Die Wohnungsfrage: Engels contra Proudhon

Die Wohnungsfrage: Engels contra Proudhon

Gastautor: Genova

Der Streit zwischen Hardcore-Linken und den Gemäßigten ist alt und oft wohl müßig. Es geht dabei immer um den Grad der Kritik am Kapitalismus: Darf man ihn nur in toto verdammen oder kann man ihn partiell kritisieren?

Einen netten Einblick in diese Auseinandersetzung bekommt man in dem Text „Die Wohnungsfrage“, von Friedrich Engels 1872 geschrieben. Er setzt sich dort mit dem französischen Sozialisten oder Anarchisten oder Ökonom Pierre-Joseph Proudhon auseinander. Es geht um den ökonomischen Aspekt des Bauens und Mietens.

Die Ausgangslage beschreibt Engels so:

Wir haben es mit einem ganz gewöhnlichen Warengeschäft zwischen zwei Bürgern zu tun, und dies Geschäft wickelt sich ab nach den ökonomischen Gesetzen, die den Warenverkauf überhaupt regeln, und speziell den Verkauf der Ware: Grundbesitz. Die Bau- und Unterhaltskosten des Hauses oder des betreffenden Hausteils kommen zuerst in Anrechnung; der durch die mehr oder weniger günstige Lage des Hauses bedingte Bodenwert kommt in zweiter Linie; der augenblickliche Stand des Verhältnisses zwischen Nachfrage und Angebot entscheidet schließlich.

Soweit die Erklärung Engels, der sich Proudhon vermutlich angeschlossen hätte. Merkwürdigerweise macht Engels dann dieses Fass auf:

Dies einfache ökonomische Verhältnis drückt sich im Kopf unsres Proudhonisten folgendermaßen aus:

Im Folgenden zitiert er Proudhon

„Das einmal gebaute Haus dient als ewiger Rechtstitel auf einen bestimmten Bruchteil der gesellschaftlichen Arbeit, wenn auch der wirkliche Wert des Hauses längst schon mehr als genügend in der Form des Mietzinses an den Besitzer gezahlt wurde. So kommt es, daß ein Haus, welches z.B. vor 50 Jahren gebaut wurde, während dieser Zeit in dem Ertrag seines Mietzinses zwei-, drei-, fünf-, zehnmal usw. den ursprünglichen Kostenpreis deckte.“

Eine, wie ich finde, nachvollziehbare Erklärung von Proudhon. Es gibt reale Baukosten, die sich aus den Arbeiterlöhnen und den Materialkosten zusammensetzen. Das ist klar kalkulierbar und das ergibt den realen Baupreis, der von den Mietern zu bezahlen ist. Der Besitzer des Hauses hat aufgrund der ökonomisch-juristischen Tatsachen die Möglichkeit der permanenten Ausbeutung der Mieter, jenseits der faktischen Kosten.

Wie reagiert Engels darauf?

So:

Hier haben wir gleich den ganzen Proudhon. Erstens wird vergessen, daß die Hausmiete nicht nur die Kosten des Hausbaus zu verzinsen, sondern auch Reparaturen und den durchschnittlichen Betrag schlechter Schulden, unbezahlter Mieten, sowie des gelegentlichen Leerstehens der Wohnung zu decken, und endlich das in einem vergänglichen, mit der Zeit unbewohnbar und wertlos werdenden Hause angelegte Baukapital in jährlichen Raten abzutragen hat.

Engels übernimmt hier gegen Proudhon Argumente der Kapitalseite, die allerdings läppisch sind. Zu dem ursprünglichen Kostenpreis kommen dann eben noch die Kosten für Reparaturen, Modernisierungen, Leerstand usw. Das ändert nichts am grundlegenden Verhältnis, das Proudhon beschreibt, sondern bedeutet nur, dass der Kostenpreis ein wenig höher liegt. Der Einwand von Engels ist also sinnlos.

Weiter geht´s mit Engels Kritik:

Zweitens wird vergessen, daß die Wohnungsmiete ebenfalls den Wertaufschlag des Grundstücks, auf dem das Haus steht, mit zu verzinsen hat, daß also ein Teil davon in Grundrente besteht.

Noch ein Argument der Kapitalseite. Die Miete hat den Wertaufschlag des Grundstücks nur aus kapitalistischer Perspektive zu verzinsen. Warum Proudhon diese einnehmen soll, ist mir schleierhaft.

Und weiter:

Unser Proudhonist erklärt zwar sogleich, daß dieser Wertaufschlag, da er ohne Zutun des Grundeigentümers bewirkt, von Rechts wegen nicht ihm, sondern der Gesellschaft gehört; er übersieht aber, daß er damit in Wirklichkeit die Abschaffung des Grundeigentums verlangt, ein Punkt, auf den näher einzugehn uns hier zu weit führen würde.

Was Engels nun gegen die Abschaffung des Grundeigentums einzuwenden hat, erschließt sich mir ebensowenig.

Endlich übersieht er, daß es sich bei dem ganzen Geschäft gar nicht darum handelt, dem Eigentümer das Haus abzukaufen, sondern nur dessen Nießbrauch für eine bestimmte Zeit.

