Türkei: Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen und die priviligierte Partnerschaft?

Türkei: Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen und die priviligierte Partnerschaft?

Österreichs Kanzler Kern hat nun avantgardistisch den Abbruch der EU-Beitrittsverhadlungen mit der Türkei gefordert, wie nun auch sein Außenminister Kurz die Kündigung des Flüchtlingsdeals und den eigenständigen Schutz der Außengrenzen durch die EU und nicht mehr durch die Türkei..Andere EU-Regierungen , vor allem die deutsche Regierung sind da auch mit Hinblick auf den Flüchtlingsdeal zurückhaltender.Als andere Kompromisslinie innerhalb der EU wäre es nach Ansicht einiger Experten an der Zeit, die EU-Beitrittsverhandlungen zumindestens auszusetzen, wenn man sie nicht ganz abbrechen will und der Türkei eine priviligierte Partnerschaft anzubieten. Gemeinsame Interessen ja, gemeinsame Werte nein.Vielleicht hofft man auch, dass Erdogan per Volksentscheid oder Parlamentsentschluss die Todesstrafe einführt, denn dann würden laut EU-Kommissionspräsident Juncker die EU-Beitrittsverhandlungen umgehend abgebrochen. Ob dies auch geschehen würde, wenn Erdogan die Todesstrafe nicht einführt, aber trotzdem seine Präsidialdikatur mittels Referendum, Parlamentsbeschluss, Notstandsgesetz oder Neuwahlen durchsetzt, bleibt noch unklar. Jedenfalls würde ein Referendum oder ein Parlamentsbeschluss für die Todesstrafe gleichzeitig zu einem Referendum oder Entscheid für einen Türkxit werden- ohne überhaupt jemals Mitglied gewesen zu sein.Bezeichnend, dass sich Erdogan als unumschränkter Herrscher da noch auf Volk und Parlament beruft und ihnen letztendlich die Entscheidung einer EU-Perspektivbe anheim stellt.

Während vor allem die rot-grüne Regierung immer ein Anhänger einer EU-Mitgliedschaft der Türkei war, Erdogans AKP als Modell einer muslimischen Demokratie mit Strahlkraft weit in die muslimische Welt sah, während die Union da skeptisch und mehr ablehnend war, gab es auch Kritiker, die schon vor Erdogan immer Gegner einer EU-Mtgliedschaft der Türkei waren, auch wenn sie demokratisch verfasst sein sollte. Zum einen würde ein EU-Mitglied Türkei die ohnehin schon durch die rasche Erweiterung auf 28 Länder schwierigere Machtbalance  destabilisieren. Ein großes Land, bevölkerungsreicher als Frankreich, Polen und GB würde hinzukommen, sich das geopolitische Zentrum weiter Richtung Süd- und Mittelmeerländer verschieben–erst recht nach dem Brexit. Hinzu käme, dass auch die säkularen Kemalisten in der Türkei sehr nationalistisch sind, man also neue nationalistische Kräfte in der EU hätte, die einem Kawcinski oder Orban da Konkurrenz gemacht hätten können. Desweiteren hätte die EU dann gemeinsame Grenzen zum Nahen Osten (Syrien, Irak, Iran )gehabt. Hinzu hielten einige Kulturalisten Islam und Christentum, bzw. Säkularismus für nicht kompatibel,Schon diese Konstellation begründete nach deren Ansicht eine Ablehnung. Nun kommt hinzu, dass mit Erdogan eine islamofaschistische Präsidialdikatur herrscht.Wobei Erdogan recht hat, wenn er auf Orban-Ungarn und PiS-Polen als EU-Mitglieder verweist, wo ja auch keine EU-Standards mehr eingehalten werden und beide Länder auf dem Weg zu autoritären Diktaturen sind.

