Interview mit Dr. Alexander Rahr: „Russland wird mit allen Mitteln darum kämpfen, Belarus sicherheitspolitisch nicht in den Westen ziehen zu lassen“

Interview mit Dr. Alexander Rahr: „Russland wird mit allen Mitteln darum kämpfen, Belarus sicherheitspolitisch nicht in den Westen ziehen zu lassen“

Global Review hatte die Gelegenheit mit dem Politikwissenschaftler Alexander Rahr ein Interview über Rußland, Ukraine, Belarus, die Türkei und die multipolare Weltordnung zu führen.

Dr. Alexander Rahr mit Lukaschenko | Foto: (C) Alexander Rahr

Alexander Rahr ist international angesehener Politikwissenschaftler, Politik- und Unternehmensberater, Publizist und  Buchautor.Die wichtigsten Lebensdaten:

Geboren am 2. März 1959 in Taipeh/Taiwan, verheiratet, zwei Kinder.

Aufgewachsen in Tokio, Eschborn im Taunus, München. Lebt seit 1999 in Berlin.

1980 – 88 Studium an der Ludwig–Maximilian-Universität München (Geschichte, Slawistik, Politik)
1977 – 90 Projektmitarbeiter, Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien, Köln

1982 – 94 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut von Radio Free Europe/Radio Liberty, München

1989 – 91 Forschungsaufenthalte in RAND Corporation (USA), Sowjetparlament (UdSSR), East-West Institute (USA)

1994 – 12 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Programmdirektor Russland/Eurasien-Zentrum (Berthold-Beitz Zentrum) am Forschungsinstitut der DGAP, Bonn/Berlin

2012 –  Projektleiter (Chefredakteur Russlandkontrovers.de) beim Deutsch-Russischen Forum, Berlin

2012 – 15   Senior Advisor Russia, Wintershall Holding, Kassel

2015 –   Senior Advisor, Gazprom Brussels (Berater für Deutschland und EU-Angelegenheiten)

Mitbegründer des Petersburger Dialogs, Valdai-Klubs, Yalta European Strategy, Berliner Eurasischer Klub, Verbands der Russischen Wirtschaft in Deutschland

Träger des Bundesverdienstkreuzes

Ehrenprofessor an der Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO

Ehrenprofessor an der Moskauer Hochschule für Ökonomie

Der Deutschlandfunk berichtete:

„Alexander Rahr war schon bei Wladimir Putin zum Abendessen eingeladen und hat beste Kontakte in den Kreml. Mittlerweile arbeitet der Historiker und Russlandexperte auch als Lobbyist für Gazprom: eine Doppelrolle, die ihm oft Kritik einbringt.

Alexander Rahr gilt als „Putin-Versteher“ – nicht zuletzt, weil der Historiker, Politikberater und Lobbyist schon zwei Biografien über den russischen Präsidenten geschrieben hat. Im vergangenen Herbst veröffentlichte er außerdem seinen ersten Roman, der bereits im Titel wiederum auf den starken Mann im Kreml verwies: „2054. Putin decodiert“.„Putin-Versteher“ – meist ist diese Zuschreibung nicht unbedingt positiv gemeint. Rahr hat damit aber überhaupt kein Problem: „Ich selbst sehe mich auch als Russlandkenner und Putin-Versteher“, sagte er im Deutschlandfunk Kultur: „Aber im guten Sinn.“

https://www.deutschlandfunkkultur.de/historiker-und-russlandkenner-alexander-rahr-ich-bin-ein.970.de.html?dram:article_id=438224

Global Review: Dr. Rahr, die EU versucht, in der Ukraine einen Kompromiss mit Russland zu erzielen, aber Russland scheint den Minsker Prozess systematisch zu untergraben. Während Merkel und Macron die Krimfrage in den Verhandlungen ausschlossen, um zu einer Stabilisierung der Ostukraine zu gelangen, baute Russland eine Brücke zur Krim, vergrößerte die Annexion der Krim, brach den Waffenstillstand in der Ostukraine und stellte russische Pässe an die Ukrainer aus. Der deutsche Think Tank SWP schrieb in seiner neuen Studie von Fabian Burkhardt „Russlands „Passportisierung“ des Donbass – Die Masseneinbürgerung von Ukrainern ist mehr als ein außenpolitisches Instrument in SWP Kommentar 2020 / C 41, August 2020: „Russland hat bisher fast 200.000 russische Pässe für Ukrainer aus den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk ausgegeben. Dies untergräbt den Minsker Friedensprozess. Die Passportisierung des Donbass ist Teil eines bewährten Satzes außenpolitischer Instrumente. Russland erschwert absichtlich die Lösung territorialer Konflikte im postsowjetischen Raum durch die Schaffung einer kontrollierten Instabilität. Diese demonstrative Intervention in die staatliche Souveränität übt Druck auf die ukrainische Zentralregierung in Kiew aus. Im Inland ist es Russlands Ziel, dem eigenen natürlichen Bevölkerungsrückgang durch Einwanderung entgegenzuwirken. “

https://www.swp-berlin.org/de/publication/russias-passportisation-of-the-donbas/


Stimmen Sie dieser Analyse zu und ist eine neue Ostpolitik noch möglich, wenn Russland den Minsker Prozess nicht mehr interessiert? Was könnten die politischen Maßnahmen sein, um diesem Trend entgegenzuwirken?