Exakt dies sagt Proudhon. Dessen Argument war ja, dass die Summe der Nießbräuche zur x-fachen Bezahlung der realen Kosten führt.

Proudhon, der sich nie um die wirklichen, tatsächlichen Bedingungen kümmerte, unter denen irgendeine ökonomische Erscheinung vor sich geht, kann sich natürlich auch nicht erklären, wie der ursprüngliche Kostpreis eines Hauses unter Umständen in der Gestalt von Miete in fünfzig Jahren zehnmal bezahlt wird.

Doch, Proudhon kann sich das erklären. Zumindest sehe ich in den zitierten Passagen keinen Hinweis darauf, dass er das nicht könnte. Nur kritisiert er es zugleich.

Anstatt diese gar nicht schwere Frage ökonomisch zu untersuchen und festzustellen, ob sie wirklich und wieso mit den ökonomischen Gesetzen in Widerspruch steht, hilft er sich durch einen kühnen Sprung aus der Ökonomie in die Juristerei: „das einmal gebaute Haus dient als ewiger Rechtstitel“ auf bestimmte jährliche Zahlung. Wie das zustande kommt, wie das Haus ein Rechtstitel wird, davon schweigt Proudhon.

Vielleicht sind wir heute im allgemeinen Wissensstand weiter, jedenfalls ist uns heute völlig klar, wie es es zu diesem Rechtstitel kommt. Es ist der Staat im Kapitalismus, der für die ensprechenden juristischen Flankierungen der Renditelogik sorgt.

Und doch ist es das gerade, was er hätte aufklären müssen. Hätte er es untersucht, so würde er gefunden haben, daß alle Rechtstitel in der Welt, und wenn sie noch so ewig, einem Hause nicht die Macht verleihen, seinen Kostpreis in fünfzig Jahren zehnmal in Gestalt von Miete bezahlt zu erhalten, sondern daß bloß ökonomische Bedingungen (die in Gestalt von Rechtstiteln gesellschaftlich anerkannt sein mögen) dies zustande bringen können Und damit war er wieder so weit wie am Anfang.

Diese gesellschaftliche Anerkennung von Rechtstiteln ist der entscheidende Punkt, den Engels hier einräumt, womit er die eigene Kritik an Proudhon in diesem Punkt implizit zurücknimmt. Der Staat kann die rechtlichen Flankierungen ökonomischer Bedingungen gestalten. Beispielsweise dahingehend, dass er die Rendite im Wohnungssektor komplett abschöpft. Tut er aber nicht, was konkrete Auswirkungen auf die ökonomischen Bedingungen hat.

Viel heiße Luft um nichts. Proudhon beschreibt reale gesellschaftliche Verhältnisse und kritisiert diese, Engels beharrt darauf, dass Proudhon die kapitalistische Logik anerkennen möge. Und die dann insgesamt umschmeißen.

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Natürlich kann ich die kapitalistische Logik partiell kritisieren. Beispielsweise im sogenannten Wohnungsmarkt, der aufgrund seiner immobilen Beschaffenheit kein Markt ist. Und natürlich kann ich einen Unterschied zwischen diesem Wohnungsmarkt und meinetwegen dem Automarkt machen, der mir immerhin erlaubt, umstandslos ein Auto meiner Wahl zu kaufen – von der Luxuslimousine bis runter zum Gebrauchtwagen für 1.000 Euro. Der Wohnungsmarkt in Ballungszentren erlaubt mir sozusagen nur den Erwerb eines VW Golf für den Preis einer Mercedes S-Klasse. Und selbst auf den muss ich jahrelang warten.

Wir haben also einen Immobilienmarkt, der die x-fache Überhöhung der realen Kosten ermöglicht und so ein paar Leuten extreme Gewinne ermöglicht, und wir haben in vielen anderen Bereichen reale Konkurrenzsituationen, die die finanziellen Verhältnisse einigermaßen im Lot behalten.

Die Frage ist vielmehr die: Ist der Kapitalismus auf Dauer insofern zähmbar, als dass man bestimmte Bereiche nichtkapitalistisch organisieren kann? Beispielsweise den Wohnungssektor? Oder ist er eine solch gefräßige Maschine, die aus der inneren Struktur (also die permanente Verwertung des Wertes) heraus nicht anders kann, als sich die komplette Welt gefügig zu machen.

Man kann es sich einfach machen und den Kapitalismus mit markigen Worten ablehnen. Dann sind wir vermutlich beim Salonsozialismus, also bei Leuten, die sich über Theoretisiererei freuen, aber die Verhältnisse insgeheim ganz ok finden. Bitte keine reale Veränderung, dafür um so mehr intellektuelle Waghalsigkeit.

Oder man dockt an den realen Verhältnissen an. Das versuchte, so mein Eindruck, Proudhon an dieser Stelle.

