Clarkes „Die Schlafwandler“ und die deutsche Rezeption zwischen EU-Apologie und neudeutschem Nationalismus

Clarkes „Die Schlafwandler“ und die deutsche Rezeption zwischen EU-Apologie und neudeutschem Nationalismus

Die Begeisterung in Deutschland über das Clarkebuch „Die Schlafwandler“ hat meiner Ansicht nach zwei wesentliche Motive und Gruppen der Befürworter: Zum einen die in der WELT zitierten konservativen Junghistoriker, die darin einen Freispruch des deutschen Staates und des preussischen Militarismus sehen. Wie schrieb einer von ihnen: Wenn die Annahme der deutschen Alleinschuld nicht zutreffe, relativiere sich auch die Idee einer Einbindung Deutschlands in die EU als friedensstiftendem Projekt.Das tendiert mehr in Richtung Renationalisierung und AfD-Positionen hin.Von der anderen Seite her argumentiert Herfried Münkler (dessen Buch „Der Grosse Krieg“ nun zum deutschen Clarkeäquivaklent gelobt wird), der in dem Ersten Weltkrieg vor allem ein europäisches Versagen sieht und deswegen eine europäische Lösung, die EU befürwortet, in der Deutschland aber mehr Macht haben soll.Nicht umsonst ist Herfried Münkler neben Günther Grass auch Unterzeichner einer Unterstützungsliste für den SPD-Eurokommissionskandidaten Martin Schulz.
Münkler hat auch gesagt, dass die Interpretation des Ersten Weltkriegs wichtig ist, wenn Deutschland heute eine zentrale Rolle in der EU wie nun eben in der Finanz- und Ukrainekrise spielen soll—O-Ton:

“Es lässt sich kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem schuld gewesen.”

Man sieht also, dass es scheinbar weniger um wissenschaftlich-historische Forschung, sondern sich eher um interessensgeleitete Interpretationen des damaligen Geschehen handelt, um politische Zwecke der Jetztzeit zu legitimieren.Ebenso auffällig ist, dass sowohl beim Clarke- wie auch beim Münklerbuch, wie aber auch bei den meisten bürgerlichen Historikern die Ökonomie, die Wirtschaftseliten, deren Pläne und Forderungen und deren Einfluss auf die Politik und die Kriegszielbestimmung gar nicht erwähnt werden und wurden. Man muss nicht so weit gehen, wie in der Leninschen Interpretation des Ersten Weltkrieges, dass die Politiker ohnehin nur Agenten und ausführende Marionetten der Wirtschaftseliten und Kapitalgruppen sind, der Weltkrieg eine Zwangsläufigkeit des „ Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus“war, eine Art von ökonomischen Aggregatszustand, in dem sich dann das übersättigtes Gasgemisch des Imperialismus, der nur kurzfristige Absprachen treffen kann, aber die Konkurrenz auf die höchste Stuife bringt, in Form einer Explosion in einem Weltkrieg entlädt-im Gegensatz zu Kautskys These vom „Ultraimperialismus“, in dem sich die Monopole und Staaten absprechen und kooperativ entwicklen entlang ihrer Monopolabsprachen (die bisher beste Leninkritik kam nicht von bürgerlichen Kräften sondern marxistischerweise seitens der Marxistischen Gruppe- nachlesbar unter:

http://www.gegenstandpunkt.com/msz/html/81/81_3/lenin.htm

, aber man sollte eben schon zwei Bezüge zur Ökonomie darstellen: Es war nicht nur Moltke, der Bethman Holweg im Genick saß, sondern unter anderem auch Walther Rathenau, der als sein Gutsnachbar dem Holweg fast jeden Abend seine Idee von Mitteleuropa nahelegte und einforderte.Daneben noch die unzähligen Denkschriften der Alldeutschen, Industrieverbände,Kapitalgruppen,etc, die sich für einen Kontinentalblock unter deutscher Führung aussprachen und die sich aus der Dynamik des witrschaftlich expandierenden deutschen Imperialismus ergaben und nicht aus der individuellen Bösartigkeit einiger Kapitalisten.Das musste nicht automatisch zum Krieg führen, erhöhte aber die Reibungen und Differenzen, machte ihn also wahrscheinlicher.Zum anderen richtig an Lenin ist das Gesetz der ungleichen Entwicklung der Weltwirtschaft mit all seinen politischen Implikationen. Vor allem das Aufsteigen neuer Wirtschaftsmächte, die ihre ökonomische aufsteigende Macht auch in politische und militärische transformieren als Ursache für weltpolitische Instabilitäten und Kriege. Die These des zu spät gekommenen Imperialismus und dem imperialitischen Kampf/Krieg um die „Neuaufteilung der Welt“ ist vielleicht etwas falsch hergeleitet, aber nicht ganz so abwegig.Das deutet Clarke zaghaft an, wenn er erwähnt, dass Deutschland Exportweltmeister gleich nach den USA wurde.Aber die Bedeutung für das daraus entstehende Konfliktpotential führt er da eben nicht aus. Ähnlich verhält sich dies heute auch mit dem aufsteigenden China und anderen emerging countries/markets, die dann als Regionalmächte und neue Großmächte agieren wollen und die USA herausfordern.Diese völlige Ausklammerung der Ökonomie, die alleinige Konzentrierung auf Politiker und Militärs ist geradezu ahistorsich und irreführend. Und sie vertraut auch dem Dogma der Globalsierung: „Wandel durch Handel“, bzw. der Ideologie des kapitalistischen Friedens.

