Politischer Islam als strategischer Faktor – Das Jahr 1979 und die Folgen

Politischer Islam als strategischer Faktor – Das Jahr 1979 und die Folgen

Autor: Dr. Hans-Ulrich Seidt

Moderne Strategie dient einer nüchtern abwägenden und rational handelnden Politik. Wir finden ihre konzeptionellen Grundlagen bereits in der Renaissance, vor allem aber in der späten Aufklärung.

Institutionell sollte strategisches Denken idealerweise in hochqualifizierten Stabsstrukturen verankert sein, die der Führung eines Gemeinwesens beobachtend, planend und beratend zugeordnet sind. Sie haben vorrangig jene Faktoren zu identifizieren, die in Zeit und Raum zur Erreichung eigener Ziele beitragen, gleichzeitig aber auch jene Kräfte zu erkennen, die den eigenen Werten und Bedürfnissen schaden können.

Analytisch geht es vor allem um die genaue Bestimmung entscheidungsrelevanter strategischer Faktoren. Mit diesen politisch wirkenden Kräften befasste sich im Jahre 1797 eine bahnbrechende Studie. Sie untersuchte die überraschenden Siege der revolutionären, politisch völlig isolierten Französischen Republik über die Koalition der sie umgebenden europäischen Monarchien.

Bereits im ersten Satz fasste der Autor, Gerhard von Scharnhorst, das Ergebnis seiner Untersuchung zusammen. Der unerwartete Erfolg der Franzosen war nach seinen Beobachtungen mit den „inneren Verhältnissen“ des revolutionären Frankreichs „tief verwebt“.

Scharnhorst machte deutlich, was er mit “inneren Verhältnissen” meinte: „Man versteht unter diesem Worte in dieser Abhandlung sowohl das Verhältnis des physischen als auch des moralischen Zustandes“.

Nicht die überlieferte christliche Religion bot Scharnhorst Anlass, die Bedeutung des moralischen Faktors zu betonen. Scharnhorst war Agnostiker ebenso wie sein Schüler Carl von Clausewitz, der die Gedanken seines Lehrers in seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ weiterentwickelte. Beide hatten die unmittelbare Wirkung einer neuen, bürgerlichen Religion, einer religio civilis, vor Augen.

Die siegreichen Freiwilligenheere der französischen Revolution kämpften als ecclesia militans, als eine kämpfende Kirche, für “liberté, égalité, fraternité” unter der Trikolore. Carl von Clausewitz hat daraus eine Folgerung gezogen: Es kommt darauf an, zwischen der Religion als dem Glauben an ein besseres Jenseits und der Religion als einem politisch motivierenden Faktor zu unterscheiden.

Heute, 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, ist die Zeit revolutionärer Ersatzreligionen vorüber. Sicherlich entfaltet Karl Marx’ Diktum “Religion ist das Opium des Volkes“ mancherorts noch seine Wirkung. Aber in Albanien, von Enver Hodscha zum ersten atheistischen Staat der Welt erklärt, sind die Moscheen und Kirchen wieder geöffnet. Im Pekinger Lama-Tempel beten Menschenmengen für das Wohlergehen ihrer Familien. Und es gibt keinen Staatsakt der Russischen Föderation, in dem nicht der Moskauer Patriarch eine prominente Rolle spielt.

Selbst kritische Rationalisten sollten daher Gedanken ernst nehmen, die im Jahre 2008 der saudische Prinz Turki al-Faisal im Theresianum, der traditionsreichen Diplomatischen Akademie Wiens, vortrug.

Der ehemalige Chef des saudischen Nachrichtendienstes und spätere Botschafter in Washington und London erklärte, während seiner gesamten Laufbahn sei für ihn die Religion Richtschnur seines politischen Handelns gewesen.

Prinz Turki empfahl seinen internationalen Zuhörern, von Muhammad ibn Zafar al-Siqilli zu lernen. Nach diesem muslimischen Gelehrten des 12. Jahrhunderts müssen strategische Planung, diplomatisches Vorgehen und politisch motivierte Gewaltanwendung fünf Prinzipien folgen: Glauben an Gott, Tapferkeit angesichts von Gefahr, Geduld in schwierigen Lagen, Hinnahme des göttlichen Willens und Geringschätzung weltlicher Dinge.