Alexander Rahr: Beim Minsk Prozess reden alle Beteiligten um den heissen Brei herum. Im Vordergrund  steht die Moral. Russland habe Internationales Völkerrecht gebrochen und einen Angriff auf das liberale Wertesystem Europas verübt. Das müsste gesühnt werden. Russland verweist auf Völkerrechtsbrüche des Westens. Grenzen würden laufend verschoben, sei es beim Zerfall der UdSSR, Jugoslawiens, oder des Nahen Ostens. Russland denkt in puren Machtkategorien, für den postsowjetischen Raum gelte eine militärische Nichteinmischung anderer Mächte – so wie die alte Monroe-Doktrin auf dem amerikanischen Kontinent, die de facto immer noch gelte. NATO Basen in der Ukraine vergleicht Russland mit der Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba. Die USA verteidigten damals ihren Hinterhof, die Sowjets zogen ab. Die Ukraine ist aus Moskauer Sicht das russische Kuba. Was will Russland in der Ukraine? Russland möchte, dass sich die Ukraine in eine Föderation umwandelt. Dann hätten die Gebiete der Ostukraine, deren Bevölkerung historisch eine Affinität zu Russland haben, die Möglichkeit, wie vor den Ereignissen des Jahres 2014, eng mit Russland zusammenzuarbeiten. Russland wird die Separatisten im Donbas solange unterstützen, bis die Kiewer Zentralregierung den nicht-anerkannten Separatisten-Republiken eine Autonomie gewährt. Eine föderale Ukraine würde den Wünschen vieler Ukrainer, die ja noch immer kein homogenes Volk sind, entsprechen. Für Russland wäre eine föderative Ukraine auch eine sicherheitspolitische Garantie dafür, dass sein größtes westliches Nachbarland nicht Mitglied der NATO wird. Eine NATO Osterweiterung auf die Ukraine wäre für Russland vermutlich ein Kriegsgrund; jedenfalls würde Russland und der Westen dann in einen langen neuen Kalten Krieg hineinrutschen. Moskau weiß genau: solange der ukrainische Staatsverband fragil bleibt, wird die Ukraine keine Einladung in die NATO erhalten. Um die Zentralregierung in Kiew zur schnelleren Anwendung der Autonomielösung für die separatistischen Gebiete zu bewegen, setzt Moskau Kiew unter Druck – unter anderem mit der Vergabe russischer Pässe an die dortige Bevölkerung. Moskau suggeriert, es könne den Druck erhöhen, beispielsweise einen neuen Staat Novo-Rossija (Neu-Russland) in den von den Separatisten kontrollierten Regionen der Ostukraine ausrufen. Laut russischer Denkart gehört der mehrheitlich von einer russischsprachigen Bevölkerung besiedelte Osten der Ukraine zum kulturellen Erbe Russlands. Es sei hier angemerkt, dass die Autonomielösung für den Donbas fester Bestandteil des Minsker Abkommens ist! Es wäre unfair, alleine Russland für die Nichterfüllung des Abkommens die Schuld zu geben. Die Ukraine hat nämlich dieses Abkommen mit unterschrieben, also ist es voll rechtskräftig. Nur dachte die Ukraine niemals daran, dem Donbas volle Autonomie zuzugestehen. Die Ukraine erkennt die Separatisten als Verhandlungsführer nicht an und will auch nicht, dass ein Vertreter der Separatisten zum Gouverneur in den abtrünnigen Regionen gewählt wird. Kiew will auch deshalb keine Fortschritte bei der Implementierung des Minsker Abkommens, weil, laut Absprachen mit Deutschland und Frankreich, Fortschritten automatisch ein schrittweiser Abbau von EU-Sanktionen gegen Russland folgen soll. Die Ukraine will aber, dass der Westen die Sanktionen gegen Russland nicht beendet, sondern ständig verschärft. Kiew will, dass die westlichen Sanktionen die russische Wirtschaft so massiv beschädigen, dass Russland die Krim und die Ostukraine ohne Kompromisse an die Ukraine zurückgibt. Übrigens werden die Ukrainer bei diesem Unterfangen von den USA unterstützt. Deutschland und Frankreich haben indessen verstanden, dass man mit harten Sanktionen Russland nicht niederringen kann. Auch ist man in Berlin und Paris inzwischen darüber verstimmt, dass die Ukraine den Konflikt mit Russland ständig als Ausrede dafür benutzt, im eigenen Land keine demokratischen Reformen durchzuführen. Der Majdan war vor sechs Jahren, nur ist die Ukraine in Vielem heute So  unverändert geblieben wie unter dem alten korrupten Regime. Anschließend zu Deutschland und Frankreich: auch diese beiden Garanten des Minsker Prozesses könnten sich mehr anstrengen, die Ostukraine einer andauernden Friedenslösung näher zu bringen. Berlin und Paris müssen in diesem brandgefährlichen Konflikt ehrliche Makler sein, nicht nur die Ukraine stützen. Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine hatte ja eine Vorgeschichte, an der die EU nicht unbeteiligt gewesen ist. Die Ukraine hätte  damals nicht vor die ultimative Entscheidung entweder EU oder Eurasische Wirtschaftsunion gestellt werden müssen. Geopolitisch hat die EU in der Ukraine miserabel gespielt. Die Krim ist jetzt für die Ukraine verloren, wie der Kosovo für die Serben, Bergkarabach für Azerbaijan oder die Golan-Höhen für die Syrer. Aber noch schlimmer wäre ein blutiger, slawischer Krieg im Osten Europa, an deren Ende die NATO in eine militärische Auseinandersetzung mit der Atommacht Russland geraten würde.  

Global Review: Brzezinski schrieb in seinem Buch Chessboard, dass die Ukraine ein hochsensibles Land für Russland ist, sich aber an die EU- und NATO-Mitgliedschaft in der Ukraine gewöhnen würde, zumal dies auch alle Ambitionen zur Bildung einer eurasischen Macht beenden würde. Aber es lief anders.
Die Ukraine und Weißrussland sind ehemalige Sowjetrepubliken, die direkt an Russland grenzen, zumal Russland – anders als die Visegrad-Staaten – auch die Schwarzmeerflotte auf der Krim hat. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob Putin sie als Pufferstaaten oder bestenfalls als Brückenstaaten zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und der EU haben möchte oder nicht beide als Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion. Welche Rolle spielen die Ukraine und Weißrussland für Putin?

