Krise oder Kapitalismus?

Krise oder Kapitalismus?

Guenther Sandleben: Finanzmarktkrise – Mythos und Wirklichkeit. Wie die ganz reale Wirtschaft die Krise kriegt. Books on Demand: 2011.

»Hätte Joseph zur Zeit von Christi Geburt einen Pfennig investiert und wäre dieser von einer Bank mit durchschnittlich 5 Prozent pro Jahr verzinst worden, wäre dieser Pfennig im Jahr 2000 zum damals gültigen Goldpreis etwa 500 Milliarden Kugeln aus Gold vom Gewicht dieser Erde wert gewesen – zum Goldpreis in diesem Jahr. Das zeigt, in Form eines realistischen Symbols: ›Geld frisst Welt‹« (Margit Kennedy, »Geld regiert die Welt«, zitiert nach Sandleben, S.65.)

Das Finanzwesen scheint mysteriöse, ja unmenschliche Eigenschaften an sich zu haben. Seinen eigenen Gesetzen überlassen, kann es uns nur ins Verderben führen. Dass es so nicht gut und zumindest nicht weiter gehen kann, scheint offensichtlich. Dennoch bestimmen die Gesetze des Geldes zumindest teilweise unsere Wirtschaft und unser Leben. Und die Finanzmärkte, die vordringlich mit Zins und magischer Geldvermehrung zu tun haben, scheinen diesen Einfluss zu vergegenständlichen. Wenn Kapitalismuskritik heute als Zinskritik auftritt, dann um eine, wenn nicht humane, so doch zumindest nachhaltige Wirtschaft zu bewahren. Andrerseits: Auch wenn Joseph kein Geld zu investieren gehabt haben mag, so ist der Zins (und der Zinseszins) doch älter als unser Erlöser. Ganz so wörtlich aufgefressen worden ist die Erde dennoch nicht. Was ist da los?

1. Günther Sandleben untersucht den Krisenprozess von 2005 bis 2011 und die gängige Meinung, außer Kontrolle geratene Finanzmärkte seien kollabiert und diese Krise sei dann auf die »reale« Wirtschaft übergesprungen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände? Folge von Gier und Deregulierung? Oder notwendige Folge alles menschliche Maß übersteigenden Zinses? Sandleben setzt dagegen: Die Krise habe ihren Ausgang von der »Realwirtschaft« genommen, die Finanzmärkte haben deren Bedürfnisse nach Kredit zu befriedigen versucht und der Zins sei nichts anderes als eine Form des Profits, wie auch immer er sich darstelle.

Sandleben beginnt mit einer Rekapitulation der Geschehnisse: Die Krise hat 2005 auf dem amerikanischen Immobilienmarkt als realwirtschaftliche begonnen: neugebaute Häuser konnten nicht mehr verkauft werden, der Markt kontrahierte und die Refinanzierung wurde schwieriger. In der Folge geriet der Finanzmarkt in einer erste Krise, die durch Rückfinanzierungen weltweit ausstrahlte. Anfang 2008 kam es zu einer weltweiten Überproduktionskrise, erst Ende 2008 zur Krise der Finanzmärkte. Konjunkturprogramme schlossen sich an, stießen aber auf Grenzen und zur Krise des Staatskredits.

Während das erste Kapitel den Krisenprozess nachzeichnet, versuchen die weiteren Kapitel ihn zu erklären. Den Kern der Argumentation enthält das zweite Kapitel: Die Finanzmärkte sind keine Sphäre, die neben und über der Realwirtschaft existiert und diese vielleicht sogar unter Druck setzt oder zwingt, unverantwortlich zu handeln, sondern erfüllt realwirtschaftliche Interessen (z.B. ursprünglich um die gestiegene Nachfrage auf dem US-Immobilienmarkt zu befriedigen). Der Kapitalist ist durch die Konkurrenz gezwungen, sich der Instrumente der Finanzmärkte zu bedienen. Ihre Ausformung ist also durch die realwirtschaftliche Entwicklung bestimmt, nicht umgekehrt.