Die vom saudischen Prinzen und Staatsmann vorgetragene Tugendlehre ließ erkennen, dass für ihn eine strikte Trennung zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen civitas Dei und civitas terrena in der politisch-diplomatischen Praxis nicht möglich war.

Seine Ausführungen lassen es als geradezu selbstverständlich erscheinen, den politischen Islam als einen strategischen Faktor zu bezeichnen, dessen Wirkung im 21. Jahrhundert weit über den vorderasiatisch-afrikanischen Übergangserdraum zwischen Nil Indus und Bosporus hinausreicht.

Betrachten wir daher nach diesen einführenden Überlegungen in chronologischer Folge vier Schlüsselereignisse des Jahre 1979, die im Rückblick erkennen lassen, welche Relevanz der politische Islam für unsere Gegenwart und Zukunft besitzt.

Das erste Ereignis:

Am 17. Januar 1979 verließ der krebskranke Schah Reza Pahlevi den Iran. Seit dem Jahre 1953, als Washington und London den damaligen Premierminister Mossadegh gestürzt und als Ergebnis  einer verdeckten Operation einen regime change bewirkt hatten, waren die USA die entscheidende Stütze des iranischen Herrschers gewesen.

Als Präsident Carter zur Jahreswende 1978/79 dem kranken und unpopulären Monarchen keine Zukunftschance mehr gab, brach sein Regime zusammen. Im Februar 1979 begrüßten Millionen von Menschen Ayatollah Chomeini jubelnd in Teheran.

Das autoritär-säkulare System des Schahs wurde durch eine theokratische Ordnung ersetzt, deren Verfassung im Oktober 1979 ein Referendum billigte.

Es handelte sich um eine Verfassung sui generis, die dem hohen schiitischen Klerus in allen wichtigen Fragen die politische Entscheidungskompetenz zuweist. Sie bildet bis heute die Grundlage und den politischen Handlungsrahmen der Islamischen Republik Iran. Der substanzielle Kern der iranischen Verfassung ist, das bringt die Staatsbezeichnung zweifelsfrei zum Ausdruck, der Islam und zwar in seiner schiitischen Ausprägung.

2. Ereignis:

Nahezu zeitgleich zur Entwicklung im Iran vollzog sich im östlichen Mittelmeerraum eine zweite strategische Wende.

Am 26. März 1979 unterzeichneten der israelische Premierminister Menachem Begin und der ägyptische Staatspräsident Anwar as-Sadat in Washington den israelisch-ägyptischen Friedensvertrag, der zuvor in Camp David ausgehandelt worden war. Präsident Carter unterschrieb als Zeuge für die Garantiemacht USA.

Der Vertrag gab Ägypten die Souveränität über die künftig demilitarisierte Sinai-Halbinsel zurück. Das Land erhielt zudem erhebliche Finanzzuwendungen westlicher Staaten und private Investitionen. Sie kamen in erster Linie dem Tourismussektor und der Bauwirtschaft zugute.

Hinzu kommt seit 1979 eine jährliche Budget-Hilfe der USA, die schwerpunktmäßig in den ägyptischen Verteidigungshaushalt fließt und für den Kauf wehrtechnischen Materials in den USA verwandt wird.

Der ägyptisch-israelische Separatfrieden des Jahres 1979 bedeutete allerdings auch den Bruch der bis dahin zumindest deklaratorisch existierenden pan-arabischen Solidarität und ging, das ließen bereits die vorab getroffenen Vereinbarungen von Camp David erkennen, zu Lasten der Palästinenser.

Obwohl Anwar as-Sadat noch zu Beginn der Verhandlungen erklärt hatte, er wolle keinen Separatfrieden, sondern eine Gesamtregelung des Nahostkonflikts, sollte sich bereits nach wenigen Jahren zeigen, in welchem Umfang Israel durch die militärische Entlastung an seiner Westfront operative Handlungsfreiheit in den Palästinensergebieten und vor allem gegenüber dem Libanon gewann.