Alexander Rahr: Zbig Brzezinski schrieb sein Buch zur globalen Geopolitik direkt nach dem Ende des Kalten Krieges. Das war eine völlig andere Zeit. Das Sowjetimperium, das fast ein halbes Jahrhundert lang die halbe Welt beherrscht hatte, löste sich auf. Die Jalta-Weltordnung wurde durch die Pariser Charta ersetzt. Alle sprachen vom Ende der Geschichte, also vom absoluten und alternativlosen Sieg der liberaler Idee. Die Welt wurde unipolar – mit der Supermacht USA als einziger Gestaltungsmacht auf Erden. Westeuropa und Ostmitteleuropa vereinigten sich, Europa wurde ausschließlich auf der NATO und EU neu aufgebaut, die USA und der Westen wurden zu „Paten“ neuer demokratischer Staaten, sogar auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion. China spielte damals überhaupt keine Rolle. Und Russland überlegte unter Boris Jelzin, ob es nicht auch der NATO und EU beitreten sollte. Als ich im Jahre 2010 mit Brzezinski in Moskau vom Flughafen abgeholt wurde, um zu einem Treffen mit dem damaligen Präsidenten Medwedew zu fahren, fragte ich ihn im Auto nach seiner Weltsicht. Ich hatte den Eindruck, dass er die neue multipolaren Weltordnung – mit einem neuen erstarkten Russland – akzeptierte. Er akzeptierte das Weltbild Samuel Huntigtons von der „ewigen Grenze“ zwischen West-Rom und Ost-Rom in Europa. Das Eurasische Imperium kam, zum großen Ärger des Westens, unter russischer Vormachtstellung wieder zurück. Eine Überraschung war das nicht. Der Westen war in den 1990 er Jahren naiv, wenn er geglaubt hatte, Zentralasien, den Kaukasus und Staaten wir Belarus oder die Ukraine in die NATO so integrieren zu können, wie es mit den Ostmitteleuropäern gelungen war. Dem Westen fehlte dafür letztendlich die Kraft, der politische Wille und auch die Anziehungskraft, die er kurz nach dem Zerfall der UdSSR auf alle Nachfolgestaaten der Sowjetunion, inklusive Russland, noch ausgeübt hatte. Außerdem betrat mit Vladimir Putin ein Politiker die Bühne, der rigoros die nationalen und historischen Interessen Russlands durchsetzen wollte, egal was es koste. Vielleicht hätte der Kollektive Westen so handeln müssen, wie die USA nach dem Zweiten Weltkrieg, und einen gigantischen Marschall Plan für den gesamten Raum von der Oder/Neiße bis zum Pazifik entwickeln sollen. Vielleicht hätte er Russland gleich mit in die NATO holen sollen, dann wäre es niemals zum Ausbruch der alten Feindschaft gekommen. Doch das ist alles Geschichte. Global Review fragt, was Putin mit der Ukraine und Belarus vorhat. Nun, Russland wird mit oder nach Putin die Eurasische Union weiter auszubauen versuchen, wobei nach russischem Selbstverständnis die drei ostslawischen Völker Russen-Ukrainer-Weißrussen in der Eurasischen Union, die idealerweise zu einem Pendant für die EU im Osten werden soll, integriert werden sollen. Zumindest dürften sie niemals unterschiedlichen Militärbündnissen angehören. Ich weiß nicht, wie zukünftige Generationen von Russen, Ukrainern und Weißrussen denken und handeln werden. Aber in den gegenwärtigen postsowjetischen Bevölkerungen in allen drei Ländern finden sich grössere Sympathien für ein solches Zusammenleben, allerdings auf gleichberechtigter Grundlage, nicht auf einem russischen Diktat. Da die EU sich in den kommenden Jahrzehnten eher auf die eigene Konsolidierung als auf weitere Erweiterungen konzentrieren wird, sehe ich für den Werdegang der Eurasische Union keine allzu größeren Barrieren. 


Global Review: Es bleibt unklar, was aus den Protesten in Belarus werden wird. Meiner Meinung nach wird die EU zunächst nur personenbezogene und symbolische Sanktionen verhängen, um Lukatschenko nicht zu sehr in die Arme Russlands zu treiben und den Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern. Gleichzeitig hat es auch einen Konflikt mit Erdogan um Griechenland, der zu einem militärischen Konflikt zwischen den NATO-Staaten Türkei und Griechenland, einer NATO-Krise und im schlimmsten Fall zu neuen Flüchtlingsströmen führen könnte. Interessant ist auch, dass Trump und die EU sich bei den Protesten in Belarus zurückhalten, dass westliche Politiker nicht wie Mc Cain oder Westerwelle in Minsk am Maidan an vorderster Front herumspringen oder der Deutsche Bundestag und die Kanzlerin in der symbolischen Demonstratiosfarbe Orange der ukrainischen Opposition auftritt und Pawlowsche Reflexe Russlands auslöst Während Orban auf der Seite von Putin und Lukaschenko agiert, sind die Agitatoren eher in Polen und den baltischen Staaten zu sehen, die jetzt von den USA aufgewertet wurden, während der Rest der USA Die EU – vor allem Deutschland und Frankreich – wird eine moderatere Mittellinie durchsetzen. Glauben Sie, der Westen hat seine ukrainische Lektion gelernt?

Alexander Rahr: Die Situation in Belarus ändert sich täglich. Große Teile der Bevölkerung sind gegen Alexander Lukaschenko so aufgebracht wie niemals zuvor. Noch nie zuvor in seiner 26jährigen Präsidentschaft hat der Lukaschenkos Stuhl so gewackelt wie heute. Proteste gegen ihn gab es auch früher, was wir heute in Belarus sehen, könnte zum Volksaufstand ausarten. Die Brutalität, mit der Lukaschenko die Proteste auseinander jagen ließ, war nicht zu überbieten. Ich denke nicht, dass die Bevölkerung ihm das jemals verzeiht. Dann muss Lukaschenko künftig entweder seine Armee gegen die eigene Bevölkerung zu Hilfe rufen, oder Eingeständnisse eingehen. Die Revolte gegen Lukaschenko könnte sich nach dem Muster der ukrainischen Revolutionen von 2005 und 2014 ereignen, müsste aber nicht. Am Ende könnte Lukaschenko verjagt werden, oder er würde sich mit Hilfe Russlands nich einige Zeit an der Macht halten können. Belarus ist nicht die Ukraine. Belarus ist ein Militärverbündeter Russlands, der westliche Einfluss auf das Land ist unbedeutend im Vergleich zu dem Russlands. Eine Niederschlagung des „belorussischen Sommers“ wie seinerzeit des „Prager Frühlings“ 1968 sehe ich allerdings nicht. Noch nicht. Ein Sturz des egozentrischen und erratischen Lukaschenko, der für Russland stets ein unberechenbarer Partner war, käme Moskau vielleicht gar nicht so ungelegen. Der Westen soll nicht denken, dass eine Alternative zu Lukaschenko, unbedingt ein pro-westlicher Politiker sein würde. Mitnichten – in der Opposition sitzen Politiker, die genau wissen, dass Belarus ohne Russland wirtschaftlich nicht überleben kann. Und was wäre von der EU an realer Hilfestellung zu erwarten? Viele Weißrussen befürchten einen Ausverkauf ihrer Wirtschaft an reiche westliche Konzerne im Falle der Privatisierung. Was Moskau angeht, so wäre da die rote Linie – wie im Falle der Ukraine – eine NATO-Ausdehnung auf Belarus. Russland wird mit allen Mitteln darum kämpfen, Belarus sicherheitspolitisch nicht in den Westen ziehen zu lassen. Ich hoffe, dass westliche Politiker, die heute die weißrussischen Proteste gegen Lukaschenko befeuern, sich dieser Hypergefahr sehr wohl bewusst sind. Dementsprechend fielen auch die EU-Sanktionen gegen Lukaschenko milde aus. Der Westen will den letzten Diktatur Europas nicht in Putins Arme treiben

Global Review: Trotzdem hat die Bewegung eine eigene Dynamik, die auch unerwünschte Reaktionen von Moskau und Lukaschko auslösen kann: Putin hat jetzt Truppen an die Westgrenze der EU verlegt, Lukaschenko schickte Fallschirmeinheiten gegen die Opposition, während es NATO-Manöverin den baltischen Staaten gibt und zuvor das größte russische Manöver seit dem Ende des Kalten Krieges abgehalten wurde. Trump scheint sich (noch) zurückzuhalten, während Pompeo auf seiner Europatour härtere Töne anschlug und mit der EU sprechen möchte. Welche Rolle werden Ihrer Meinung nach die USA und die EU in diesem Szenario spielen?

