Generalstreik 1948-wie Ludwig Erhardt die soziale Marktwirtschaft lernte

Generalstreik 1948-wie Ludwig Erhardt die soziale Marktwirtschaft lernte

Ein hochinteressanter Artikel in der taz über deutsche Zeitgeschichte. Es geht um den Begriff der sozialen Marktwirtschaft und die Rolle Erhards. Erhard wollte einen freien Markt: „Ich meine, dass der Markt an sich sozial ist, nicht dass er sozial gemacht werden muss.“

Mir neu sind die beiden folgenden Ereignisse:

Erhard reagierte mit dem neoliberalen Mantra, die Preise würden sich mit der Zeit schon „einpendeln“. Das taten sie nicht. In den ersten zwanzig Tagen nach der Währungsreform stiegen die Preise von Schuhen und Grundnahrungsmitteln um 50 bis 200 Prozent, und bis zum Jahreswechsel verbesserte sich diese Situation nicht.

Schnell regte sich Unmut. Marktstände wurden geplündert, und Hausfrauen „sozialisierten“ die besonders begehrten Eier. Große „Kaufstreiks“ wurden durchgeführt, um die Händler zu Preisnachlässen zu bewegen, und in fast allen Städten kam es zu Protestdemonstrationen.

Eine Zäsur war der 28. Oktober 1948, als in Stuttgart 80.000 Menschen auf die Straße gingen – und anschließend einige Tausend Demonstranten Luxusgeschäfte zerstörten und Polizisten tätlich angegriffen. Deutsche und amerikanische Polizeibataillone setzten Tränengas, Bajonette und gepanzerte Fahrzeuge ein, um die aufgebrachte Menge unter Kontrolle zu bringen.

Am 12. November 1948 kam es schließlich zum bislang letzten Generalstreik in Deutschland: Über 9 Millionen Menschen legten die Arbeit nieder – das entsprach einer Beteiligung von knapp 80 Prozent –, obwohl nur 4 Millionen einer Gewerkschaft angehörten und es auch kein Streikgeld gab. 9 Millionen verzichteten auf ihr knappes Einkommen, damit Wirtschaftsdirektor Erhard endlich verstand, dass seine Politik des „freien Marktes“ gescheitert war.

Erst aufgrund von Plünderungen, Kaufstreiks, ja einem Generalstreik, wahrscheinlich der letzte in Nachkriegsdeutschland dachte sich Erhard, der Erfinder der Währungsreform und des Wirtschaftswunders mittels der Ordoliberalen um Roepken, Armack,u.a. überhaupt erst die soziale Marktwirtschaft aus, auf die sich heute alle, ja selbstz Sarah Wagenknecht berufen. Kurz: Erhard wurde angesichts einer Rebellion gegen die von ihm selbst propagierten und in Szene gesetzten frei wirkenden Marktwirtschaft, deren archaischen und asozialen Kräfte und ihrem revolutionären Potential und der Existenz des kommunistischen Lagers quasi dazu gezwungen, die soziale Marktwirtschaft als bleibende Counterinsurgency-Maßnahme zur Herstellung innenpolitischer Stablität und als Gegenmodell zum US-Kapitalismus und der DDR/Sowjetunion einzuführen. Freilich wird in den jetzigen Lobreden über 70 Jahre Grundgesetz, die Verfassungsväter und die soziale Marktwirtschaft nichts dergleichen erwähnt, vielleicht um die Leute angesichts Gelbwestenprotesten in Frankreich und Wohnungsmietsdemonstrationen mit einhergehenden Enteignungsforderungen lieber keine geschichtlichen Beispiele und Vorblder zu geben oder an diese zu erinnern.
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