Gemeinsam mit Menachem Begin erhielt Anwar as-Sadat für die Vereinbarungen von Camp David den Friedensnobelpreis. Seine säkulare, prowestlich ausgerichtete Politik wurde von der Oberschicht und der oberen Mittelschicht Ägyptens, die von den ausländischen Investitionen und einer liberalisierten Wirtschaftspolitik profitierte, begrüßt und getragen.

In der breiteren ägyptischen Bevölkerung aber regte sich Widerstand. Die von Anwar as-Sadat zunächst als Gegengewicht zum linken Nasserismus geduldete und hofierte Muslimbruderschaft wandte sich gegen die prowestliche Politik des Präsidenten und den Separatfrieden mit Israel.

Repressionsmaßnahmen gegen die Anhänger der Bruderschaft folgten, bis schließlich am 6. Oktober 1981 Präsident Sadat während einer Militärparade erschossen wurde. Geplant und ausgeführt wurde das Attentat von einem jungen Offizier mit familiären Beziehungen zum militanten Flügel der Muslimbrüder und Kontakten zu einer radikalen Gruppierung namens al-Dschihad, die sich später al-Qaida anschloss.

Nach der Ermordung Präsident Sadats kam es in Mittelägypten zu einem Aufstand, der rasch niedergeschlagen wurde. Sadats Nachfolger Mubarak hielt bis zum Frühjahr 2011 das Land mit zunehmender Härte unter Kontrolle.

3. Ereignis:

Nicht nur Iran und der östliche Mittelmeerraum, auch die arabische Halbinsel erlebte 1979 eine Zäsur. Als am Morgen des 20. November 1979 nach islamischer Zeitrechnung ein neues Jahrhundert begann, besetzten religiöse Fanatiker die Große Moschee in Mekka.

Ein zweiwöchiger Kampf um die heiligste Stätte des Islam begann. Die genaue Zahl der Toten ist bis heute nicht bekannt. Die überlebenden Besetzer wurden öffentlich hingerichtet. An ihrer Bekämpfung war auch eine französische Spezialeinheit beteiligt, die vor ihrem Eintreffen in Mekka rasch zum Islam konvertiert wurde. Der notwendige Einsatz ausländischer Sonderkräfte war den persönlichen Verbindungen des saudischen Sicherheitschefs, Prinz Turki al-Faisal, zu seinem französischen Kollegen zu verdanken.

Mit dem politisch-gesellschaftlichen Hintergrund und den religiösen Vorstellungen der Aufständischen befassten sich sorgfältige Studien. Danach war der spektakuläre Gewaltakt religiös-eschatologisch motiviert. Gleichzeitig aber wies er eindringlich auf das von Außenstehenden kaum wahrnehmbare gesellschaftliche und geistige Unruhepotential des saudischen Königreichs hin.

Seit der ersten Ölkrise im Herbst 1973 hatte der Ölboom der 70er Jahre zur Modernisierung und oberflächlichen Verwestlichung des Landes sowie bei der saudischen Königssippe und den ihr nahestehenden urbanen Milieus zu einem kaum vorstellbaren Reichtum geführt.

Allerdings waren vom neuen Wohlstand große Teile der Bevölkerung aus tribalen Gründen ausgeschlossen. Sie wandten sich gegen die Verwestlichung des Landes, forderten die Rückbesinnung auf Tradition und Religion.

Der Konflikt zwischen materieller Daseinsorientierung der Elite und der Jenseitsorientierung der konservativen Bevölkerungsmehrheit stellte die traditionelle Allianz der Herrscherfamilie mit der radikal-fundamentalistischen Glaubenslehre der Wahhabiten in Frage.

Heute vor genau 40 Jahren, am 2. Dezember 1979, waren die Zeichen des Aufruhrs im Nahen und Mittleren Osten nicht mehr zu übersehen. Sie wurden in den westlichen Hauptstädten mit wachsender Sorge verfolgt:

Der Schah, seit nahezu drei Jahrzehnten Repräsentant einer pro-westlichen Politik, war gestürzt, die US-Botschaft in Teheran am 4. November 1979 gestürmt und ihr Personal in Geiselhaft genommen worden. Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat und die saudische Königsfamilie konnten sich ihrer Herrschaft nicht mehr sicher sein.

