Interview mit Heribert Prantl:“Es gibt kein Supergrundrecht auf Sicherheit“

Interview mit Heribert Prantl:“Es gibt kein Supergrundrecht auf Sicherheit“

Global Review hatte die Ehre den SZ-Chefredakteur Heribert Prantl zu interviewen über den Komplex Grundrecht auf Sicherheit und bürgerliche Grundrechte.

Heribert Prantl, geboren 1953 in Nittenau/Oberpfalz, studierte Jura, Philosophie und Geschichte. Nach seiner journalistischen Ausbildung war er als Richter und Staatsanwalt an verschiedenen bayerischen Amts- und Landgerichten tätig. Seit 1988 arbeitet er als politischer Redakteur der Süddeutschen Zeitung, seit 1995 leitete er dort das Ressort Innenpolitik und ist seit Januar 2011 Mitglied der Chefredaktion . Für seine Veröffentlichungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Geschwister-Scholl-Preis, dem Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik und mit dem Erich-Fromm-Preis.

Gelegentlich als linksliberal eingestuft, gilt Prantl als engagierter Verteidiger eines liberalen und weltoffenen Rechtsstaats. Sein besonderes Augenmerk richtet sich auf die Schnittlinien von Recht, Moral und Politik. „Entschieden fordert er die Beachtung der Grundrechte“, heißt es in der Verleihungsurkunde des Geschwister-Scholl-Preises1994 an Prantl.In seiner Laudatio zur Verleihung des Arnold-Freymuth-Preises 2006 an Prantl nannte ihn Altbundeskanzler Gerhard Schröder den „dritten Senat“ des Bundesverfassungsgerichts.

In seiner Streitschrift Wir sind viele (2011) klagt Prantl den Finanzkapitalismus an und weist darauf hin, dass das Eigentum im Sinne des Grundgesetzes auch die Banken verpflichtet und dass die Märkte sich nicht von der Moral lösen dürfen. Es ist ein Appell an die Verantwortung des Finanzmarkts sowie der Politik: Europa basiere nicht auf dem Euro, sondern auf seinen Bürgern, die die Grundlage der Demokratie bildeten.

Prantl wird auch als „der Prätorianer des Grundgesetzes“bezeichnet und selbst trotzkistische Kommunisten der 4. Internationale, die sonst jeden Vertreter des Liberalismus als „kleinbürgerlich-liberales Feigenblatt des Imperialismus“ sonst in Bausch und Bogen verdammen, haben eingeschränktes Lob für ihn übrig, wenngleich sie ihn als typisch deutschen Demokraten portraitieren– hier mal der O-Ton:

„Heribert Prantl-ein deutscher Demokrat

Von Peter Schwarz
21. August 2015

Heribert Prantl, der seit zwanzig Jahren das Ressort Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung leitet, zählt zu den wenigen deutschen Journalisten, die sich einen Sinn für demokratische Rechte bewahrt haben. Er hat für seine Leitartikel, Kommentare und Bücher zu diesem Thema über zwanzig Preise und Auszeichnungen erhalten.

Aber Prantl ist ein typisch deutscher Demokrat. Sein Einsatz für die Demokratie endet meist dort, wo er eigentlich beginnen müsste: vor der Autorität des Staates.

Das deutsche Bürgertum, das in seiner Geschichte nie eine siegreiche demokratische Revolution vollbrachte, hat eine höchst merkwürdige Auffassung von Demokratie entwickelt. Demokratie bedeutet hier nicht Schutz des Bürgers vor den Übergriffen des Staates, vielmehr verkörpert der Staat selbst die Demokratie. In kaum einem anderen Land käme man auf die Idee, den Staat als „Vater“ zu personifizieren und den Inlandsgeheimdienst, der die eigenen Bürger bespitzelt und dabei ständig von der Verfassung garantierte Grundrechte bricht, „Verfassungsschutz“ zu nennen.

