Aussage um? Man kann aufklären, also einen pädagogischen Zweck verfolgen. Allerdings ist das nur dann sinnvoll, wenn man über neue Fakten verfügt oder über bisher unbekannten oder zumindest nicht verbreitete Fakten. Das ist hier nicht der Fall. Grassens Behauptung ist offensichtlich falsch. Offensichtlich Falsches aber für wahr zu halten ist wahnhaft. Dagegen zu argumentieren hat allenfalls therapeutischen Zweck: die Ursachen pathologischen Denkens im Individuum auszumachen und eventuell zu beseitigen. Wir schreiben aber nicht an Grass und können daher auch keine Therapie anbieten.

Nur wenn man von diesem wahnhaften Moment abstrahiert, kann man das Gedicht zum Anlass nehmen der Frage nachzugehen, ob es richtig sei, dass ein Land, das wiederholt von einem anderen mit Auslöschung – nicht nur im militärischen Sinn, sondern mit einer Auslöschung aus dem Buch der Geschichte, also mit totaler Vernichtung – bedroht wurde, sich gegen das Atomprogramm dieses Landes zur Wehr setzt, notfalls mit militärischen Mitteln. Dann muss man aber nicht nur vom Gehalt des Gedichtes absehen, sondern auch davon, warum es offenbar auf so großen Rückhalt stößt.

Was nun? Wir können als Pazifisten eine israelische Militäroperation prinzipiell ablehnen und betonen, dass wir »natürlich« auch die beabsichtigte Vernichtung Israels nicht gutheißen. Dabei müssten wir aber ignorieren, dass ersteres praktisch verhindert werden soll – keine militärische Hilfe für Israel zu leisten steht zumindest in der Macht der Adressaten –, letzteres aber bloße Hoffnung (?) bleibt, für deren Enttäuschung der Autor keine Verantwortung übernehmen will. Andrerseits könnten wir uns zu Politikberatern aufschwingen, erörtern, ob denn ein eventueller Militärschlag tatsächlich im israelischen Interesse läge und so unsere moralische Überlegenheit wahren. Oder wir könnten das Grass’sche Spektakel zum Anlass nehmen, der Frage nachzugehen, unter welchen Bedingungen es zu einem werden konnte.

In der Tat ist es nur unter dieser Fragestellung zu einem internationalen Phänomen geworden. Zwar ist es leider nicht so, dass Antizionismus auf islamische und deutsche Gemüter beschränkt wäre. Dass aber aus dem deutschen Etablissement, zu dem Grass ohne Zweifel gehört, ein eindeutiges Bekenntnis zum Antizionismus kommt: das ist international zum Glück doch bemerkt und diskutiert. Die Sorge, ob Deutschland aufs Neue der Zivilisation den Krieg erklärt und seine geschickte Wortwahl nur eine Maske ist, besteht aus guten Gründen fort.

Es wurde daher durchaus bemerkt, dass Grass zwar auf Widerspruch stieß, gleichzeitig aber großen Rückhalt in der Bevölkerung genoss. Kaum bedacht wird in der deutschen Diskussion, wie kritisch Deutschland nach ’89 und der Eurokrise international gesehen wird. Deutschland wird also mit Sorge gesehen, auch in eher internationsalistischen Medien. Auch wenn die deutsche Elite eher kritisch auf Grass reagiert, scheint die bloße Diskussion das Misstrauen gegen Deutschland zu bekräftigen. Auf mehr kann es ein Gedicht auch gar nicht angelegt haben. Was gesagt werden muss, zieht seine Befriedigung daraus, dass er diskutiert wird. Die Erhebung in das Reich des Diskurses scheint Aufklärung zu intendieren, beabsichtigt aber tatsächlich das Gegenteil. Weil der demokratische Pluralismus nur die Diskussion, nicht aber die Klärung zelebriert, ist es für den Antizionismus schon ein Sieg, kritisch diskutiert zu werden. Wie intelligent design oder die Leugnung des Klimawandels legt es der Antizionismus nicht darauf an, dass seine Meinung geteilt wird, sondern darauf, dass er zur Sphäre der möglichen Meinungen zugelassen wird. Es geht nicht ums diskutieren, und das Einreiseverbot nach Israel drückt diese Erkenntnis aus: Grassens »Argumente« sind dort nicht unbekannt, aber einem Gegenstandswechsel ins Wahnhafte hat man dort aus guten Gründen einen Riegel vorgeschoben: weder Grassens »Argumente«, noch seine persönliche Freiheit (es sei denn, er hätte in Israel Urlaub machen wollen) sind davon affiziert, bloß seine Anmaßung, Teil des Diskurses werden zu wollen.

Innerhalb Deutschlands stellt sich die Sache umgekehrt dar. Grass konnte annehmen, immer schon schon Teil des Diskurses zu sein, egal was er sagen würde. Dass Grass habe Aufsehen erregen wollen aus Gründen der Selbstdarstellung, greift zu kurz. Er hätte seinen Zweck erreichen können, indem er sich mit Hartz-4-Empfängern solidarisiert oder dem deutschen Vorherrschaftsanspruch über Griechenland widersprochen hätte. Er hat das nicht getan, sondern ein Thema gewählt, bei dem er wusste, wissen musste, dass er gerade von jenen Zustimmung bekommen würde, denen angesichts seiner Zugehörigkeit bei der Waffen-SS warm ums Herz wurde. Grass hat nicht einfach seine Meinung zu Israel kundgetan, sondern er hat seine Meinung als ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS kundgetan. Das verlangt keine Interpretation. Im Gegenteil, es ist so offensichtlich, dass man es kaum glauben mag. Selbst bei seinen Kritikern schüttelt man den Kopf. Tom Segev meint, Grass wünsche beinahe Antisemit genannt zu werden. Das könne aber doch niemand wollen.

Immerhin, die Zeit vor dem Pessach-Fest ist die Zeit der Pogrome und dass Grass davon nicht gewusst habe, hieße ihm Debilität oder Dummheit vorzuwerfen. Was Grass »mit letzter Tinte« sagen will – nehmen wir es erst! –, danach hat er auch ein Verlangen. Vielleicht war die Lebenslüge, die ihn umtreibt, nicht die 2006 offenbarte, sondern der Verdacht, nicht auf der Seite der Deutschen zu stehen. Und in der Tat: wenn »52 Prozent der Deutschen der Meinung [sind], dass man mit dem Themenkomplex Israel und Juden zu leicht auf die Nase fallen kann«, dann deutet das nicht auf einen unterschwelligen Antisemitismus hin, sondern auf einen der nach außen drängt und der Deutsche leidet daran, diesem Drang nicht nachgeben zu dürfen. Wenn immer wieder behauptet wird, man dürfe ja nichts sagen, sollte man das ernst nehmen: die ja weit verbreitete Israel-Kritik ist es offenbar nicht, wonach man sich sehnt. Das geht weiter. Man kann nur hoffen, dass der Ruf, den Grass international genießt, groß genug ist, so dass der Inhalt seiner Äußerung und die Zustimmung, die ihr Deutsche gewähren, nicht gleich wieder vergessen wird.

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