Man kann Engels darüberhinaus auch formal kritisieren: Er versucht, Proudhon lächerlich zu machen und er macht das ziemlich aggressiv. Kein inhaltliches Argument ohne persönliches Bashing. Es ist eine Art der Auseinandersetzung, die so gar nicht passt zum Paradies auf Erden, das er mit seinem Kumpel Karl schaffen wollte.

Vielleicht könnte man hier auch an die Frage anschließen, wie es von Marx und Engels zu Stalin kommen konnte. Der Absolutheitsanspruch, gepaart mit Aggressivität, trug sicher seinen Teil dazu bei.

https://exportabel.wordpress.com/2017/02/22/die-wohnungsfrage-engels-contra-proudhon/#comment-15498

Ein Kommentator meinte dazu:

„Das einmal gebaute Haus dient als ewiger Rechtstitel auf einen bestimmten Bruchteil der gesellschaftlichen Arbeit, wenn auch der wirkliche Wert des Hauses längst schon mehr als genügend in der Form des Mietzinses an den Besitzer gezahlt wurde. So kommt es, daß ein Haus, welches z.B. vor 50 Jahren gebaut wurde, während dieser Zeit in dem Ertrag seines Mietzinses zwei-, drei-, fünf-, zehnmal usw. den ursprünglichen Kostenpreis deckte.“

Bedeutet soviel: Darf ein Vermieter fortwaehrend Miete kassieren? Rhetorische Frage! Natürlich nicht! Proudhon sieht das so. Eigentum zu vermieten ist unmoralisch, weil Proudhon meint, dass das so sei. Man muss sich doch nun fragen, auf welche Grundlage Proudhons Moral baut. Aus dem bürgerlichen Gesetz kann man eine derartige Moral nicht ableiten. Buergerliches Gesetz setzt die kapitalistische Ordnung ins Werk. Eigentum zu vermieten, gehoert zu den Rechten eines Buergers gemaess diesen Gesetzes. Doch Proudhon postulierte einfach seine Moral, und bestreitet dieses Recht, und hält sich für was weiss ich für revolutionär. Einfach deshalb, weil er das bürgerliche Gesetz ablehnt. Bürgerliches Gesetz abzulehnen bedeutet Fortschritt, denkt sich der Franzose. Ihn ueberzeugt so etwas.

Das alles ist vordergründig ein moralisches Argument. Kein vernünftiges. Niemand hat etwas von Proudhons Vorstellungen über die Umgestaltung der Gesellschaft. Die proletarischen Mieter zu mindestens am allerwenigsten. Das, was Proudhon da vorschwebt, sind einfach die absurden Robinsonaden, mit denen VWL-Professoren in der Einfuehrungsvorlesung ihre Studenten langweilen. Eine Gesellschaft aus Kleinproduzenten, die für den eigenen Bedarf produzieren, und nur das verkaufen, was nicht benötigt wird. Also Subsistenzwirtschaft. Aus diesem Gesellschaftsideal leitet sich Proudhons Moral ab. Das entspricht der vorkapitalistischen Realität. Deshalb leuchtet die daraus abgeleitete Moral ein. So ist es halt immer mit den Elementen gesellschaftlichen Bewusstseins. Das hinkt in der Entwicklung der sozialen Realität hinterher. Und die soziale Realität ist die, dass diese Subsistenzwirtschaft untergegangen ist, und der kapitalistischen Wirtschaftsweise Platz gemacht hat, die rasante Entwicklung der Produktivkräfte mit sich brachte, die auch Proletariern einen wachsenden Wohlstand ermöglicht. Die Proletarier haben doch damals und auch heute in den Entwicklungsländern noch aus eben diesen Grund ihre Scholle verlassen, und sind in die Stadt gezogen, um an der weitaus höher organisierten, technisierten Produktion teilzunehmen. Das heißt, sie taten genau das Gegenteil von dem, was Proudhon empfiehlt.

Um noch einmal auf das Vermieten von Häusern zurückzukommen: Vermieter sind Dienstleistungsunternehmen. Das Haus Kapital, und die Miete der Umsatz. Kapital vermittelt Einkommen. So ist das im Kapitalismus. Das wäre bei einer Fabrik auch nicht anders. Man muss Kapital von Einkommen unterscheiden. Man erwirbt Kapital, um Einkommen zu erhalten. Dabei stehen die verschiedenen Sorten Kapital in Konkurrenz zueinander hinsichtlich der Parameter Risiko, Rendite und Liquidität. Danach bemisst sich, welchen Wert Kapital besitzt, also zum Beispiel, was ein Wohnhaus wert ist, ob mehr von ihnen gebaut werden oder lieber in Staatsanleihen, Aktien und Anleihen investiert wird.

Und dann gibt es das noch die Spekulationsblase. Das ist ein Thema für sich. Die führen zu massenhaften Errichtung immer teurer werdender Immobilien, die für ihren Zweck wegen ihres hohen Preises ungeeignet sind, und daher leerstehen. Das ist das sogenannte Betongold. Denn genau wie Gold erwirtschaften derartige Anlagen keine Gewinne. Wohnungen an Arbeiter zu vermieten, rechnet sich dann einfach nicht mehr, was zu Wohnungsnot führt.

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