In Deutschland bedeutet Demokratie bestenfalls, dass bestimmten formalen Kriterien Genüge getan wird, nicht aber, dass sie mit Inhalt gefüllt werden und die Macht tatsächlich vom Volk ausgeht. Das ist auch Prantls Haltung.“

https://www.wsws.org/de/articles/2015/08/21/pran-a21.html

Unabhängig, ob man diese Sichtweise teilt oder nicht: Heribert Prantl gehört zu den wenigen Vertretern in den Medien, die selbst in Krisenzeiten eisern auf der Bewahrung des Rechtsstaats und seiner Verteidigung bestehen, was ihm seitens konservativer Kreise und von Law and Order-Politikern viel Kritik einbringt.Heribert Prantl lebt in München. Seine langjährige Lebensgefährtin ist die Journalistin Franziska Augstein, die Tochter des Spiegel-Gründers Rudolf Augstein und wie er auch eine entschiedene Verteidigerin des liberalen Rechtsstaates.

 

Heribert Prantl

Global Review: Herr Prantl, Sie gelten in einer Linie mit Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Christian Ströbele als die Prätorianer des Grundgesetzes und des Linksliberalismus.Sie wurden alle in einer Zeit sozialisiert, als die 68er Studentenbewegung wegen der Notstandsgesetze der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD auf die Strasse gingen und ein neues 1933 vermuteten.Waren die Befürchtungen berechtigt und was geschah mit den Notstandsgesetzen? Wurden sie zurückgenommen oder sind sie heute noch Rechtsgrundlage?

HP: Es gibt glücklicherweise noch ein paar Leute mehr, die das Grundgesetz und die Grundrechte verteidigen. Und zu diesem Zweck muss man auch nicht in der 68er  Studentenbewegung sozialisiert worden sein; ich bin es nicht. 1968 – da war ich gerade Gymnasiast in der Mittelstufe. Christian Ströbele war da schon dreißig und Rechtsreferendar in Berlin.

Ob einer heute zwanzig, vierzig, sechzig oder achtzig Jahre alt ist: die Grundrechte des  Grundgesetzes begleiten ihn, stärken ihn, und zeigen ihm, was  dieses Gemeinwesen will. Diese Grundrechte gehören zu den Errungenschaften unseres Staates; sie gestärkt zu haben ist eine Leistung des Bundesverfassungsgerichts. Das Wort „Verfassungspatriotismus“ bezieht sich auf diese Grundrechte – Patrioten können, sollen, dürfen wir sein, weil es  diese Grundrechte gibt. Ich bin ein Verfassungspatriot, ich bin einer, der den freiheitlichen Rechtsstaat liebt und der die soziale Demokratie als das Fundament unseres Staates achtet. Ich glaube, dass es Sabine Leutheusser und Christian Ströbele (und viele, viele andere) auch so sehen; da muss man nicht Prätorianer, da reicht es, Bürger zu sein. Aber ich schätze die beiden Genannten sehr:  Sabine Leutheusser-Schnarrenberger war eine mutige Justizminísterin; sie ist aus Protest zurückgetreten, weil ihre Partei, die FDP, für den großen Lauschangriff votiert hat. Eine solche Überzeugungsstärke findet man in der Politik nicht so oft. Über ihre politische Sozialisation kann ich nichts sagen, über ihre Zeit als Ministerin schon: ich kann mich gut daran erinnern, als sie 1992  – sehr überraschend, kaum jemand kannte sie – Nachfolgerin von Klaus Kinkel wurde; sie hat sich bald Respekt verschafft. Und Christian Ströbele? Er  ist ein bewundenswert klarer und konsequenter Rechts- und Innenpolitiker.

Die Notstandsgesetze waren so umstritten seinerzeit, weil viele befürchteten, dass damit schon wieder an den eben erst eingeschlagenen Pfeilern der deutschen Demokratie gerüttelt wird. Die Befürchtung hat sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Die Notstandsgesetze wurden nicht praktisch genutzt; aber sie gelten bis zum heutigen Tag. Um die Gegner zu beruhigen, wurde übrigens damals der Widerstandsartikel 20 Absatz 4 ins Grundgesetz geschrieben. Auch  er gilt nach wie vor. Das Wichtigste an den Notstandsgesetzen war vielleicht die Diskussion darüber. Sie diente der demokratischen und rechtsstaatlichen Selbstvergewisserung.