Die Wut der Straße richtete sich gegen die USA und Israel. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Ereignisse in Mekka wurde auch in Islamabad, der Hauptstadt Pakistans, die US-Botschaft gestürmt und niedergebrannt.

4. Ereignis:

Bereits im Oktober 1979 hatte das Politbüro der KPdSU in Moskau einen regime change in Kabul ins Auge gefasst, bevor dann am 12. Dezember 1979 die endgültige Entscheidung fiel: Hafizullah Amin, der afghanische Staats- und Parteichef, sollte durch sowjetische Sonderkräfte liquidiert werden.

Hafizullah Amins Person und seine Politik boten aus Sicht der Mehrheit des Politbüros keine Gewähr dafür, dass die im April 1978 durch einen Putsch an die Macht gelangte Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) ihren pro-sowjetischen Kurs erfolgreich fortsetzen würde.

Daher sollten zeitgleich zur Ausschaltung Amins reguläre sowjetische Großverbände in das formal noch blockfreie Afghanistan einmarschieren und das neue Regime unter Amins Nachfolger Babrak Karmal stützen.

Vergeblich warnte der Chef des sowjetischen Generalstabs, Marschall Ogarkow, die politische Führung vor einem Einsatz der sowjetischen Armee am Hindukusch. Nur sechs Jahre später bezeichnete dann Michail Gorbatschow den Krieg in Afghanistan als „blutende Wunde“.  Der Einmarsch und Einsatz regulärer sowjetischer Truppen hatte sich tatsächlich als politisch-diplomatisches und militärisches Desaster erwiesen.

Der Zorn der islamischen Welt, der sich noch im November 1979 gegen die USA gerichtet hatte, wandte sich in kürzester Zeit gegen die atheistische Sowjetunion. Das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet wurde zum Zentrum des islamischen Aufruhrs und des anti-sowjetischen Widerstands.

Das bis Ende 1979 belastete Verhältnis der USA zur pakistanischen Regierung unter General Zia ul-Haq verbesserte sich schlagartig. Bedenken wegen der problematischen Nuklear-, Islamisierungs- und Menschenrechtspolitik Islamabads wurden in Washington zur Seite geschoben.

Die saudische Königsfamilie, deren Herrschaft noch im November 1979 unmittelbar gefährdet war, erklärte sich zum Vorkämpfer des Dschihad. Gemeinsam mit den USA finanzierte Saudi-Arabien den afghanischen Widerstand gegen die kommunistischen Ungläubigen und ermutigte nicht nur saudische Fundamentalisten, nach Pakistan zu gehen und die Feinde des Islam in Afghanistan zu bekämpfen.

Einen Einblick in die Gedankenwelt der Gruppierungen, die sich im Kampf gegen die Sowjetunion formierten, bietet die islamische Widerstandsliteratur in Farsi, Paschtu, Urdu und Arabisch.

Sie ermöglicht eine Übersicht über Entwicklungsstufen und Erscheinungsformen jener Bewegungen, die sich im Jahrzehnt nach dem sowjetischen Einmarsch formierten und radikalisierten.

Als bevorzugtes Instrument nutzte der mit den Geheimdiensten der USA und Saudi-Arabiens eng kooperierende pakistanische Nachrichtendienst ISI die radikale Hezb-e Islami, die „Partei des Islam“, unter ihrem Führer Gulbuddin Hekmatyar.

Hekmatyar erhielt den größten Teil der saudischen Hilfsgelder und der amerikanischen Waffenlieferungen. Seine Schrift „Die Gemeinschaft der Gläubigen im Islam“ wurde in Farsi und Paschtu mehrfach aufgelegt und in den afghanischen Flüchtlingslagern verteilt.