Man gewinnt  den Eindruck, dass weder die EU noch die Türkei, seien es die meisten Regierungen noch die Bevölkerungen ernsthaft noch an eine EU-Mitgliedschaft glauben. Es hat eher den Anschein, dass keine der beiden Seiten verantwortlich sein will, wenn die Gespräche platzen und beendet werden.Österreichs Bundeskanzler Kern spricht dies nur offen aus, aber er könnte auch eher eine priviligierte Partnerschaft als Angebot herausstellen, als einseitig den Abbruch der Gespräche als Forderung zu erheben.Den Türken  könnte signalisiert werden: Zusammenarbeit ja, aber eben als priviligierte Partnerschaft und nicht innerhalb der EU.Damit könnten beide Seiten mittelfristig besser leben.

Ein Hauptargument zur Beibehaltung der EU-Mitgliedschaftsperspektive ist, dass man dadurch auf eine demokratische Entwicklung der Türkei Einfluß nehmen könnte. Das ist meiner Ansicht nach eine Illusion. Erdogan ist ein Islamist nach dem Modell der Muslimbruderschaft. Machtergreifung mittels der Parlamente und mittels einer Massenpartei (das unterscheidet ihn vom Islamisten Gülen, der zwar dasselbe Ziel hat, aber dessen Methode der Marsch durch ide Institutionen und Infiltrierung der Gesellschaft und des Staates mittels ausgebildeten Eliten und Multiplikatoren ist).Für ihn ist Demokratie instrumental. Man bedient sich der Demokratie, um diese abzuschaffen. Seine Äußerung, dass die Demokratie wie ein Auto sein, das man verlässt, wenn das Ziel erreicht ist wurde nie ernstgenommen. Sein Ziel war vom ersten Tage demokratisch soviel Macht anzuhäufen, dass er dann in die Lage kommt, seine islamofaschistische Präsidialdiktatur zu errichten.

Viele Türkeiversteher behaupten nun, es läge an dem mangelnden Willen der EU, die Türkei aufzunehmen–das ist meiner Ansicht nach eine Illsuion und Falschdarstellung und verkennt den Charakter und das Wesen der AKP und Erdogans.Die Reformen und die EU-Beitrittsgespräche dienten vor allem dazu das Militär soweit zu schwächen, dass es keine Rolle mehr spielen konnte und die Wirtschaft so weit zu entwickeln, dass er Beliebtheit erzielte. Aber sein Ziel einer Präsidialdiktatur stand schon vor dem ersten Tag an fest, auch dass er gar keine EU-Mitgliedschaft wollte.Von daher ist es falsch Erdogans Politik in zwei Phasen zu unterteilen: Die reformfreudige erste Phase und nun die autoritäre zweite Phase mit der illusorischen Annahme, er könne zur ersten Phase zurückkehren.Eine demokratische Entwicklung der Türkei kann es erst nach einem Ende der Erdogandiktatur und der Herrschaft der AKP geben, wobei auch die faschistische MHP keine Alternative wäre und sich die CHP erst einmal vom autoritären Geist des Kemalismus lösen müsste. Die HDP ist zu kurdisch orientiert, um als Alternative von den meisten Türken wahrgenommen zu werden. Es bräuchte eine völlig neue säkular-demokratische Partei, die mit Kemalismus und Islamismus und der autoritären Vergangenheit bricht. Davon ist aber mittelfristig nichts in Sicht.

Doch es gibt auch mahnende Stimmen, die an der Beibehaltung der EU-Beitrittsverhandlungen und am Flüchtlingsabkommen festhalten wollten im Sinne von Schadensbegrenzung und Schutz der Oppositionellen in der Türkei–so schreibt die FAZ:

„Wer einseitig handelt, könnte sich ein paar Tage lang groß und stark fühlen. Und dann? Erdogan könnte alle Hemmungen fallenlassen bei der Verfolgung seiner Gegner. Den menschenverachtenden Sprüchen würde eine entsprechende Politik folgen. Solange die Türkei im Europarat ist und der EU beitreten will, gibt es dafür Grenzen: vom Zugang zu Inhaftierten über die Prozessbeobachtung bis zum Verbot der Todesstrafe.