Global Review: Diskutiert man an Stammtischen oder auch mit Politikern, so gewinnt man den Eindruck, dass sie elementare Begriffe des Rechtsstaats nie begriffen haben. Viele populistische Vorschläge erscheinen angesichts der rechtlichen Eingrenzungen als völlig unrealistisch, werden aber trotzdem gefordert.Vor allem das Diktum der CDU/CSU, wonach es ein „Grundrecht auf Sicherheit“gebe, das alle anderen Grundrechte trumpfe scheint da die leitende Denkfigur, die an Hobbes und an seinen Leviathan erinnert. Laufen solche Forderungen nicht darauf hinaus, das Grundgesetz, wie wir es kennen infrage zu stellen und zugunsten einer autoritären Verfassung ändern zu wollen?

HP: Ich hoffe ja auch nach 28 Jahren Journalismus noch darauf, dass es Unterschiede gibt zwischen dem Stammtisch und der Politik. Das „Grundrecht auf Sicherheit“ ist eine Figur, die dazu dient, die Grundrechte klein zu machen. Man macht das „Grundrecht auf Sicherheit“ zum ungeschriebenen Supergrundrecht, das angeblich stärker und wichtiger ist als jedes einzelne geschriebene Grundrecht. Auch der SPD-Innenminister Otto Schily hat zu Zeiten der rot-grünen Koalition von Gerhard Schröder so argumentiert.  Es  gibt  aber kein Supergrundrecht auf Sicherheit. Es gibt vielmehr einen innersten, abwägungsfesten, unantastbaren Kern des freiheitlichen Rechtsstaats, ohne den er seine Substanz, seine „ratio essendi“ verliert. Es geht nicht, nur eine heroische Gelassenheit für die Zeiten größer Not, für die Zeiten terroristischer Anschläge, zu beschwören; solche Gelassenheit braucht einen Anker, den Anker der absoluten Gewissheit: Die Würde des Menschen ist nicht antastbar, nie und unter gar keinen Umständen. Zu dieser Würde gehört  auch die Achtung des Kerns der privaten Lebensgestaltung, der jeder Abwägung mit staatlichen Sicherheitsinteressen entzogen bleiben muss. . Der Staat, der nur wegen und aus der Freiheit seiner Menschen besteht, darf sich nicht gegen seine Schöpfer wenden.

Global Review: Die Diskussionen um die Einschränkung der Bürger- und Grundrechte kommt immer wieder zu Krisen- oder Ausnahmesituationen und als solche dürften sie in dieser Diskussion ja schon sehr routiniert sein. Während des RAF- und PLO-Terrorimsus gab es ja auch sehr einschränkende Maßnahmen und Forderungen wie man sie auch heute bezüglich islamistischer Attentäter hört: Folter, Verhungernlasen bei Hungerstreik, Gefährder- und Sympathisantenverhaftung und – internierung, Aberkennung der Bürgerrechte, Todesstrafe, Strauß forderte gar für jeden RAF-Entführten eine Geißelerschiessung anzudrohen,etc. Wenn sie die damalige Zeit und heute vergleichen, sind sie sich ähnlich oder inwieweit unterscheiden sie sich?

 

HP:Der Terrorimus von heute ist angeblich so gefährlich, wie noch nie ein Terrorismus war. Die besessener  Attentäter und ihr brutaler Fanatismus verstört die westlichen Gesellschaften zutiefst, für die ihr eigener Terror schon alte Geschichte geworden ist. Der religiöse Fanatismus, der Europa jahrhundertelang beherrschte, ist vergessen; der Fanatismus, mit dem Ketzer verfolgt und Hexen verbrannt worden sind, ist Stoff  für historische Romane; der Holocaust ist Thema für Gedenktage:; und die Hetzjagden gegen Ausländer und Flüchtlinge sind lange in den Kriminalstatistiken vertuscht worden. Es wird so getan, als sei die Existenz von fanatischen Attentätern, die sich auf den Islam berufen und ihn damit pervertieren, ein Fall für den Wegfall der bisherigen Grundlagen des Rechts. Wir neigen dazu Gegenwärtiges als völlig neu und in seinen Auswirkungen einmalig zu beschreiben.

