Warum gesagt werden muss, was jeder weiß (II)

Warum gesagt werden muss, was jeder weiß (II)

Gewöhnlich wird ein Gedicht, zumindest heute, nicht an politischen, sondern ästhetischen Maßstäben gemessen. Es fehlt denn auch nicht an Kommentaren, die Grassens Gedicht „schlecht“ nennen. Aber schon hier deutet sich an, dass es nicht um die poetische Qualität geht. Denn der Bemerkung, Grass habe ein schlechtes Gedicht geschrieben folgt eher, dass Lyrik seine Stärke eben nicht sei, als eine Erklärung, was das Gedicht denn so schlecht mache.

Warum ist es schlecht? Weil eine Verszeile nicht mit »der das von« anfangen darf? Aber warum denn nicht, schließlich darf ein Gedicht doch alle Regeln brechen? Aber nur, wenn es diesen Bruch rechtfertigen kann. Ist das der Fall?

Wenn wir dieser Frage nachgehen, legen wir eine andere beiseite: Warum unvermittelt mitten aus dem deutschen Etablissement etwas veröffentlicht und diskutiert werden konnte, was, wenn von einem andren geschrieben, ein paar Jahre früher oder in einer anderen Form, nicht anders als antisemitische Hetzschrift aufgenommen worden wäre. Wer angesichts einer Hetzschrift in Stilkritik sich übt, erklärt ihren Inhalt für nebensächlich.

Es sei denn, die Form war für den Inhalt notwendig. Ein Gedicht, vielleicht, musste dem Inhalt von seiner Schärfe nehmen. Obgleich ja das dem wenig ansteht, das doch scheinbar gesagt werden musste. Wenn man schon wie der dumme Deutsche denkt, sollte man auch für ihn schreiben, und das Publikum erwartet bei einem Gedicht Reime. Fehlanzeige. Der Studienrat erwartet einen Rhythmus, der aus der Sprödigkeit der Sprache entspringe gegen die Form in die sie gegossen werde. An Grassens Gedicht kann er sich nicht ergötzen. Zumindest die Verszeilen sollten von Bedeutung sein, einzelne Bilder und Gedanken voneinander abtrennen. Aber nicht hier. Trotz der Form also ein Prosagedicht, unerwartete Avantgarde?

Vermutlich nicht. Vermutlich gibt es einen ganz trivialen Grund, warum vom Gedicht nicht viel mehr als sein Aussehen übrig geblieben, also der Verzicht auf den Blocksatz. Lyrik, auch die in Prosaform, muss einen lyrischen Gehalt haben. Was ein solcher sei, hat die Literaturwissenschaftler seit jeher in Erklärungsnot gebracht. Jedenfalls muss es etwas sein, was nicht dargestellt werden kann (im Drama), nicht erzählt werden kann (im Roman) und für das nicht argumentiert werden kann. Lyrik ist das, was übrig bleibt, wenn etwas nicht gesagt werden kann. In der Tat: dargestellt werden kann es nicht ohne die bekannten Stereotype; erzählt werden kann es nicht ohne die Details, die seiner Aussage widersprechen; argumentiert werden kann für seine These nicht, weil sie falsch ist. Was nicht zu sagen ist, kann nicht episch oder dramatisch gesagt werden. Die Form ist ein Kalauer.

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