Alexander Rahr: Die USA sind so sehr in internen Streitigkeiten und im Wahlkampf verstrickt, dass sie sich um das Problem Belarus nicht kümmern wollen. Sie wissen, dass sie in Belarus geopolitisch kaum etwas gewinnen können. An den westlichen Sanktionen gegen Lukaschenko werden sie sich natürlich beteiligen. Falls die Amerikaner aber sehen, dass sie über Belarus eine Chance bekommen, Russland geopolitisch zu schwächen, werden sie diese ergreifen. Die USA werden auch den Balten den Rücken stärken, die innerhalb der EU auf eine harte Gangart gegenüber Belarus pochen. Der Westen wird Russland warnen, sich nicht in die inneren Angelegenheiten von Belarus einzumischen. Russland wird sich diese Warnung nicht zueigen machen. Die Manöver der NATO und Russlands entlang der weißrussischen West – bzw. Ostgrenze haben natürlich das Ziel, Öl ins Feuer zu gießen. Ich hoffe, alle Seiten verhalten sich den Umständen entsprechend vernünftig. Ich finde, Druck auf Lukaschenko Menschenrechte zu achten, muss aufgebaut werden. Gleichzeitig müssen die Balten und die Polen, die sich schon als Frontstaaten in der Auseinandersetzung mit Russland sehen, zurückgepfiffen werden. Das Problem Belarus lässt sich auf diplomatischem Weg lösen.  



Global Review: Die Demonstrationen gehen weiter, das Interessante ist, dass die Arbeiter jetzt mit Streik drohen. Könnte diese Arbeiterbewegung eine belarussische Solidarnosc werden? Was würde ein Generalstreik bringen? Oder kann Lukaschenkow, der jetzt Fabriken besuchen und mit den Arbeitern sprechen will, sie davon überzeugen, dass ein Streik oder sogar ein Generalstreik zum Zusammenbruch der von Covid geschädigten Wirtschaft führen könnte und daher nicht in ihrem eigenen und im nationalen Interesse wäre? Lukaschenko willigt nicht ein, Neuwahlen abzuhalten. Es ist fraglich, welche Perspektive die Opposition mit ihren Demonstrationen hat. Hofft die Opposition, dass das Militär die Seiten wechselt? Ist das realistisch? Wäre ein belarussischer Jaruzelski denkbar? Vielleicht mit einem runden Tisch oder ist die Situation in Belarus anders als in Polen? Oder würde Lukascheko selbst an einer solchen Entwicklung antizipieren und das Kriegsrecht verhängen?

Alexander Rahr: Lukaschenko steht mit dem Rücken zur Wand. Davon ist er zutiefst überrascht. Er kann es nicht fassen. Er glaubte all die 26 Jahre als er Präsident war, dass die absolute Mehrheit seiner „Untertanen“ ihm in allem folgte. Von seiner Weltsicht ist er ein Sozialistischer Monarchist. Nun verliert er jeglichen Realitätssinn. Der autoritäre Herrscher begreift sein Volk und das Land als sein Eigentum. So herrschten Könige im Mittelalter, aber nicht heute in Europa. Lukaschenko hat sein  Volk verloren. Die Frage ist, wie lange seine Kamarilla zu ihm hält. Dort gibt es übrigens auch vernünftige Leute, wie den Außenminister Vladimir Makai. Lukaschenko versucht jetzt eine Verfassungsreform anzustoßen, die Macht zu teilen – um politisch zu überleben. Langsam dämmert es ihm, dass er im Falle seines Abgangs vor dem Tribunal landen könnte. Er verspricht das Parlament zu stärken, alternative Parteien akzeptieren. Doch die Nerven liegen blank. In seiner Umgebung fürchten alle um ihre Karrieren. Lukaschenko vernimmt Ratschläge, alles hinzuschmeissen und Putins Vorschlag der Wiedervereinigung mit Russland anzunehmen. Aber wie werden sich die Weißrussen in einem solchen Fall verhalten? Wird die Rebellion noch größer? Eher stünde das Land vor einer Spaltung. Jedenfalls kommt Lukaschenko, wenn er seine Haut retten will, an einem runden Tisch mit der Opposition und Zivilgesellschaft nicht herum. Was er machen kann, ist westlichen Einfluss von diesem runden Tisch fernzuhalten, ansonsten – das weiß er – droht ihm das Schicksal von Jamukowitsch. Als Mediatoren im Konflikt müssen auch keine voreingenommenen Balten und Polen auftreten, denn sie befeuern nur den Sturz Lukaschenkos. Vielmehr sollte ein neutrales Land wie Moldau, das ähnliche Probleme wie Belarus hat, die Vermittlung übernehmen. Jedenfalls sollte eine Wiederholung der Entwicklung in Kiew im Jahre 2014 vermieden werden, als die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens in Kiew während der Maidan-Revolution vermittelten und Neuwahlen mit dem Präsidenten Janukowitsch und der Opposition aushandelten, aber Janukowitsch in der gleichen Nacht einem Staatsstreich zum Opfer fiel. 



Global Review: Und wie könnte Putin reagieren? Erlaubt Lukaschenko ihm, russische Truppen oder grüne Männer in Belarus einzusetzen, oder vertraut er Putin nicht, da dies für ihn zu gefährlich wäre? Gilt für Weißrussland eine Art neue Breschnew-Doktrin für Russland, vielleicht wenn die Notrufe der Brüder der Slawischen Union im Notfall Moskau erreichen? Oder würde Putin lieber hybride Kriegsführung und subtile Mittel einsetzen, da er befürchtet, dass Russland in einen Sumpf versinken könnte, wenn er eingreift? Lukaschenko hat trotz Putins Aufruf weiterhin seine Bereitschaft signalisiert, mit der EU zu sprechen. Kann er weiterhin ein strategisches Gleichgewicht zwischen der EU und Russland herstellen, wie er es in den letzten Jahrzehnten getan hat, oder funktioniert es nicht mehr so wie früher?