Das sind immerhin Hebel, um das Verhalten der Regierung zu beeinflussen – und sie wirken momentan auch. Ankara gestand erstmals ein, dass vermeintliche Putschisten unfair behandelt wurden. Die Regierung gab dem Generalsekretär des Europarats Zusagen, das Thema Todesstrafe wurde auf die lange Bank geschoben.

In EU-Beitrittsverhandlungen stecken Tausende weitere Hebelchen, denn in Wahrheit wird da wenig verhandelt: Ein Beitrittskandidat muss sich dem Rechtsrahmen der Europäischen Union anpassen. Das Verfahren steckt voller Zumutungen für ein stolzes, souveränes Land. Wenn das der Türkei zu viel wird, soll sie es sagen. Europa hat jedoch keinen Grund, es Erdogan von sich aus leichter zu machen, seine Gegner zu verfolgen. (…)

Offenbar gibt es ein eigenes türkisches Interesse daran, den Zustrom weiterer Flüchtlinge zu drosseln, die Syrer im Land mit europäischer Finanzhilfe zu integrieren (sogar die Einbürgerung soll möglich sein) und die eigene Küste selbst zu kontrollieren. Dann stimmt aber auch nicht, was der österreichische Außenminister Kurz und seine Anhänger behaupten: dass Europa sich erpressbar mache.

Denn Erpressung setzt einseitige Abhängigkeit voraus; hier ist sie wechselseitig. Das gilt erst recht, wenn man einrechnet, wie sehr die Türkei wirtschaftlich auf gute Beziehungen zur EU angewiesen ist. (…)

Falls Ankara gegen seine Interessen verstößt – es wäre nicht das erste Mal –, müsste Europa damit umgehen. Aber warum in aller Welt sollte es von sich aus eine Situation heraufbeschwören, in der wieder jeden Tag Tausende Flüchtlinge auf griechischen Inseln ankommen? Wien würde sie wohl kaum aufnehmen wollen. Die Fähigkeiten der österreichischen Kriegsmarine sind, soweit bekannt, eng begrenzt. Und die Griechen haben nicht vor, das Internierungslager für den Rest der EU zu werden.

Was folgt daraus? Europa ist gut beraten, wenn es sich nicht von Erdogans Wüterei anstecken lässt. Nur Großmäuler halten es für eine Schwäche, Augenmaß zu wahren.“

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/tuerkei/eu-aussenpolitik-mit-augenmass-gegen-erdogans-wueterei-14375133.html

Ein Kommentator sieht darin „Appeasement-Politik“und hält folgende Argumente entgegen:

„Sicher ist es sinnlos, auf aggressive Reden und diktatorische Maßnahmen Erdogans und seiner Minister mit verbalen Angriffen zu reagieren, wenn keine Taten folgen. Aber, die aktuelle Entwicklung in der Türkei nur „mit Sorge beobachten“, wie Merkel und Juncker es für richtig halten, ist m. E. nicht zielführend: 1) So wird der Eindruck erweckt, dass Erdogans Vorgehen noch im Rahmen der EU-Werte läge, was die demokratische Opposition in der Türkei schwächt und Erdogan nicht von weiteren Schritten „auf seinem Weg“ abhält. 2) D/EU macht unsere Werte unglaubwürdig, was zur Verschärfung der EU-Krise führen dürfte. 3) Der Verzicht der EU auf effektive Gegenmaßnahmen (z. B. Abbruch der Beitrittsverhandlungen, wirtschaftliche Sanktionen) offenbart Schwächen der EU und Stärken Erdogans – zwei sich selbst verstärkende Phänomene. 4) Der Flüchtlingsdeal beeinträchtigt die Anstrengungen der EU zur Eigensicherung der Grenzen. 5) Die Geschichte lehrt, dass Appeasement-Politik einen Diktator unterstützt.“

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