Daneben warben in einer Zeit, in der es noch keine elektronischen Medien gab, einfache Broschüren für Organisationsformen, die als Vorbild für den islamischen Widerstand dienen konnten. Sie trugen Titel wie „Die Muslimbruderschaft in Ägypten und Jordanien“ oder „Theorie und Praxis der Muslimbruderschaft“.

Deutlich wird in diesen Veröffentlichungen allerdings auch, dass der im Namen des Islam agierende, anti-sowjetische Widerstand die ethnische und religiöse Segmentierung der afghanischen Bevölkerung nicht überwinden konnte.

Schriften wie „Imam Khomeini und die Islamische Revolution“ wandten sich an die schiitische Bevölkerung Afghanistans, vor allem an die ethnische Minderheit der Hazara. Diese wurde wiederum von dem sunnitischen Paschtunen Hektmatyar und seiner Hezb-e Islami heftig bekämpft.

Auch die arabisch-sunnitischen Dschihadisten aus Ägypten und Saudi-Arabien wandten sich scharf gegen die afghanischen Schiiten. Zwar ist der Umfang der arabischsprachigen Widerstandsliteratur gering im Vergleich mit den zahlreichen Veröffentlichungen in Paschtu, Dari oder Urdu. Aber sie war konsequent dschihadistisch ausgerichtet.

Denn zu den internationalen Kämpfern, die sich mit Unterstützung oder Duldung des pakistanischen und saudischen Nachrichtendienstes sowie der CIA im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet sammelten, gehörte der künftige Kern von al-Qaida um den Saudi Osama bin Laden, den Ägypter Ayman al-Zawahiri und den Jordanier Abu Musab al-Zarquawi.

Für sie hatte der anti-sowjetische Dschihad eine weit über Afghanistan hinausreichende Bedeutung und wurde getrieben von der Idee, dass die Rückbesinnung und Erneuerung des Islam aus dem Osten, aus Khorasan, der alten Bezeichnung für Afghanistan, erfolgen müsse.

Die Vorstellung, Afghanistan oder Khorasan spiele für die Revitalisierung des Islam eine Schlüsselrolle, beruht auf zwei Hadiths, auf überlieferten Spruchweisheiten, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden. Ernst Herzfeld, der Ausgräber von Persepolis, hat bereits 1921 auf diese Textstellen hingewiesen und war sich ihrer politisch motivierenden Wirkung bewusst.

Der eine Hadith lautet: „Keine Fahne wurde je von Khorasan aus entfaltet, in der Unwissenheit oder im Islam, die zurückgeschlagen worden wäre, ehe sie ihr Ziel erreichte.“ Und der andere Hadith liest sich wie der Leitspruch für die al-Qaida Operation des 11. September 2001: „Khorasan ist der Köcher Allahs, aus dem er einen Pfeil schießt, wenn er einem Volke zürnt.“

Nicht ohne Grund liegt der Begründer des Panislamismus, Jamal ad-din al Afgani, auf dem Gelände der Universität Kabul begraben. Ebenso wie Ayatollah Chomeini hatte er seine religiös-revolutionäre Gedankenwelt während eines Aufenthalts im laizistischen Frankreich entwickelt.

Conclusio:

Der Rückblick auf das Jahr 1979 und seine Folgen legt folgende Überlegungen nahe, die möglicherweise auch zum Ausgangspunkt unserer Diskussion werden können:

  1. Wer die Formierung gegenwärtig aktiver politischer Gruppierungen auf der Grundlage des Islam erforscht und nach den Ursprüngen dschihadistischer Militanz sucht, der wird nicht zuletzt im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet fündig. Hier entwickelte sich während des Kampfes gegen die Sowjetunion unter den Sunniten ein pan-islamischer Inkubationsraum, der seine geistige Wirkung nach dem Ende des Kalten Krieges in einem Spektrum vielfältiger, militanter und nicht-militanter Erscheinungsformen entfaltete. Von besonderer Bedeutung für die Rekrutierung islamistischer Kämpfer bleiben bis heute die in den 1980er Jahren gegründeten Koranschulen im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet.
  • Zu den seit den 1980er Jahren sich zunächst langsam, dann aber immer schneller formierenden Erscheinungsformen des politischen Islam gehört der dschihadistische Terror der al Quaida und ihrer Nachfolgeorganisationen ebenso wie der Versuch, etwa über das afghanische Emirat der Taleban oder mit dem Islamischen Staat in Irak und Syrien die territorialen Voraussetzungen für ein neues Kalifat zu schaffen.
  • Neben einem gewaltbereiten Proto-Staat wie dem IS und den dschihadistischen Extremistengruppen wie al-Quaida agieren politische Bewegungen, die, wie etwa die afghanische Hezb-e Islami, als „Partei des Islam“ vordergründig Parteien westlichen Typs ähneln. Sie verfolgen ihre Ziele mit Hilfe einer systematisch ausgerichteten Langzeitstrategie. Sie orientieren sich am Vorgehen des nicht-militanten Flügels der ägyptischen Muslimbruderschaft.

Wie schon vor dem Dezember 1979 sehen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowohl die gewaltbereiten Dschihadisten als auch die überwiegend gewaltfrei operierenden islamistischen Parteien ihren Hauptgegner in den säkularen Gesellschaften des Westens, insbesondere den USA, und im Falle der von den Wahhabis oder Salafis inspirierten sunnitischen Militanz im schiitischen Iran, dessen regionale Großmachtaspirationen spätestens seit dem Scheitern der US-Intervention im Irak unübersehbar sind

Autor: Dr. Hans-Ulrich Seidt

Nach dem Studium der Rechtswissenschaft, Politik und Geschichte an den Universitäten Tübingen, Genf, Bonn und an der École Nationale d’Administration (ENA) in Paris, das er mit der Promotion zum Dr. phil. abschloss, trat er 1982 in den Auswärtigen Dienst ein. An der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn promovierte er 1983 zum Dr. phil mit einer Arbeit zur französischen Nahostpolitik. Nach Auslandsposten in Moskau, Nairobi, Brüssel (NATO) und Washington wurde er 2005 zunächst deutscher Geschäftsträger in Duschanbe, Tadschikistan. Zwischenzeitlich war er von 2003 bis 2005 Lehrbeauftragter für Internationale Politik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Die Valparaiso University im US-Bundesstaat Indiana verlieh ihm den Ehrentitel eines Dr. jur. h. c. Von 2006 bis 2008 war Seidt Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Kabul (Afghanistan). Im September 2009 wurde er Botschafter in Seoul (Südkorea). Bis Juli 2012 behielt er diesen Posten. Nachfolger als Botschafter in Südkorea wurde im Juli 2012 Rolf Mafael. Nach seiner Rückkehr wurde Seidt Leiter der Abteilung Kultur und Kommunikation des Auswärtigen Amtes und war als dieser unter anderem der Vertreter des Auswärtigen Amtes bei der Max Weber Stiftung sowie dem Deutschen Archäologischen Institut und dessen Kommissionen (Kommission für Archäologie Außereuropäischer Kulturen, Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik und Römisch-Germanische Kommission). Seidt ist stellvertretender Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft und Mitglied des Kuratoriums des Internationalen Kammermusikfestivals Schloss Moritzburg. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Veröffentlichungen

  • Berlin, Kabul, Moskau – Oskar Ritter von Niedermayer und Deutschlands Geopolitik. München 2002, ISBN 3-8004-1438-4
  • Alexander Swetschin: Clausewitz – Eine klassische Biographie aus Rußland. (= Dümmlerbuch 8215). Übersetzt, eingeleitet und herausgegeben von Olaf Rose und Hans-Ulrich Seidt. Mit einem Geleitwort von Vizeadmiral Ulrich Weisser (Leiter des Planungsstabes des Bundesministers der Verteidigung). Ferd. Dümmlers Verlag, Bonn 1997, ISBN 3-427-82151-X (Bildungsverlag Eins, 1999).
  • Europa in der Konzeption Frankreichs nach de Gaulle – Französische Nahostpolitik und Aussenpolitische Gemeinschaftsbildung, Diss., Bonn 1983.
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