Liberal – links – kommunistisch (Teil 2)
Wir müssen also davon ausgehen, dass die Linke nicht nur in einer Krise steckt, sondern dass selbst diejenigen, die dieser Linken angehören, von ihr nicht viel halten. Es ist ein Kinderspiel gute Ratschläge zu geben. Und davon gab es auf dem Münchener Kongress eine ganze Menge. Was soll getan werden?
Max Brym meinte, man solle es eben noch einmal versuchen, wie nach einer unglücklichen Liebe. Was so flapsig daherkommt, ist aber vielleicht gar nicht so falsch, wenn – wie Brym betont – sich nichts grundlegend geändert hat, wenn die Gründe die es einmal gab, nach wie vor Bestand haben. Brym nennt sie ›apokalyptische Reiter‹: die »fundamentale Umweltkrise«, die »chronische Unterernährung«, die »Zunahme von Massenarmut« und die »weltweite Zunahme der Kriege« (14f). Das Marxsche Diktum, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein unterdrücktes Wesen ist, wäre also nach wie vor zur Leitlinie zu machen. Nun sagt Brym aber nicht: ›Trotz allem, weiter so!‹. Um bei seiner Analogie zu bleiben: Wenn es mit der Liebe nicht geklappt hat, liegt das nicht selten daran, dass man sich als Ekel verhalten hat. Brym hat also recht, der Linken Vorwürfe zu machen und sie zu einer Art Rückbesinnung aufzurufen: sie müsse sich vom Prinzip verabschieden, der Feind meines Feindes sei mein Freund (was ihm während des Jugoslawienkrieges übel aufgestoßen ist; 22); sie müsse das Schwinden politischer Identifikation bekämpfen (23) und dürfe sich nicht nur partiell, z.B. in der Frauenbewegung (!) engagieren (21); sie müsse sich schließlich der »marxistischen Methodik« bedienen (23).
Auch für Frieder Otto Wolf hat die Linke nach wie vor eine Daseinsberechtigung und zwar als eine Politik der Befreiung von bestimmter Herrschaft in bestimmten Konstellationen (25). Für Wolf bedarf so eine Politik allerdings einer normativen Begründung und daher einer »radikalen Philosophie«. Diese Politik der Befreiung grenzt er vom klassischen Liberalismus ab, der nur einen allgemeinen Übergang von vormodernen Herrschaftsformen beabsichtigte (28), aber auch vom Anarchismus, wenn dieser Macht generell ablehne. Praktisch müsse die Linke vor allem der »irreduzible Pluralität« (26) der Krisen und der Komplexität des ökonomischen Systems gerecht werden und »die traditionelle Zentrierung auf die Arbeiterbewegung« (31) überwinden; die Linke solle sowohl lokal Menschen mit dem Ziel politischer Handlungsfähigkeit vernetzten, also auch als »strategisches Element« an der Regierungspolitik einzelner Staaten teilnehmen (32). Theoretisch solle sie sich daher die wissenschaftlichen Grundlagen breit aneignen (27), wobei Wolf neben der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie vor allem auf den »materialistischen Feminismus« (de Beauvoir, Irigaray, Ariel Salleh, Silvia Federici, Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen, Claudia von Werlhof), Theorien über Rassismus und Dependenz (Fanon, André Gunder Frank, Samir Amin, Giovanni Arrighi) und die »Kritik der Politik« bei Balibar und André Tosel drängt. Die radikale Philosophie könne dann solche wissenschaftlichen Befunde, wenn angebracht, in den »politischen Deliberationsprozess« einbringen, andrerseits »die Intuitionen und Erfahrungen der politisch Aktiven artikulationsfähig und diskutierbar« machen (36). Weder dürften wissenschaftliche Untersuchungen einfach ignoriert werden, noch als reine Wissenschaft dem Deliberationsprozess entzogen oder gar technokratisch einfach »umgesetzt« werden (35).