Zum RAF-Terrorismus gestern und zum IS-Terrorismus von heute: 34 Menschen wurden von der RAF ermordet, 3500 kamen allein bei den Attentaten in New York und Washington im Jahr 2001 ums Leben. Es  gibt neben den Mordziffern andere wichtige Unterschiede zwischen den Terroristen von damals, die in Deutschland gemordet, und denen von heute, die zum Teil in Deutschland gelebt und dann in den USA oder anderswo gemordet haben: Die RAF-Terroristen waren nicht fremd, sie waren nicht aus Ägypten oder Saudi-Arabien, sondern entstammten deutschen Pfarrhäusern oder Professorenhaushalten. Verfolger und Verfolgte zu RAF-Zeiten kamen mehr oder minder aus der gleichen Welt; man wußte, mit wem man es zu tun hatte. Bei den islamistsichen Terroristen ist das anders. Man weiß weniger über sie. Und  weil man so wenig weiß, ist zwar einerseits das Raster der Rasterfahnudng viel gröber, dafür aber das Netz der neuen Gesetze, das übers Land geworfen wird, engmaschiger.

Die RAF-Jahre haben aber in der Tat das rechtspolitische und innenpolitische Klima nachhaltig verändert. In diesen Jahren hat sich das Land daran gewöhnt, dass nicht die Strafe, sondern die Gesetzesänderung der Tat auf dem Fuße folgt. In diesen Jahren begann die Materialermüdung des Rechtsstaats.

Global Review: Die Terrorakte haben in Frankreich zur Verhängung des Ausnahmezustands geführt. Es gab sogar Bestrebungen diesen in der Verfassung zu verewigen. Nun wurde er nach dem letzten Anschlag wiederum verlängert, bleibt zwar temporär, doch Sarkozy möchte die Bedingungen verschärfen. Gefährder konnten unter dem Ausnahmezustand Hausarrest und eine Fußfessel bekommen. Nachdem noch ein solch arrestieter Fußfesselgefährder in Rouen einen katholischen Pfarrer ermordete, kommt nun die Forderung auf, alle Gefährder zu inhaftieren. In Deutschland haben wir etwa 1000 Gefährder. Wie stehen sie zu der Forderung diese ala Sarkozy zu inhaftieren?Sarkozy wiederum beruft sich darauf, dass die USA mit Guantanamo wesentlich weitergingen und auch bei einem demokratischen US-Präsidenten wie Roosevelt die US-Japaner kollektiv interniert wurden.Kritiker meinen, dass dies eine Gesinnungshaft wäre, die insofern Gesetz auch als Blankoscheck dienen könnte andere politisch unliebsame Menschen zu verhaften und zu internieren, wie etwa Leute, die gegen die Arbeitsgesetze demonstrieren. Ist diese Befürchtung real oder nur weit hergeholt?

HP: Die Sicherheitsapparate eines Polizeistaats dürfen alles, was sie können., Die Sicherheitsapparate eines Rechtsstaats können alles, was  sie dürfen. Sie dürfen und können ziemlich viel, aber das hat eine Grenze. Das galt vor dem islamistischen Terrorismus und das muß auch nachher so sein. Diese Grenze zu befestigen – auch das ist Prävention. Die Sarkozy-Vorschläge überschreiten diese Grenze. Mutmassungen sind keine rechtsstaatliche Grundlage für andauernde Haft. Man kann Menschen nicht auf  Verdacht hin wegsperren. Man kann nicht bloße Befürchtungen zur Grundlage von Sanktionen machen.  Man  kann doch nicht, angeblich oder vermeintlich zur Verteidigung des  Rechtsstaats, genau das wegwerfen, weswegen dieses Rechtsstaats verteidigt werden muss. Wenn man das macht, stirbt der Rechtsstaat an seiner Verteidigung.

Global Review: Gibt es in Deutschland auch eine rechtliche Basis für die Verhängung eines Ausnahmezustands? Wer würde den erlassen oder handelt es sich da um die Notstandsgesetze? Wie sieht dies rechtlich aus?

 

HP: Die deutschen Ausnahmegesetze sind de jure die Notstandsgesetze. De facto reichen viele Sicherheitsgesetze, die in den vergangenen 15Jahren gemacht wurden, an Ausnahmegesetze heran. Sie greifen zu tief und zu weit in den rechtsstaatliche Verbürgungen ein..