Im dritten Kapitel führt Sandleben die Periodizität der Krisen auf die Entwicklung des fixen Kapitals zurück, die zu einem Auseinanderklaffen von Nachfrage und Angebot führt. Zu Beginn eines Konjunkturzyklus werden neue Anlagen gebaut, hier übersteigt also die Nachfrage das Angebot; jedes Angebot wird nachgefragt und die Wirtschaft gerät in einen Boom. Zum Ende des Zyklus sind die Industrieanlagen ausgebaut, das Angebot übersteigt die Nachfrage und die Kapazitäten können nicht mehr ausgelastet werden. Wie schwer die Rezension ist und ob sie tendenziell vermieden werden kann, hängt davon ab, ob es ungesättigte Märkte gibt, in denen das Kapital sein Angebot realisieren kann.

Am schwächsten ist das letzte Kapitel: Um den Zusammenbruch des Finanzmarktes zu verhindern und die Konjunktur anzukurbeln, sind die Staaten eingesprungen und haben Kredite und Garantien vergeben. Damit ist aber der Staat, oder doch zumindest seine Finanzkraft, von der Krise bedroht. Die (Re-)Finanzierung über Steuern unterliegt konjunkturellen Grenzen; die »ordentliche« Kreditaufnahme setzt die Kreditwürdigkeit voraus, liegt also nicht in der Macht der Staaten selbst. Ganz in der Macht der Staaten liegt es, Geld zu drucken bzw. Staatsanleihen von der Notenbank kaufen zu lassen, womit aber Hyperinflation drohe. Wenn der Staat nicht über die Währung verfügt, in der die Anleihen gehandelt werden, droht zudem die Devisenkrise.

 

2. Die Darstellung ist verständlich und einigermaßen fundiert, das Büchlein also – trotz des Nichtverlages – empfehlenswert. Dennoch haben sowohl der beschreibende erste Teil wie auch der erklärende zweite Teil ihre Probleme.

Mit der Darstellung scheint einerseits schon alles gesagt: Immobilienkrise in den USA – erste Finanzkrise mit weltweiter Ausstrahlung – allgemeine Überproduktionskrise trotz Kreditangebot – allgemeine Finanzkrise: dann kann diese Finanzkrise wohl kaum Ursache sein. »Schon die zeitliche Abfolge spricht dagegen.« (S.18)

Leider wird das Gerede von einer Finanzmarktkrise deswegen nicht verstummen. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen gibt es zwar sicher die These, dass die unverantwortlichen Protagonisten an den Finanzmärkten durch ihre Gier die Realwirtschaft an den Rand des Abgrunds gebracht hätten. Dagegen kann Sandleben gute Argumente vorbringen. Das gilt aber nicht mehr für eine ein wenig verfeinerte These, wonach die Überangebotskrise zwar nicht auf die Krise der Finanzmärkte, wohl aber auf deren Deregulierung zurückzuführen sei. Die Finanzmärkte hätten dann sozusagen die realwirtschaftliche vor ihre eigenen Krise verursacht. Eine stärker regulierte Wirtschaft müsste zwar auf eine heiße Konjunktur verzichten, käme dafür aber auch mit milderen Abstürzen aus. Ob das stimmt — über die Banalität hinaus, dass man auf gar nicht erst produzierten Waren natürlich auch nicht sitzen bleiben kann — ist fraglich. Eine genauere Untersuchungen verlangte es jedoch, ein wenig tiefer einzusteigen, als Sandleben es tut. Sicher, man kann ihm zugute halten, dass es ihm um diese These gar nicht ging. Aber er diskutiert ja nicht nur die enge Frage, ob eine spezifische Krise von den Finanzmärkten auf die Realwirtschaft übergesprungen sei; er reißt auch die Fragen an, ob die Krisen (politisch) zu meistern sind und wie sich das Verhältnis von Finanzkapital zu »Realkapital« gestaltet. Sandlebens Antwort lautet: Nein, Krisen sind notwendige Erscheinen des Kapitalismus; und was auf den Finanzmärkten geschieht sind Folgen der Bedürfnisse der »Realwirtschaft«. Vielleicht hat er damit recht. Wer aber am Kapitalismus die Krise kritikabel findet, möchte genauer wissen, wie sich die Interessen der »Realwirtschaft« auf Struktur und Entwicklung der Finanzmärkte ausgewirkt hat, als es Sandleben leistet.