Norbert Trenkle geht nicht von einem Aufgabenkatalog für die Linke aus, sondern von einer Darstellung der aktuellen gesellschaftlichen Lage. Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus seien die politischen und wirtschaftlichen Hoffnungen enttäuscht worden, zeitweilige Booms seinen durch den Finanzmarkt getrieben und Vorgriffe »auf zukünftigen Wert« (39) gewesen. Diese Art der Kapitalakkumulation sei aber nicht »primär auf die Vernutzung von Arbeitskraft angewiesen« (42), weshalb die Lohnarbeiter als Verkäufer dieser Ware an »Verhandlungsmacht« eingebüßt hätten. Die Folge sei die »totale Ökonomisierung« (42), Verschärfung der Konkurrenz, schließlich »Revitalisierung des Nationalismus«, »Ausgrenzungsidologien« und »Separatismus« (43). Aussichtslos seien auch nostalgische Versuche, zu nationaler Souveränität und keynesianischen Sozialstaaten zurückzukehren (47); solche Versuche seien auf Grundlage der gegenwärtigen ökonomischen Bedingungen nicht umsetzbar. Recht unvermittelt kommt Trenkle dann aber auf »neue« Handlungsoptionen: »Sie [die Linke] sollte alles nur Mögliche dafür tun, um die materiellen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für neue Formen solidarischer und emanzipatorischer Selbstorganisation zu verbessern, um auf diese Weise die Grundlage für eine Alternative zur kapitalistischen Produktions- und Lebensweise und perspektivisch für deren Aufhebung zu legen« (50) und Ressourcen in einen selbstorganisierten Sektor umlenken.
Während bei Trenkle die praktischen Ratschläge zumindest noch behaupten, aus der Analyse des gegenwärtigen Standes der Kapitalverwertung zu folgen, bleibt bei Karl Reitter der Zusammenhang äußerlich-philosophisch. Wie schon erwähnt, begreift Reitter Linkssein als »Formkritik«, weil sich »gesellschaftliche Herrschaft […] mittels dieser Formen durchsetzt« (56). Praktisch bedeutet das, die Form der Arbeit als Lohnarbeit, die Form des Arbeitsprodukts als Ware, die Form des Arbeitsmittels als Kapital, etc. abzuschaffen, schließlich auch den Staat als Form der politischen Gewalt zu überwinden (59). Im Gegensatz zu Trenkle hält Reitter die Vernutzung von Arbeitskraft als weiterhin den Kapitalismus bestimmend, weil die Zunahme des fiktiven Kapitals von einer gleichzeitigen Zunahme des Realkapitals getragen sei (66). Gerade dieser Entwicklung des Realkapitals (und der damit einhergehenden Steigerung der Profitrate) und nicht dem fiktiven Kapital sei die Konsumbeschränkung und der »Angriff auf die Existenzsituation der Mehrzahl der Menschen« geschuldet (67). Die Antwort darauf müsse für die Linke sein, den »Zwang zur Lohn- und Erwerbsarbeit« anzugreifen und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu fordern (ebd.).
Bevor wir uns nun diese Ratschläge näher ansehen, sei zunächst auf einige blinde Flecken hingewiesen. Nicht die Rede ist von Antisemitismus; Max Brym erwähnt ihn bloß im Zusammenhang mit der Friedensbewegung, als ob der Antisemitismus in der Linken nicht ebenso zu Hause wäre, wie unter Rechtsradikalen und Islamisten. Ebenso wenig zu hören ist vom autoritären Charakter oder vom »Wutbürger« in den sich dieser mittlerweile transformiert hat, davon dass der Linken als Gegner nicht (nur) Kapital und Staat gegenüber stehen, sondern ein gesundes Volksempfinden, das von Emanzipation, Kunst, Wissenschaft, Liebe, Intelligenz, Denken lieber nicht behelligt werden will. (Schon Joseph Roth (Flucht ohne Ende) wusste, »daß man Revolutionen nicht gegen eine ›Bourgeoisie‹ macht, sondern gegen Bäcker, gegen Kellner, gegen kleine Gemüsehändler, winzige Fleischhauer und machtlose Hoteldiener.