Global Review: Wie stehen Sie zum neuen CSU-Zuwanderungspapier: Burkaverbot, Obergrenze, Einwanderung vor allem nur noch aus christlich-abendländischen Kulturkreisen? Inwieweit ist dies mit der Verfassung und dem EU-Recht vereinbar, insofern Österreich ja schon Obergrenzen eingeführt hat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Burka- und Burkiniverbot für rechtmässig hält.

 

HP: Ich bin kein Freund der Burka. Ich mag sie nicht. Aber ich glaube nicht, dass man mit Verboten was erreicht. Aber gegen ein Kleiderkodex in Gerichte, in Behörden etc habe ich nichts. Eine Obergrenze für Flüchtlinge – ist Augenwischerei. Not kann man nicht mit Obergrenzen bekämpfen. Ich  habe den Eindruck, dass die Befürworter der Obergrenze den Problemen der Globalisierung eine Obergrenze ziehen möchten – es ist ein naiver Versuch der Komplexitätsreduktion.  Und wer keine  Menschen aus anderen Kulturkreisen mehr aufnehmen will, wer die Aufnahme von Muslimen verweigert, der verstösst gegen sämtlich Menschenrechtskonventionen die es  gibt; der fällt zurück hinter die Zeiten des Westfälischen Friedens.

Global Review:Wie stehen Sie zu dem neuen Verfassungsschutzgesetz, dass nun auch V-Leute Straftaten,-insofern keine Kapitalverbrechen- begehen können?Und wie sehen Sie die Frage der Geheimdienstkontrolle, deren Abgründe sich ja in der NSU- Affäre offenbarten? Soll man den Verfassungsschutz abschaffen oder nur besser kontroliieren?

HP: Von der Abschaffung des Verfassungsschutzes kann man träumen; der beste Verfassungsschutz sind eh wache Bürgerinnen und Bürger. Besser als zu träumen ist es, eine effektive demokratische Kontrolle des Geheimdienstes durchzusetzen. Gute Vorschläge dafür gibt es zu hauf. Dürfen V-Leute und verdeckte Ermittler Straftaten begehen?  Es gibt im Rechtsstaat keine Lizenz für Straftaten. Der Verfassungsschutz ist Teil des Rechtsstaates, er steht nicht außerhalb davon.

Global Review: „Nicht jeder Muslim ist ein Terrorist, aber fast jeder Terrorist ist ein Muslim“lautet ein beliebter Spruch, der das racial profiling legitimieren soll. Ist racial profiling grundgesetzkonform oder institutioneller Rassismus?

HP: Es ist hanebüchener Unsinn.

Global Review: Nach den Kölner Übergriffen wurde Gruppenzugehörigkeit bei einer Straftat zum justiziablen Tatbestand. Desweiteren wurde das Sexualstrafrecht verschärft („Nein heißt Nein!“). Was ist von diesen Maßnahmen zu halten?

HP: Wenig. Von Strafgesetzen, die vor allem symbollischen Charakter haben, aber in der Praxis kaum durchsetzbar sind, halte ich nichts.

Global Review: Merkel erklärte, dass das Asylrecht keine Obergrenze vorsieht, Die deutsche Bevölkerung befürchtet, dass dadurch unbegrenzte Flüchtlingsströme das Land fluten.Die CSU, Wagenknecht, Lafontaine und Rupert Neudeck forderten solch eine Obergrenze. Ist eine Obergrenze verfassungskonform oder müsste das Asylrecht geändert werden, bzw. Deutschland aus der Genfer Flüchtlingskonvention aussteigen, um solch eine Obergrenze zu realisieren?