Alexander Rahr: Putin weiß, dass er die Menschen in Weißrussland nicht verlieren darf. Er darf deshalb nicht einseitig für Lukaschenko Partei ergreifen. Andererseits traut Putin dem Westen nicht. Er weiß, wie der Westen seine Gegner überrumpelt. Wenn man als Westler heute mit Vertretern der russischen Elite über Belarus spricht, wird man mit dem Vorwurf der Doppelmoral konfrontiert. Warum beschwere sich Merkel über die Zerschlagung der Demos in Belarus, nicht aber über die Brutalität der französischen Polizei bei der Auflösung der Proteste der Gelbwesten? Warum stand Spanien wegen der Gewalt gegen Demonstranten in Katalonien nicht am Pranger? Wie kann es ein, dass die EU ständig Wahlbeobachter für Belarus fordert, aber selbst keine Wahlbeobachter aus Russland und Belarus zu eigenen Wahlen einlädt? Warum erlaubt sich der Westen die belorussische Oppositionskandidatin Swetlana Tichanovskaja als Wahlsiegerin auszurufen und Lukaschenko den Sieg abzuerkennen? Was wäre, wenn die Eurasische Union eine Wahl in einem EU Land für illegitim erklärt und einen Nationalpopulisten dort unterstützt? Warum wird Russland der vermeintlichen Einmischung in Wahlen in der EU kritisiert und sanktioniert – und der Westen erlaubt es sich, an den belorussischen Wahlen herumzudocktern?  Auch Putin ist es leid, dass der Westen sich als Vertreter der größeren Moral ansieht und sich zum Beschützer liberaler Kräfte in den ehemaligen Sowjetrepubliken aufschwingt. Westliche Politiker versuchen, Putin die Realität zu erklären: das Sowjetregime war totalitär, das westliche brachte Freiheit. Die UdSSR hat verloren, der Westen gewonnen. Alle Menschen von Lissabon bis Vladivostok müssen in Freiheit leben, so steht es in der Pariser Charta, die vor 30 Jahren von allen Staaten der OSZE unterschrieben wurde. Dieses Gesetz ist verbindlich für alle, deshalb habe der liberale Westen das Recht, sich gegen Diktaturen zu behaupten, einzuschreiten, wo Menschenrechte mit Füssen getreten werden. Putin nennt diese Haltung westlichen Neokolonialismus. Freiheit sei nicht das höchste Gut. Die Würde des Menschen könne nur in einem gut funktionierenden Staatswesen geschützt werden. Der vermeintlichen moralischen Stärke des Westens wird Putin die militärische Stärke Russlands entgegensetzen. 

Global Review: Die jüngere Generation in Belarus scheint proeuropäisch zu sein und mag Lukaschenko nicht. Ist ein Bürgerkrieg in Belarus wie in der Ukraine wahrscheinlich, dass sich Belarus in einen pro-europäischen westlichen Teil und einen pro-russischen östlichen Teil aufteilt?

Alexander Rahr: Die jungen BelorussINNen sind in der Tat gegen Lukaschenko, weil er ihre Menschenrechte mit Füssen tritt. Aber es gibt eine schweigende Mehrheit, die nicht unterschätzt werden darf. Das sind die älteren Bevölkerungsgruppen, für die Stabilität und soziale Sicherheit Vorrang vor westlichen liberalen Idealen haben. Einen Nationalismus, wie in der Westukraine, gibt es in ganz Belarus nicht, der pro-polnische Anteil in der belorussischen Gesellschaft gering. Bestrebungen zur EU zu gehören, gibt es in Belarus marginal. Ich denke, der Druck der Strasse ist sehr gross und ohne Abgabe von Teilen seiner Macht wird Lukaschenko nicht überleben. Aber ich sehe keine Gefahr der Spaltung, wie sie in der Ukraine und Moldawien existiert, in einen pro-europäischen und pro-russischen Teil. Doch was ist, wenn Lukaschenko doch seine Macht behält, sich beim Volk entschuldigt und von Russland weitere Unterstützung erhält? Die Frage ist, wie der Westen reagiert. Manche EU Länder haben richtig Appetit auf eine neue farbene Revolution bekommen, sie wittern die einzigartige Chance, Belarus den Russen endlich zu entreissen. Deutschland beteiligt sich bisher nicht an diesem Spiel, Litauen ist voll dabei. Wird der Druck vom Westen auf Lukaschenko (und Russland) zunehmen aus dem Westen, falls Lukaschenko irgendwie doch überlebt. Viele Politiker in Westen wollen den regime-change in Minsk, die Medien schreiben ihn herbei. Was, wenn diese Träume platzen? Wird sich der Westen zurückziehen, oder fängt das geopolitische Gerangel dann erst richtig an – bis es zum neuen heissen Konflikt mit Russland kommt. Merkel versteht das alles und wirkt besonnen. Doch die Ostmitteleuropäer sind es nicht. 

Global Review: Gleichzeitig gehen die Proteste gegen Putin in Chabarowsk weiter. Bisher konnte Putin ein Übergreifen auf den Westen des Urals verhindern, aber er scheint nicht mehr alles unter Kontrolle zu haben und könnte auch befürchten, dass sich das Weißrussland-Virus nach Russland ausbreitet. Wie stabil ist Putins Herrschaft, wenn angesichts fallender Ölpreise und der Covid-Krise?