«) Vier Vorträge über das Linkssein ohne Ideologiekritik, da braucht man sich auch nicht wundern, dass von Psychoanalyse ebenso wenig die Rede war und der Antisemitismus nicht verstanden werden konnte. Keiner der Redner konnte begründen, warum ihre Theorien doch so marginal sind. Trenkle hat mit seinen Genossen eine eigene, umstrittene Theorie entwickelt, aber zumindest die drei andren haben nichts verraten, worüber man sich nicht seit 70 Jahren in jeder Stadtbibliothek informieren kann. Den Mechanismus zu ignorieren, durch den sich die Menschen ohne zu müssen gegen jeden Gedanken an eine bessere Welt immunisieren, ist so unverzeihlich wie charakteristisch. In diesen Zusammenhang gehört auch die Frankfurter Kritik der Kulturindustrie und die Kritik der Situationisten am Spektakel: Fehlanzeige; genau das scheint mir aber unverzichtbar, weil selbst die (ohne Zweifel notwendige) »Formkritik« Reitters nicht begründen kann, warum die solchen Formen Unterworfenen sie nicht nur für natürlich halten, sondern sie kreativ und selbständig reproduzieren – das kann man vom Standpunkt der Formkritik zwar plausibel finden, diese vielleicht entscheidende Blockade jeder Emanzipation kann man aber ohne Psychoanalyse und ›Kulturindustrie‹ nicht verstehen.
Der Widerspruch wollte wissen, was »links« ist (positiv und negativ), welches Prinzip der Linken zugrunde liegt, wie dieses Prinzip gerechtfertigt, wie es angewendet werden kann und auf welche Rechtsformen es abzielt. Aber schon die Begriffsbestimmungen in den vier Vorträgen ließen eine Abgrenzung vom Liberalismus (im amerikanischen Sinn) oder vom Kommunismus kaum zu. Die Analysen von Trenkle und Reitter bewegten sich in einer kommunistischen Tradition, ohne aber zu begründen ob und inwiefern die »Linke« damit identisch zu sein hätte. Der »komplexen Vielfalt« (11) linker Ansätze wurde keiner der Beiträge gerecht. Das mag legitim gewesen sein, hätte dann aber einer Kritik jener vielfältigen Linken bedurft. Umgekehrt sparte der Fragenkatalog des »Widerspruchs« eine Frage aus: die einzig materialistische, die nach dem gegenwärtigen Stand der kapitalistischen Produktionsweise. Dass zumindest zwei Vorträge sich überwiegend dieser Frage gewidmet haben, lässt vermuten dass die allgemeine Frage nach Definitionen und Prinzipien sich – allenfalls! – dann beantworten lässt, wenn Klarheit besteht über die Bedingungen unter denen gegenwärtig sozialliberale, linke, kommunistisches Handeln überhaupt möglich ist.
Weil davon auszugehen ist, dass diese Analyse noch nicht geleistet ist (oder, was praktisch dasselbe: nicht angeeignet), stellen sich die Fragen in veränderter Form: 1. Welche Orientierung innerhalb der Linken (Liberalismus, Kommunismus, Antifaschismus, Antirassismus, gewerkschaftliche Organisation usw. oder etwaige Kombinationen) sich als Ausgangshypothese anbietet. 2. Wie sich auf dieser Basis eine Kritik formulieren lässt: entweder immanent oder auf äußeren Prinzipien beruhend, was vermutlich einen kohärenten Fortschrittsbegriff voraussetzt. 3. Wie eine solche Kritik gelingen kann, solange sie noch nicht vollendet ist, d.h. man vermeidet, die (noch) nicht begriffenen Voraussetzungen des eigenen Tuns zu reproduzieren (z.B. durch allerlei Ideen für eine zukünftige Gesellschaft, die doch nichts andres sind als romantische Vorstellungen von der bestehenden). 4. Wie dieses Programm zu organisieren ist, so dass es in der Lebenszeit der Teilnehmer abgeschlossen werden kann und diese nicht, z.B. durch die Guerillakämpfern abverlangte Disziplin und Askese, für eine befreite Gesellschaft disqualifiziert.
(Alle Seitenangaben beziehen sich auf Ausgabe 61 der Zeitschrift »Widerspruch«.)