HP: Auch das  geänderte Asylgrundrecht kennt keine Obergrenze. Die Genfer Flüchtlingskonvention kennt keine Obergrenze. Man kann Kontingente einführen – aber das Asylgrundrecht muß daneben Bestand haben. Obergrenzen zerschneiden das geltende Verfassungsrecht. Es gibt allenfalls den alten Rechtsgrundsatz: Ultra posse nemo obligatur / Niemand kann verpflichtet werden, mehr zu tun als er kann. Aber ein wohlhabendes Land kann sehr viel …

Global Review Desweiteren wird Merkel der Vorwurf gemacht, dem grundgesetzlich vorgesehenen Schutz der deutschen Grenze nicht nachzukommen, was Seehofer sogar zu einer Verfassungsklage animierte, zumal er Merkel Verfassungsbruch und eine Herrschaft des Unrechts unterstellte..Die AfD wollte sogar den Schußwaffengebrauch zur Durchsetzung des Schutzes der Grenzen.Können die deutschen Grenzen im Rahmen der Verfassung geschützt werden?

HP: Man muss den populistischen Unsinn nicht nachbeten. Merkel hat nicht die Grenzen geöffnet. Die Grenzen in Kerneuropa sind offen. Das war/ist geltende Rechtslage. Merkel hat Flüchtlinge aufgenommen, die eigentlich Ungarn hätte nehmen müssen, aber nicht genommen hat. Es handelte sich um stellvertretende Rechtsausübung; die ist allerdings aus den Fugen geraten. Über Unsäglichkeiten wie den Schwußwaffengebrauch gegen Flüchtlinge will ich nicht reden. Man darf solche Unverschämtheiten nicht dadurch nobilitieren, dass man sich seriös damit befaßt.

Global Review: Betrachtet man sich die Lage weltweit, so ist der Rechtsstaat demokratischer Prägung überall auf dem Rückzug, Rechtsradikale oder euphemistisch genannt rechtspopulistische Bewegungen sind allerortens auf dem Vormarsch. Haben die sich bisher demokratisch nennenden Bevölkerungen denn überhaupt ein stabiles grundgesetzliches Verständnis, das auch eine Radikalisierung der Mitte (Lipset) aufgrund ökonomischer oder politischer Krisen überstehen kann?

 

HP: Das hoffe ich sehr. Ich vertraue darauf, dass der Boden fest genug ist.

Global Review Einige Experten sind der Ansicht, dass Trump , Le Pen oder ein autoritärer Politker durch die reine Existenz der Verfassung und ihrer Gewaltenteilung nicht in der Lage sei desaströse politische Taten zu begehen oder aber eine autoritäre Diktatur zu errichten.Man hofft auf die moderierende und einhegende Wirkun der Verfassung.Ist dies nicht ein wenig viel Gottvertrauen in die Rolle von Verfassungen?

HP: Wenn man nach Polen schaut und sieht, wie die Regierung dort mit dem Verfassungsgericht umspringt, kann man Zweifel kriegen … es wird einem unbehaglich. Ich vertraue auf die Zivilgesellschaft und ihre Kraft. Die Populisten und die Pegidisten sind laut, aber wirklich nicht in der Mehrheit.

Global Review: Der Islamismus und sein Terrorismus wird uns wahrscheinlich noch Jahrzehnte erhalten bleiben. Bedeutet dies nicht ein ständiges Leben im Ausnahmezustand, der die demokratischen Verfassungen mittel- und langfristig immer wieder infrage stellt und tendenziell autoritäre Diktaturen begünstigt?

 

HP: Man bekämpft den Terrorismus nicht mit Ausnahmezuständen. Ein Staat, der sich nur noch mit Ausnahmezuständen zu helfen weiß, ist nicht stark, sondern schwach.  Wir brauchen eine gut ausgestattete Polizei, wir brauchen eine effektive rechtsstaatliche Justiz – als Normalzustand.

Global Review: Polen und Ungarn sind auf dem besten Weg sich in autoritäre Diktaturen umzuwandeln. Die EU kann dagegen zwar ein Rechtsprüfungsverfahren einleiten und mit einem Ultimatum drohen, aber aufgrund der Einstimmigkeit hat Orbanungarn die Möglichkeit alle Sanktionen gegen Polen per Veto zu verhindern. Hat die EU überhaupt wirksame Mechanismen gegen die Etablierung autoritärer Diktaturen oder müssten diese erst geschaffen werden?

 

HP: Das  stärkste Mittel der EU sind die Finanzen. Wenn Polen und Ungarn das  Recht zudrehen, muß der Geldhahn zugedreht werden.