2014 ist das 100jährige Jubiläum des Beginn des Ersten Weltkrieges.Über die Kriegsschuld fand in Deutschland darüber schon der sogenannte Erste Historikerstreit statt. In den 50er Jahren war Mainstream, dass Deutschland hineingeschlittert sei, aber nicht bewusst.Dann veröffentlichte in den 60er Jahren Fritz Fischer sein Buch „Griff zur Weltmacht“, in dem er Deutschland die Hauptschuld an dem Krieg gab, behauptete, dass die führenden Eliten in Deutschland diesen schon seit 1912 mittels des sogenannten Kriegsrat geplant und bewusst herbeigeführt hätten, um Desutschland als Weltmacht vor dem britischen Empire zu etablieren. Fischer behauptete aber nie eine Alleinschuld Deutschlands, aber zeigte eben, dass es eine sehr aktive Rolle spielte.Zumal behauptete Fischer eine Kontinuität deutscher Expansionspolitik vom Kaiserreich bis hin zu den Nationalsozialisten.Nun 2014 hat der australische Historiker Christopher Clark das Buch „Die Schlafwandler“geschrieben, in dem er allen Seiten mehr oder weniger die Schuld gibt und sich wieder der älteren Historikerposition annähert.Damit steht uns möglicherweise wieder ein neuer Historikerstreit ins Haus oder aber eben nicht, da alle Gegenpositionen scheinbar in der Historikerzunft, als auch den meisten Medien gar nicht mehr zu Worte kommen oder als ebenso relevante Gegenpositionen nicht mehr anerkannt, ja diese marginalisiert werden (wobei sich fragt „Durch wen?“ und wie sich diese Interpretationsmacht gesellschaftlich, wenn schon nicht inhaltlich herstellt). Es scheint sich ein recht lautstark auftretender stiller Konsens des Spektrums von Münkler bis Noetzel/Weber herauszubilden bei der Interpretation der Kriegsursachen, wenngleich Differenz bei den Implikationen.
Hier noch die Beiträge dreier Nachwuchshistoriker, die von Springers WELT gehypt werden, darunter auch Thomas Weber, Autor des Buches „Hitlers Erster Krieg und eben Sönke Neitzel. Dabei geht es um die Frage, was die Lehren des Ersten Weltkrieges sind. Weber und Neitzel verteidigen hierbei den deutschen Nationalstaat und sehen dessen Auflösung in Europa als nicht zwangsläufig an.Es geht um die Frage des Nationalstaats und seiner Einbindung in europäische Strukturen, die von den drei Autoren infrage gestellt, bzw. relativiert wird.Die neue Denkströmung besagt, dass wenn Deutschland als Nationalstaat nicht die Kriegsschuld hatte, ist die Idee einer Einbindung Deutschlands in supranationale Strukturen der EU zur Garantie des Friedens nicht notwendig.

Eine Steilvorlage für die AfD.
Zum Beleg hier nochmals aus den WELT-Artikeln:

„Meinung 04.01.14
Erster Weltkrieg
Warum Deutschland nicht allein schuld ist
Historiker verwerfen die These, Deutschland allein habe Schuld am „Großen Krieg“. Das sollten auch jene wahrnehmen, die mit dem deutschen Kriegsstreben die Abschaffung des Nationalstaats begründen. Von Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Cora Stephan und Thomas Weber (…) Falsche Prämissen
Diese Sicht aber liegt jenem Europakonzept zugrunde, demzufolge Deutschland supranational „eingebunden“ werden müsse, damit es nicht erneut Unheil stifte. Die Vorstellung von der friedensstiftenden Wirkung der europäischen Einigung, insofern sie das Nationale überwindet, wie sie besonders in Deutschland verbreitet ist, beruht jedoch unserer Meinung nach auf falschen Prämissen.“

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article123516387/Warum-Deutschland-nicht-allein-schuld-ist.html

Damit läuft die Historikerdebatte um den Ersten Weltkrieg also auf die Frage hinaus: Wieviel Nationalstaat, wieviel Europa. Die Gefahr besteht darin, dass nationalkonservative Kräfte dies als Weckruf zur Lösung Deutschlands aus der EU und als Wiederbelebung einer deutschen Weltmacht verstehen könnten.Münkler versucht die deutsche Geschichte zu entlasten, um damit Legitimität für „mehr Verantwortung“ (sprich: Macht) Deutschlands in der EU zu erreichen. Sönke Neitzel und die Junghistoriker, der die WELT Springers ein einzigartiges Forum bot, versuchen sich in Relativierung der deutschen Schuld am 1. Weltkrieg, um „mehr Verantwortung“ Deutschlands auch wieder in mehr nationaler Macht zu fordern und weniger durch Einbindung in die EU.  Münkler wiederum fordert ein Aufgehen Deutschlands wie der preußische Staat ins Deutsche Reich eben in die EU, fordert dabei aber eben eine Machtstellung Deutschlands in der EU wie der Preußens im Deutschen Reich.Münklers Position ist eher SPD/CDU/Grünen-affin, Noetzel und die Junghistoriker eher bei der AfD , dem nicht mehr dominierenden nationalkonservativen Teil der CDU/CSU und dem marginalen Teil der Nationalliberalen in der FDP angesiedelt, die  Naumann, Mende und Möllemann darstellten.

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Noch als Lesetip über die Diskussion, die das Deutsche Historische Museum ziwschen Paul Nolte und Sönke Neitzel zum 2. Weltkrieg ausrichtet–ein arbeitsteiliger Monolog zweier Nationalkonservativer ohne eine Gegenstimme oder andere Position.

Die AfD diskutiert im Deutschen Historischen Museum

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