Alexander Rahr: Sicherlich hat Putin auch mit einem Popularitätsschwund im eigenen Land zu tun. Auch er betrachtet sich, ähnlich wie Lukaschenko und die zentralasiatischen Präsidenten, als Übervater der Nation. Putin ist überzeugt, dass im slawischen, orthodoxen und historisch anders geformten Osten Europas andere Gesetze als im Westen gelten. Wo der westliche Politiker seine Autorität mit Kompromissen mit politischen Gegnern, Machtbalancen, Überredungskunst und Verständnis für die Nöte der Bevölkerung erhalten muss, gilt für einen osteuropäischen Herrscher die Devise, ja keine Schwäche zu zeigen, denn Schwäche würde sofort zum Autoritätsverlust in den Augen der Bevölkerung führen. Im „anderen Europa“ des Ostens wird es, weil es dort niemals Aufklärung wie im Westen gegeben hat, keine liberale Demokratie geben. Jedenfalls nicht in nächster Zeit. Auch Politiker, die unter liberaler Fahne dort die Macht erringen – siehe die Beispiele in der Ukraine oder in Russland unter Jelzin – verhalten sich später alles andere als demokratisch. Sie sind korrupt, halten nichts von Gewaltenteilung und auch wenig von Pressefreiheit. Die Demonstrationen in Chabarowsk im Fernen Osten sind für Putin deshalb nicht ungefährlich, weil sie nicht unter liberalen Losungen ablaufen. Demokratische Grundwerte sind nicht das, wofür Russen bereit sind, in Massen zu protestieren. In Chabarowsk demonstrieren die Menschen für einen abgesetzten Gouverneur, der gegen Korruption vorgegangen war. Dieser Gouverneur ist übrigens Führungsmitglied der Ultranationalistischen Partei von Vladimir Schirinowski . Dabei war dieser Gouverneur früher ein zwielichtiger Unternehmer, dem jetzt Morde gegen seine Konkurrenten zur Last gelegt werden. Aber Skelette im Schrank finden sich heutzutage bei allen russischen Entscheidungsträgern, die in den 1990er Jahren, als Russland teilweise von der Mafia beherrscht wurde, aktiv gewesen sind. Wenn wir die Situation in Chabarowsk genau anschauen, dann stellen wir fest, dass eine mögliche politische Alternative zu Putin nicht im demokratischen, sondern im nationalistischen Lager liegt. Das sind nun mal die Gesetze und Regeln im Osten Europas, ob der westliche Beobachter das versteht oder nicht. Recht und Ordnung liegt einem Großteil der Bevölkerung näher am Herzen, als Freiheit und individuelle Selbstverwirklichung. Wir müssen gar nicht nach Belarus und Russland gehen, um das zu sehen. Der Blick nach Ungarn, Polen, Serbien, Bulgarien und Rumänien wäre hilfreich zum allgemeinen Verständnis. 

Global Review: Erdogan treibt sein Neo-Osmanisches Reich in Nordsyrien, Lybien, Sudan, im Kaukasus und in Zentralasien voran. Erdogan macht Fortschritte beim Aufbau seines neo-osmanischen Reiches. Die Liste ist lang: Nachdem er Muslimbrüder überall im Nahen und Mittleren Osten unterstützt und islamistische Mordmilizen von Syrien bis Libyen ausgerüstet hat, ist er teilweise für diese Bürgerkriege und Flüchtlingsströme verantwortlich und porträtiert sich jetzt scheinheilig als Retter von Flüchtlingen und Menschenrechten. und bringt die EU durch das Flüchtlingsabkommen zum Schweigen, das er nun auf Libyen ausweiten will. Nachdem er eine Militärbasis im Sudan errichtet hatte, jetzt nach Nordsyrien marschierte und türkische Truppen nach Libyen verlegte und seine Ansprüche auf Gasvorkommen im Mittelmeerraum und in letzterem als sein Mare Nostrum ansah, baute er einen zweiten Bosporus-Kanal und verweigerte NATO-Schiffen die Durchfahrt Trotz aller NATO-Proteste kauft er S 400 -Raketen aus Russland sowie russische Atomkraftwerke und sich mit Putin als neue Regulierungskraft in der MENA-Region verstehen, greift jetzt nach Pakistan, den Kaukasus und Zentralasien. Wir könnten wahrscheinlich zwei islamistische Gürtel haben. eine von der Sahelzone nach Nigeria bis nach Somalia mit dem Islamischen Staat, der Boko Haram und Al Shabab und einen zweiten Gürtel von Nordafrika nach Syrien und Jordanien mit von Erdogan unterstützten Muslimbrüdern und der FIS in Algerien. Das Beste wäre, wenn sie sich gegenseitig bekämpfen würden. Ob Saudi-Arabien, Ägypten und Pakistan stabil bleiben würden, bleibt abzuwarten. Das Ganze wird auch von Palästina und Jerusalem angetrieben. Und es gibt auch den US-iranischen Konflikt an der Spitze, und es bleibt abzuwarten, ob die PLO noch die Macht behalten kann und nicht von der Hamas oder noch radikaleren Kräften übernommen wird. Glauben Sie, dass Russland sich mit Erdogan verbünden wird und Einflussphäen mit ihm in diesen Regionen vereinbaren kann oder wird Russland mittel- und langfristig in eine Konfrontation mit Erdogan-Türkei geraten? Ist ein Neo-Osmanisches Reich im Interesse Russlands oder des Westens oder der EU oder der USA, vielleicht auch noch nuklearbewaffnet?

Alexander Rahr: Ich mag mich irren, aber mittelfristig sehe ich – anders als die meisten westlichen Experten – Russland und die Türkei als zwei Neo-Großmächte, die eher taktische Bündnispartner als Gegner sind. Russland muss vonseiten der Türkei keinen militärischen Druck auf seine Grenzen befürchten. Die Türkei unterstützt weder den tatarischen Separatismus auf der Krim. Noch unterstützt Erdogan, wie seine Vorgänger, islamistische Rebelken im Nordkaukasus. In der Frage der Kontrolle über die Schwarzmeerregion, stehen Moskau und Ankara sich nahe. Beide wollen keine strategische Präsenz der NATO in ihrem „Binnenmeer“. Die Türkei beteiligt sich nicht an westlichen Sanktionen gegen Russland. Ankara hat de facto Abchasien als Staat anerkannt, denn es investiert dort. Die Türkei ist Teil eines taktischen Bündnisses Moskau-Ankara-Teheran im Nahen und Mittleren Osten. Die Türkei überwirft sich in vielen Fragen mit den USA und der EU – und da die NATO heute Russlands Hauptgegner ist, bringt dies für Russland strategische Vorteile. Russland und die Türkei eint eine Gasallianz in der Schwarzmeerregion, die aber gegenwärtig ruht, weil die Türkei von Russland niedrigere Gaspreise fordert. Moskau und Ankara werden sich in Syrien einigen, letztendlich wird Putin den syrischen Machthaber Assad dazu bringen, ein türkisches Protektorat im Norden des Landes zu akzeptieren. Auch in Libyen ist die Türkei den Russen als aktive Gestaltungsmacht viel lieber als die NATO. Putin und Erdogan haben einen engen Draht zueinander, sie sprechen sich ab, um einen erneuten  Zwischenfall, wie den Abschuss eines russischen Jagdflugzeuges in Syrien, der beide Länder vor eine militärische Auseinandersetzung gestellt hat, zu verhindern.