Nun muss man das nicht tun: den Kapitalismus nur wegen seiner Krisen hassen. So illustrieren Krisen zwar, dass – entgegen des Knappheitsdogmas der Volkswirtschaftslehre und des real-existierenden Elends auf der Welt – ein Zuviel an gesellschaftlichem Reichtum schlecht fürs Geschäft ist; so oder so ist die Knappheit Folge der Produktionsweise und der Reichtum bleibt denen vorenthalten, die ihn produzieren. Und hier liegt das Problem. Sandleben sagt zwar nicht ausdrücklich, dass nur die Krise den Kapitalismus kritikabel mache; aber gerade seine richtige Erkenntnis, dass die Krise nicht eine zufällige Störung, sondern notwendige und regelmäßige (wenn auch nicht unbedingt periodische) Begleiterscheinung kapitalistischer Geschäftstätigkeit sei, laden zu dieser Lesart ein. Er trifft zum Beispiel die – durchaus sympathische – Feststellung, dass Arbeiter immer nur solange beschäftigt werden, wie es der Kapitalverwertung dient, und dass sie sich daher nicht gegeneinander oder gegen die Arbeitslosen ausspielen lassen sollten, sondern sich als Teil des sogenannten Arbeitsmarktes verstehen und daher gemeinsam dort das Angebot möglichst verknappen und verteuern müssten. Ein politisch zweckmäßiger Vorschlag, der nur eins ignoriert – dass es kein Privileg ist, zu den Auserwählten in einem »sicheren« Beschäftigungsverhältnis zu gehören. Umgekehrt spricht vieles dafür, dass es gerade die Schädigung ist, die jene scheinbar Privilegierten erfahren, welche dem Ressentiment sowohl gegenüber den Nichprivilegierten – Arbeitslosen und »Ausländern« – als auch gegenüber dem Finanzkapital zugrunde liegt. Selbst ein autoritäres Subjekt muss zwar einige ideologische Arbeit leisten, um jene Schädigung in Rassismus und Antisemitismus umzusetzen; aber ihre Voraussetzung ist doch, zwar nicht die Schädigung selbst, wohl aber die Weigerung sie als solche wahrzunehmen.

 

3. Der Zins scheint eine geheimnisvolle Eigenschaft zu sein, die dem Geld von Natur aus zukommt. Wenn man freilich die Abschaffung des Zinses immerhin fordern kann, scheint es mit dessen Naturgegebenheit nicht so weit her zu sein. Abgesehen von gesetzlichen Verzugszinsen muss niemand Zinsen bezahlen, wenn das nicht so vereinbart wurde. Ein Zinsverbot trifft also den Schuldner ebenso wie den Gläubiger. Zinsen werden nur dann zur gesellschaftlichen Macht, wenn ein allgemeines Bedürfnis nach Kredit besteht und es für das Geld als potentiellem Kredit eine alternative Verwendungsweise gibt. Im Kapitalismus ist dies die Produktion: weil sich durch die Vernutzung der Arbeitskraft ein Profit machen lässt, lohnt es sich diese Vernutzung über das Maß des Eigenkapitals auszudehnen; und dieses geliehene Kapital will dafür entschädigt werden, nicht selbst produktiv sein zu können.

