Prüfsteine für die Theorie von Russlands Geostrategie der „dynamischen Defensive“/“strategischen Geduld“

Prüfsteine für die Theorie von Russlands Geostrategie der „dynamischen Defensive“/“strategischen Geduld“

Als Kernelemente von Putin-Rußlands Geostrategie der „dynamischen Defensive“/“strategischen Geduld“ (Karaganow) sind folgende wesentlichen Elemente auch als Lehre der Geschichte und des Kalten Kriegs sowie dem Zusammenbruchs der Sowjetunion (laut Putin „die geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“) konstituierend:

1) Kein neues Afghanistan (weder in der Ukraine, noch in Syrien, noch sonstwo)

2) Kein neues Wettrüsten, da Rußland aufgrund seiner ökonomischen Schwäche dieses Totrüsten noch weniger als die Sowjetunion verkraften und daher verlieren würde

3) Ermattung-Abwarten, wie sich der westliche Kapitalismus und seine liberale Demokratie des Westens aufgrund eigener innerer Widersprüche selbst schwächt und auflöst

4) Unabhängige Außenpolitik, jedoch mittelfristig in Kooperation mit China und mit Asian Pivot, bis der Westen genug geschwächt ist, um dann auf Augenhöhe mit ihm neuzuverhandeln.

Dies gilt es anhand der Realitäten zu prüfen. Zwei Kritikpunkte seien diesbezüglich angebracht:

Zum einen Putins Unterstützung rechtsradikaler und populistischer Bewegungen und Parteien in Europa und den USA. Sei es die indirekte Unterstützung für Trump, sei es der 40-Millionenkredit einer Putinnahen Oligarchenbank für den Front National in der Hoffnung, dass ein Le Pen-Frankreich dann aus der EU, dem Euro und der NATO austreten würde, sei es die Annäherung an die Erdogan-Türkei, sei es nun die Annäherung an Orban-Ungarn und Salvini-Italien–wohl alles recht aktive Maßnahmen, um die EU zu schwächen oder aber zu zerstören. Freilich kann er dies aber auch aufgrund der inneren Widersprüche, aber es ist eben kein reines „Abwarten“, sondern mutet schon nach einer aktiven Zersetzungsstrategie an.

Zum anderen die Modernisierung der russischen Waffensysteme. Falls die USA und die NATO Recht haben sollten, dass Rußland Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper wie die behaupteten SS-C-8 entwickelt, würde dies bedeuten, dass Putin aktiv die Gefahr eines neuen Wettrüstens eingeht und nicht zu verhindern versucht. Das überrascht doch angesichts der Tatsache, dass Putin-Russlands Ökonomie schwächer als die der Sowjetunion ist. Oder rechnet Putin damit, dass ein Bruch des INF-Vertrages und die Gefahr einer neuen Aufrüstung US- und NATO-kritische Pazifisten, Nationalisten und Antiamerikaner in Europa uind Asien mobiliseren wird und die inneren Widersprüche im Westen dann zunehmen bis zur Sollbruchstelle, zumal jetzt schon selbst protransatlantische und konservative Medien wie der Münchner Merkur in ihrem Leitkommentar fordern „Keine US-Raketen in Deutschland“, ja Grüne, FDP und andere Kräfte sich auch für einen Abzug jetzt schon existierender atomarer US-Wafensysteme in Deutschland einsetzen. Erhofft sich Putin dann eine Art Friedensbewegung und antiamerikanische Kräfte bis hinein in relevante politischen Parteien wie zu Hochzeiten des Kalten Krieges .Zudem wäre es auch möglich, dass Putin mit seinen engen Beziehungen zu China darauf hoffen könnte, dass die USA und die NATO im Falle eines Wettrüstens nicht nur Rußland, sondern auch dem ökonomisch starken China gegenüberstehen, was die Kräfteverhältnisse im Gegensatz zur Konstellation des Kalten Krieges ändern könnte, zumal Rußland nicht weitere Engagements wie Afghanistan oder rebellische Oppositionsbewegungen wie der Solidarnosc und einen bankrotten Ostblock momentan zu stemmen hat. Fraglich aber, ob in diesem Falle seine Kalkulation der Kräfteverhältnisse aufgehen würde. Es wäre ein sehr riskantes Vabanquespiel, wobei es eben unklar blebt, ob er dieses überhaupt beabsichtigt und die Berichte von den rußischen Vertragsverletzungen wirklich so stimmen, obgleich ja selbst schon die Obama-Regierung und nicht nur die Trump-Administration darauf hinwies.