Global Review: Aserbaidschan und Armenien haben einen Konflikt um eine Region, die die Lebensader für Öl- und Gaspipelines und einen Verkehrsknotenpunkt darstellt. Lukanshenko importierte auch Öl und Gas aus Aserbaidschan, um den hohen russischen Ölpreisen für Weißrussland entgegenzuwirken. Es scheint, dass die Kaukasusregion ein weiterer Hot Spot zwischen Russland und der Türkei wird. Am 29. Juli starteten Aserbaidschan und die Türkei zweiwöchige, gemeinsame Militärübungen unter Beteiligung von Boden- und Luftstreitkräften aus beiden Ländern. Die militärischen Übungen mit Landstreitkräften fanden vom 1. bis 5. August in Baku und Nachitschewan statt. Während die Übungen unter Beteiligung von Militärflugzeugen zwischen dem 29. Juli und dem 10. August in Baku, Nachitschewan, Ganja, Kurdamir und Jewlach stattfanden, sorgten die aserbaidschanisch-türkischen Übungen in Armenien für erhebliche Besorgnis. Der armenische Verteidigungsminister David Tonoyan traf sich mit den Botschaftern Frankreichs und Russlands sowie dem neu ernannten iranischen Gesandten in Eriwan und sagte, seine Regierung werde die geplanten Militärübungen der Türkei und Aserbaidschans überwachen (Asbarez, 29. Juli). Während Tonoyan die militärische Partnerschaft zwischen Armenien und Russland lobte und gemeinsame Militärübungen mit der russischen Armee organisierte, bezeichnete er Aserbaidschans militärische Übungen mit dem türkischen Mitglied der Nordatlantikvertragsorganisation (NATO) als „destabilisierend“ für die Region

https://jamestown.org/program/azerbaijan-turkey-hold-large-scale-military-drills-amidst-escalation-of-tensions-with-armenia/

 Glauben Sie, wir werden den nächsten Konflikt im Kaukasus sehen? Was könnte dies geopolitisch und wirtschaftlich bedeuten?

Alexander Rahr: Das Problem Bergkarabach besteht seit über 30 Jahren. Zum Krieg um diese Region kam es noch vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Russland, als Hauptnachfolgestaat der untergegangenen Sowjetunion, hat die Rolle des übergeordneten Vermittlers bei allen Streitigkeiten auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion übernommen. Natürlich wahrt Russland hier eigene Interessen. Russland ist vor allem daran interessiert, die Ex-Sowjetrepubliken Schritt für Schritt zu einer Re-Integration zu bewegen. Auch will Moskau keine fremden Militärbündnisse auf dem Territorium der untergegangenen Sowjetunion dulden. Was den Bergkarabach-Konflikt angeht, so wird dieser ein typisch eingefrorener Konflikt bleiben. Auf Jahre hinaus. Außer Aserbeidschan ist niemand in der Internationalen Staatengemeinschaft an einer gewaltsamen Wiedereroberung der abtrünnigen Republik interessiert, obwohl die meistem Staaten der internationalen Gemeinschaft, Bergkarabach als völkerrechtlichen Teil Aserbeidaschans betrachten. Aber Armenien, das Schutzpatron der abtrünnigen, heute von Armeniern bewohnten Region ist, hat ebenfalls mächtige Freunde in der westlichen Politik, vor allem in den USA und Frankreich. Im Falle eines türkischen Schulterschlusses mit Azerbaijan, oder eine, etwaigen Militärschlag von Ankara und Baku gegen das armenisch besetzte Gebiet, wird Armenien, das Mitglied des Kollektiven Verteidigungsbündnisses Eurasischer Staaten ist, Moskau um Hilfe Ersuchen – und Beistand von der Atommacht bekommen. Aufgrund des weltweit anerkannten Genozid-Vorwurfs gegen das frühere Osmanische Reich, als die Türken vor 100 Jahren ihre armenische Minderheit niedermetzelten, müssen sich die heutigen Türken in einem möglichen Konflikt mit Armenien zurückhalten, um nicht die gesamte Weltöffentlichkeit gegen sich zu haben

Global Review: Eine Zusammenarbeit zwischen den USA, der EU und Russland sollte nicht wertorientiert sein oder auf einer vagen Vorstellung eines gemeinsamen christlichen Erbes beruhen, sondern hauptsächlich auf Interessen. Was sind die Interessen? Klimawandel. Rüstungskontrolle und Frieden, Handel, Covid und der Aufstieg Chinas und Islamismus. Derzeit scheinen Russland und China sehr enge bilaterale Kontakte zwischen den BRICS-Staaten, der SCO und den Energieexporten sowie gemeinsamen Militärmanövern im Pazifik und sogar im Mittelmeer zu haben. Russland nutzt China als Gegengewicht zur westlichen Expansion. Und da der Westen immer noch Sanktionen gegen Russland hat und es damit konfrontiert ist, kann sich niemand eine Situation vorstellen, in der Russland in Zukunft seine Haltung ändern könnte. Die meisten russischen Eliten sind immer noch Europäer, und der russische Stratege Karaganov möchte einen asiatischen Dreh- und Angelpunkt schaffen, da das neue weltwirtschaftliche und geopolitische Zentrum asiatisch und hauptsächlich chinesisch war. Er hofft, dass sich viele Russen im Fernen Osten niederlassen und dieses unterbevölkerte, wirtschaftlich schwache Gebiet wiederbeleben werden glaubt auch, dass proasiatische Eliten das alte proeuropäische Establishment in Moskau ersetzen könnten und dass Russland ein „globaler Lieferant für internationale Sicherheit“ werden könnte, insbesondere als Atommacht, die ein Gleichgewicht zwischen den USA und China herstellen kann. Russland könnte daher eine unabhängige Weltmacht werden, die zwischen den beiden Polen einer kommenden multipolaren Welt balanciert. John Mearsheimer sagt jedoch voraus, dass China militärisch und wirtschaftlich so stark werden wird, dass Russland in Gefahr ist, eine Neokolonie und ein Anhang Chinas zu werden. Da China New Start ablehnt und seine ICBMs erhöhen würde, hatte Russland keine Rolle als nuklearer Balancer zwischen den USA und China. Wirtschaftlich würde China wachsen, aber Russland wird immer abhängiger von China, wenn der Westen seine Politik nicht ändert. Russlands Fernost und Sibirien würden von China besetzt, nicht mit Truppen, sondern mittels wirtschaftlicher Infiltration, und ein weiteres wirtschaftliches und politisches Zentrum gegen Moskau werden. Daher sagt Mearsheimer voraus, dass sich Russlands freundliche Haltung gegenüber China ändern könnte, wenn es eine westliche Alternative dafür gäbe. Mearsheimer sagt voraus, dass Russland drei Möglichkeiten hatte: ein chinesischer Anhang zu werden und sich unter chinesischer Herrschaft zu unterwerfen, neutral zu bleiben und zu versuchen, seine unabhängige Rolle durch strategisches Balancieren zu behalten oder ein Verbündeter des Westens und der USA zu werden, wenn sie dazu bereit wären Russland als Global Player zu akzeptieren. Halten Sie Mearsheimers Prognose für richtig und realistisch?