Freilich: das setzt voraus, das Finanzkapital könnte ebenso gut in die Produktion fließen. Ist das aber der Fall? Es ist zumindest umstritten. Einigermaßen gesichert ist, dass am Ende eines Konjunkturzyklus Kapital, das keine Absatzmöglichkeiten mehr sieht, vermehrt in den Finanzsektor fließt und dort die Spekulation anheizt. Umstritten ist, ob sich darin ein über einzelne Konjunkturperioden hinausgehender Trend zeigt, ob also der Fall der Profitrate das Kapital auf die Finanzmärkte treibe und schließlich auch dort mit diesem Fall zu kämpfen habe. Sandleben hat dafür nur eine Fußnote übrig: Nicht der Wunsch der Finanzkonzerne, dem Fall ihrer Profitrate entgegenzuwirken (S.63, Fn. 47), sondern das industrielle »Bedürfnis nach nach Kreditmöglichkeiten« (S.70) habe zur Krise geführt. Aber solange das nicht bewiesen oder zumindest belegt wird – im Kapitalismus erklärt ein Bedürfnis ja gerade nicht seine Befriedigung –, wird auch die Rede von der Macht der Finanzmärkte nicht verstummen.

 

4. Die Geschichte vom Gold, das die Erde frisst, dürfte eines klar machen: Wenn eine Rechnung nicht aufgeht, ist vielleicht der Ansatz falsch. Das gilt insbesondere für alle Zahlen, die scheinbar offensichtlich zu groß sind. Nicht nur die Medien lieben es, mit großen Zahlen zu schockieren. Aber wie groß ist zu groß? Um der Krise zu begegnen wurden, laut Sandleben, Konjunkturprogramme von 2,5 bis 3,4 Prozent der Bruttoinlandsproduktes (BIP) aufgelegt (S.42). Allerdings innerhalb von drei Jahren: ist das viel oder wenig? Das gleiche gilt für die Staatsschulden: Wenn ein Staat so viele Schulden hat, dass sie das BIP übersteigen, dann müsste er doch pleite sein? Wenn der Staat ein Privathaushalt wäre und das BIP sein Vermögen. Ist er aber nicht.

Am Ende von Sandlebens Krisenprozess stehen die staatlichen Garantien für den Finanzsektor und die Konjunkturprogramme. Das hat Geld gekostet. »Mit dem Euro-Rettungsschirm hat die Verschuldung eine höhere Stufe erreicht. […] Als letzter Stabilitätsanker dienen jetzt die relativ stabilsten Länder« (S.51). Der Staat »verwandelte die Entwertungsrisiken des Kapitals zu eigenen Risiken, die sich in einer ausufernden Notenbankbilanz und in einem sprunghaften Anstieg der Staatsschulden niederschlugen« (S.58). Und nun? Die Devisenkrise ist eine reale Möglichkeit und eine politische Notwendigkeit. Die Hyperinflation droht aber nur und ihre Realisierung ist zumindest fraglich. Dass mehr Geld zu einer Entwertung führt ergibt sich aus dem Bild des Geldes als Wertzeichen für den gesellschaftlichen Reichtum: wenn ich doppelt so viele Zeichen ausgebe, sind die natürlich nur noch die Hälfte wert. Bei der Inflation geht es aber um das Geld als Zirkulationsmittel. Selbst wenn das neue Geld in sofortige Konsumtion flösse, würde nicht das Geld entwertet, sondern die Preise aufgrund des Nachfragedrucks steigen. Es wäre nicht zu unterscheiden von Geld, das aus neu erschlossenen Märkten in die heimische Exportindustrie flösse. Tatsächlich fließt das Geld aber in den Finanzsektor und seine Wirkung auf die Inflation ist schwer hervorzusagen. Durchaus möglich, dass es gar nicht zirkuliert und damit auch keinerlei Einfluss hat – die Ökonomen nennen das Liquiditätsfalle. Das alles soll nicht heißen, dass eine Inflation unmöglich ist; wohl aber, dass es nicht reicht auf scheinbare Evidenz zu pochen.

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