Es bleibt vorerst einmal abzuwarten, was bei dem nun anvisierten Putin-Trump-Gipfel herauskommt. Kim Yonguns Atom- und Interkontinentaltests führten zum Kim-Trumptreffen und damit ja vorerst auch zu einer Deeskalationsdynamik auf der koreanischen Halbinsel. Zumal bleibt für Trump China der Hauptfeind und nicht Rußland, auch wenn beide in der Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS)  als „revisionistische Mächte“und Hauptkonkurrenten der USA bezeichnet werden. Putin könnte die Vertragsverletzung auch mit der Absicht begangen haben, mit den USA wieder ins Gespräch zu kommen wie eben schon Kim Yongun. Möglich, dass Trump versucht, Putin auf Distanz zu Peking zu bringen. Insofern es Trump und den USA nur darum ginge, Chinas Aufrüstung im Bereich der Mittelstreckenwaffen zu kompensieren, könnte Trump und Putin bilateral vereinbaren, dass Mittelstreckenwaffen entwickelt werden dürfen, in Europa aber nicht stationiert werden, dafür die USA dies aber in Asien tun dürfen. Zumal der INF-Vertrag vor allem bodengestützte Mittelstreckenwaffen verbietet, aber see- und luftgestützte Systeme nicht einbezieht, was es einfacher macht. Falls man in Neuverhandlungen mit Rußland zum INF-Vertrag einsteigen sollte, wäre die Frage, ob man dies nicht generell zu einem umfassenderen Paket von Neuverhandlungen, ja gebebenfalls zu einer umfassenderen Abrüstungsinitiative ausweiten könnte. Beim INF-Vertrag vielleicht auch die Einbeziehung see- und luftgestützter Mittelstreckenwaffen, da sich der bisherige nur auf bodengestützte medium-range-Systeme bezieht. Desweiteren New START und ABM-Vertrag und dann natürlich auch die konventionelle Rüstung. Desweiteren auch ein Abkommen über Cyberspace und Weltraumrüstung sowie damit verbundener Fragen. Einige Rüstungskontrollverträge tragen der Modernisierung und dem Hinzukommen neuer Waffentechnologien nicht mehr Rechnung, andere Bereiche fehlen einfach.Etwaige Abkommen könnten dann auch vielleicht mit China ausgehandelt werden. Fraglich, ob das aber überhaupt gewollt ist. Möglich aber, falls dies nicht klappen sollte, Trump dann eskaliert und ein neues Wett- und Totrüsten beginnt, insofern er und Bolton dies ohnehin nicht schon von Anfang an beabsichtigen, zumal Trump, Bolton und große Teile der US-Republianer auch den New START-Vertrag für Langstreckenwaffen und den ABM-Vertrag für Raketenabwehrsysteme infrage stellen.

Ein befreundeter Ex-Botschafter bei der NATO und Diplomat im AA schätzt die Lage derfolgt ein:

„Lieber Herr Ostner,

vielen Dank für den Hinweis auf die Einschätzung von Lothar Domröse, der Ihre Anregung INF-Neuverhandlung ohne Stationierung in Europa für grundsätzlich nachdenkenswert hält. Das tue ich auch, obwohl ich die Gefahr sehe, dass wir dann in eine Situation geraten könnten, die Helmut Schmidt dazu veranlasste, auf den NATO-Doppelbeschluss zu setzen.

Aber: Von einer Neuverhandlung INF kann nach dem bisherigen Vorgehen von Bolton noch keine Rede sein. Es handelt sich letztlich nach seinen Ankündigungen um die beabsichtigte Kündigung eines bilateralen Vertrages – ohne wenn und aber. Ginge es Bolton und Co. um eine wirklich konstruktive Politik: Wäre dann nicht die Vorlage eines weltweit geltenden INF-Vertragsentwurfs für alle VN-Mitgliedsstaaten verbunden mit einem Rüstungskontrollregime à la NPT naheliegend gewesen.

So hat der Ansatz ein „Gschmäckle“, wie wir Schwaben sagen: Und es schmeckt nach einer Politik, die unter völlig anderen Umständen aus der damals durchaus klugen und erfolgreichen Strategie des NATO-Doppelbeschlusses aussteigt und lediglich das Aufrüstungselement auf die Speisekarte setzt.

Aus meinen Washingtoner Erfahrungen mit Bolton während seiner Zeit beim AEI glaube ich, dass wir es mit einem plumpen, auf Druck und Aufrüstung setzenden Vorgehen zu tun haben, das bereits 2003 mit dem Irak-Krieg zu einem Desaster führte. Sollte sich dahinter die Vorstellung verbergen, Moskau könne mit starker Hand in eine Junior-Partnerschaft gegen China und/oder Iran gezwungen werden, dann ist das eine höchst gefährliche Illusion.

Und damit zu Ihren Anmerkungen zur russischen Geostrategie: Auch hier meine ich als Schwabe in Berlin „Nix gsagt isch gnug gelobt.“ Anders formuliert: Ich halte Ihre Eingangsbemerkungen zur russischen Geostrategie für zutreffend. Die anschließenden Folgerungen bewegen sich allerdings eher im Bereich der Prognose. Prognosen können zutreffen, enthalten aber immer auch ein erhebliches Risiko der Spekulation. Und das versuche ich als Schwabe, wenn möglich, zu vermeiden.

Viele Grüße

Ihr

Dr.X“

 

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