Global Review: Wie sehen Sie die Rolle der jüngeren Generation, Ist Sie präpariert das Grundgesetz gegen ältere Reaktionäre und sich radikalisiernde Kleinbürger und Arbeiter zu verteidigen. Oder ist sie unpolitisch, desinteressiert an den Grundrechten, weil sie sie als selbstverstänflich sieht, aber zu uncool sie auch wie die 68er bei den Notstandsgesetzen zu verteidigen?Heutezutage scheinen ja Bürgerrechte von der jüngereren Generation vor allem als Internetfreiheiten wahrgenommen zu werden. Auf der einen Seite hat man den Chaos Computerclub, Leute wie Edward Snowden und die Piraten, auf der anderen eine Jugend, denen der Datenschutz weitgehend egal zu sein scheint.Wo gibt es potentielle Bündnispartner für einen Verfassungsliberalismus?

 

HP: Da sind Sie pessimistischer als ich. Die Verfassungsklagen gegen die Einschränkung der Kommunikationsfreiheiten hatten und haben Hunderttausende von Unterstützern. Die Klagen gegen die Freihandelsabkommen werden von unzählig vielen Menschen unterstützt, weil sie fürchten, dass der Rechtsstaat unter die Räder kommt.   Gewiss: Es gibt zum Teil das Gefühl, dass das Internet eben seinen Preis hat … und der bestehe im Zugriff auf die persönlichen Daten. Es gibt aber auch eine wachsende Sensibiltät dafür, das der Datenschutz nicht irgendwelche Daten schützt, sondern die Personlitt und Intimität. Ich glaube daran, dass ein neues Grundrechtsbewußtsein entsteht, ich vertraue darauf, dass der Widerstand gegen den Verzehr der Bürgerrechte zunimmt.

Global Review: Max Horkheimer sagte mal: „Wer vom Faschismus redet und vom Kapitalismus nicht, soll lieber schweigen“. Marxisten sehen in der Demokratie die bürgerliche Herrschaftsform in wirtschaftlichen Boomzeiten. Da der Kapitalismus aber systemimmanent Wirtschafts- und Finanzkrisen wie die Weltwirtschaftskrise 1929 oder die Finanzkrise 2008 hervorbringt, wäre die autoritäre Diktatur oder der Faschismus die Herrschaftsform des Kapitalismus in Krisenzeiten.Ist der Liberalismus aufgrund der kapitalistischen Bewegungsgesetze nur ein temporäres Phänomen während Boomzeiten? War diese Erfahrung der Gedanke der Verfassungsväter eine soziale Marktwirtschaft zu favorisieren?

HP: Die Verfassungsmütter und Verfassungsväter haben die Gefahren des Kapitalismus erkannt; die Ergebnisse dieser Erkenntnis finden sich im Grundgesetz – noch stärker aber in den Landesverfassungen, die ja älter sind als das Grundgesetz; da waren die Erfahrungen aus der NS-Zeit noch näher. Lesen Sie mal beispielsweise die Bayerische Verfassung: Was da alles an antikapitalistischen Sätzen steht! Da fallen Ihnen die Augen raus.  Es geht um den Sozialstaat. Ohne den Sozialstaat gibt  es keine Demokratie.

Global Review: In den Politikwissenschaften kennt man die 3 Gewalten, vielleicht noch die Medien als vierte Gewalt, aber die Wirtschaft, der eine zentrale Stellung in der Gesellschaft zukommt, wird gar nicht so als Gewalt begriffen und über deren Demokratisierung gar nicht mehr gesprochen.Im Zeitalter des Neoliberalismus und der Globalisierung erscheint sie sogar als heilige, nicht zu hinterfragende Kraft, die nicht reguliert werden sollte. Ist der Idee einer marktkonformen Demokratie nicht eher die Idee einer demokratiekonformen Wirtschaft entgegenzuhalten?

 

HP: Das ist ein guter Hinweis. Über die Wirtschaftsdemokratie wird kaum mehr gesprochen. Das war einmal, in den frühen fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, ein großes Thema. Es ist ein Mitbestimmungsthema. Demokratie ist, um es kurz und bündig zu sagen, ein Betriebssystem – was das auch im Wortsinn bedeutet, sollte man sich überlegen.

Kommentare sind geschlossen.