Alexander Rahr: Erlauben Sie mir einwenig Selbstreklame. In meinem Tatsachenroman „2054: Putin decodiert“ versuche ich die Weltordnung der Mitte des 21. Jahrhunderts zu beschreiben. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass die Welt um 2054 dreigeteilt sein wird. Da gibt es Parallelen zu Orwells Roman 1984. Der Transatlantische Block bleibt bestehen, wenn auch die Beziehungen zwischen den USA und Europa schwächer werden und die NATO bis dahin reformiert wird. Der Block wird sich aber in der Not zusammenraufen, weil andere Teile der Welt in der kommenden multipolaren Weltordnung an Stärke gewinnen und den Westen massiv herausfordern werden. China wird den zweiten globalen Block der Weltordnung anführen und Russland darin integrieren. Russland wird sich gegen eine Kolonisierung durch die Chinesen wehren, aber letztendlich sich unter die zweite Supermacht – China – stellen müssen, denn vom Westen her wird Russland keine strategische Unterstützung erhalten. Die EU wird bedauerlicherweise nicht auf eine Interessen-basierte Russland-Politik umschalten und die gegenwärtige Werte-orientierte Politik gegenüber Moskau weiter verfolgen. Die Führungselite der EU kann einfach nicht anders handeln. Europa wird ohne Not Russland verlieren. Der dritte Block, oder Pol der neuen Weltordnung, wird ein Bündnis islamistischer Staaten von Mali bis Afghanistan sein. Diese Entwicklung erscheint vielen noch sehr utopisch, ich denke aber, dass sie kommt. China und Russland werden – so ähnlich klang es bei Orwell auch im Roman – eine Allianz mit den Orientalen im arabischen Raum eingehen. Jetzt kann sich jeder Politologe seinen Reim auf die kommenden globalen Herausforderungen machen. Die Gefahr eines lokalen Atomkrieges wird unsere nächsten Politikergenerationen viel mehr beschäftigen als heute. Mein Aufruf an Europa: vergessen wir bitte den Ost-West-Konflikt. Belarus ist es nicht wert, einen neuen Kalten Krieg in Europa mit Russland zu beginnen. Die wirklichen Gefahren für uns liegen im Süden. Der Nord-Süd-Komflikt ist längst da und fordert ums heraus. Sehen wir denn nicht, dass Afrika und die arabischen Welt sich im größten Wandel ihrer Geschichte befinden? Wo ist unsere Prävention? Im Nord-Süd-Konflikt Muss Russland auf unserer Seite stehen. Das ist Aufgabe unserer Und der russischen Diplomatie. 

Global Review: Lawrow sagte auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass der Schlüssel zu einer Lösung in der Ukraine und anderen Brennpunkten und Konflikten zwischen dem Westen und Russland keine lokalen Lösungen seien, sondern eine neue internationale Sicherheitsarchitektur in einer multipolaren Welt. Aber wären damit auch die USA der entscheidende Faktor für ein solches Szenario? Welche Entwicklung werden die Beziehungen zwischen den USA und Russland und der EU und Russland haben, wenn Trump oder Biden gewählt werden? Welche Szenarien halten Sie für wahrscheinlich?

Alexander Rahr: Russland möchte die neue multipolaren Weltordnung festschreiben. Die alte Jalta Ordnung von 1945 ist tot. Die Weltordnung, die auf der Pariser Charta basieren sollte, ist ebenfalls am Schwinden. Die multilateralen Institutionen, die uns in den letzten 30 Jahren Frieden und Stabilität gebracht haben, sind unbrauchbar geworden. Viele dieser Institutionen hat Trump zerstört. Putin hat vorgeschlagen, dass sich die Chefs der Ständigen Mitgliedsstaaten des UN Sicherheitsrates treffen und die neue Weltordnung konzipieren. Trump wird, wenn er wiedergewählt wird, dem zustimmen. Der französische Präsident hat zugestimmt. Xi Jinping ist daran interessiert, denn in der neuen Weltordnung will er für sich den Status der Supermacht beanspruchen. Der künftige deutsche Bundeskanzler braucht Einarbeitungszeit in die internationale Materie, aber Deutschland wird sicherlich in der neuen Weltordnung formell einen führenderen Platz einnehmen, als es den heute hat. Die Welt braucht einen neuen Multilateralismus. Die G7 ist veraltet, ohne China und Russland, aber mit Italien und Japan als Mitglieder wirkt sie gelähmt. Die WTO haben die Amerikaner kaputt gemacht, die Globalisierung der Weltwirtschaft weicht einer Regionalisierung. Abrüstung findet gar nicht mehr statt, nicht weil die USA und Russland ihre Waffenarsenale modernisieren, sondern weil China und andere neue Atommächte keine Lust an der Verringerung ihrer nuklearen Kapazität verspüren. Das Pariser Klimaabkommen ist heute für die Zukunft des Planeten wichtiger als atomare Abrüstung, wird aber nur von der EU unterstützt. Über das Ende des Ost-West-Konfliktes und den kommenden Nord-Süd-Konflikt haben wir oben schon gesprochen. Entweder rutschen wir alle weiter ins Chaos und die neue multipolaren Welt wird wieder kriegerisch, wie vor 1945. Oder die Vernunft siegt und die Welt erfährt eine gerechte Neujustierung. Um Letzteres zu erreichen, müssen alle handelnden Akteure bereit sein, Macht abzugeben, nicht nur für sich zu kämpfen. Ich wünsche mir, dass Amerika nicht den Weg des Amerika-First geht, sondern seine Diplomatie in den Dienst einer neuen polyzentristischen Welt stellt, also mit dem nötigen Beispiel vorangeht, dem andere dann folgen. 

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