Interview mit Dr. Gregor Gysi über Russland, Neue Ostpolitik und Belarus:“Die Runden Tische aus der Wendezeit in der DDR könnten ein Muster sein““Es geht nicht darum, aus dem transatlantischen Bündnis ein eurasisches zu machen

Interview mit Dr. Gregor Gysi über Russland, Neue Ostpolitik und Belarus:“Die Runden Tische aus der Wendezeit in der DDR könnten ein Muster sein““Es geht nicht darum, aus dem transatlantischen Bündnis ein eurasisches zu machen

Global Review hatte die Ehre mit Dr. Gregor Gysi, dem aussenpolitischen Sprecher der Linkspartei über Russland, Belarus und eine Neue Ostpolitik ein Interview zu führen.

Foto: (C) Deutscher Bundestag

Dr. Gregor Gysi

Geboren am 16. Januar 1948, Beruf: Rechtsanwalt,
Mitglied der Fraktion in der 16., 17., 18. und 19. Wahlperiode
Berlin, Direktmandat WK 84

Biographie

  • Geboren in Berlin; geschieden, drei Kinder.
  • 1954 bis 1962 Polytechnische Oberschule, 1962 bis 1966 Erweiterte Oberschule. Gleichzeitig Ausbildung zum Facharbeiter für Rinderzucht. 1966 Abitur. 1966 bis 1970 Jurastudium an der Humboldt-Universität Berlin, 1970 bis 1971 Richterassistent, dann Wechsel zum Kollegium der Rechtsanwälte als Assistent. Promotion 1976.
  • Seit 1971 Rechtsanwalt in Berlin; Vorsitzender des Kollegiums der Rechtsanwälte in Berlin und des Rates der Vorsitzenden der Kollegien der Rechtsanwälte in der DDR von 1988 bis 1989. Mitglied in der Gewerkschaft ver.di.
  • Dezember 1989 bis Januar 1993 Vorsitzender der PDS; Mitglied der Volkskammer vom 18. März bis 2. Oktober 1990, Vorsitzender der PDS-Fraktion.
  • Mitglied des Bundestages vom 3. Oktober 1990 bis 1. Februar 2002; 1990 bis 1998 Vorsitzender der Gruppe der PDS; von 1998 bis Oktober 2000 Vorsitzender der PDS-Fraktion.
  • Vom 17. Januar 2002 bis zum Rücktritt am 31. Juli 2002 Berliner Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in einer SPD-PDS Koalition in Berlin.
  • Seit August 2002 wieder als Rechtsanwalt tätig.
  • Am 18. September 2005, 27. September 2009 und 24. September 2017 im Wahlkreis 84 Berlin-Treptow-Köpenick direkt wieder in den Bundestag gewählt.
  • Von 2005 bis 2015 Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Seit 2020 Aussenpolitischer Sprecher der Linkspartei

Global Review: Dr. Gysi, Ihre Partei schlägt mit Russland eine europäische Sicherheitsarchitektur vor. Können Sie uns ein konkreteres Verständnis Ihres Konzepts vermitteln? Sollten die transatlantischen Beziehungen abgeschafft werden, sollten sich Deutschland und andere europäische Staaten aus der NATO zurückziehen oder ein eigenes europäisches Militär aufbauen? Wie sollte Europa sicher sein, wenn es keinen US-Schutz oder US-Atomschirm gegen ein hochbewaffnetes Russland mit Atomwaffen und jetzt neuen Waffensystemen wie Cyberwaffen, Hyperschallwaffen, Weltraumwaffen usw. Gibt?

Dr. Gregor Gysi: Frieden und Sicherheit in Europa gibt es nicht ohne, geschweige denn gegen Russland. Deshalb muss eine europäische Sicherheitsarchitektur zwingend Russland einbeziehen und auf einer Politik der Entspannung und gutnachbarlichen Beziehungen aufbauen. Die NATO sucht nach dem Ende des Kalten Krieges verzweifelt nach neuen Gegnern, die ihr eine Existenzberechtigung geben. Doch wohin hat uns dieser Konfrontationskurs geführt? Das Völkerrecht wird mehr und mehr durch das Recht des Stärkeren ersetzt, ein Waffenkontroll- und Abrüstungsabkommen nach dem anderen wird gekündigt und die Staaten geben unvorstellbare Summen für Rüstung aus, während auf der anderen Seite der Klimawandel voranschreitet, Hunger und Armut das Leben von Milliarden Menschen bedrohen und sich die soziale Kluft weiter vertieft. Das ist eine Sackgasse. Die NATO muss durch ein System kollektiver Sicherheit unter Einbeziehung Russlands und Chinas ersetzt werden. Das ermöglichte einen globalen Abrüstungsimpuls, den unsere Welt dringend braucht. Und würde wirklich für Europas Sicherheit sorgen. Die US-Atomwaffen in Deutschland wären doch im Konfliktfall erstes Zielobjekt für einen Kontrahenten. Da bliebe von Deutschland nicht mehr viel übrig.

Global Review: Die AfD schlägt auch eine europäische Sicherheitsarchitektur vor. Während die Gauland- Fraktion der Meinung ist, dass Deutschland ein NATO-Mitglied bleiben und das Bündnis reformieren sollte, sagt die Höcke-Fraktion auf der anderen Seite, dass das deutsche Militär eine Söldnertruppe der USA ist und dass er die NATO verlassen würde. wo liegen die Unterschiede zwischen der Europäischen Sicherheitsarchitektur der Linkspartei und der AFD? Oder ist es das gleiche?

Dr. Gregor Gysi: Die Unterschiede sind fundamental. Die AfD setzt auf nationalen Egoismus, Die Linke auf internationale Verständigung. Die AfD will dem von Trump bekräftigten NATO-Ziel folgen, dass Deutschland zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für das Militär ausgeben soll, über 75 Milliarden Euro. Die Linke lehnt eine solche sinnlose Vergeudung von Steuermitteln ab. Die AfD hat nicht wirklich kohärente Vorstellungen in der Außen- und Sicherheitspolitik, auch weil sie politisch vor allem versucht, Stimmungen zu bedienen. Da ist Trump ihr Vorbild. Das aber ist keine Basis für eine ernstzunehmende Politik.

Global Review: Putin hielt 2001 seine Rede vor dem Deutschen Bundestag und erklärte: „Niemand zweifelt an dem großen Wert Europas für die Vereinigten Staaten. Ich glaube jedoch, dass Europa seinen Ruf als mächtiges und unabhängiges Zentrum der Weltpolitik langfristig nur dann festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den menschlichen, territorialen und natürlichen Ressourcen Russlands sowie mit dem wirtschaftlichen, kulturellen und Verteidigungspotential Russlands kombiniert. „Ich kann dem einfach zustimmen:“

(Emmanuel Todd: World Power USA – Ein Nachruf / Piper-Verlag, München-Zürich 2002, S.209).

Bedeutet das, dass Putins Aussage, dass er auch das europäische und russische Verteidigungspotential kombinieren wollte, bedeuten würde, dass er die EU-Mitglieder aus der NATO herausholen und ein eurasisches Bündnis mit Russland schließen wollte? Was denken Sie, sind Putins geopolitische Ziele zu dieser Zeit und im Moment und in der Zukunft? Glauben Sie, er hat defensivere oder aggressivere Ambitionen, als er die Auflösung der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe im 20. Jahrhundert“ bezeichnete? Jahrhundert“. Will er die Sowjetunion wiederbeleben oder war sein Krieg in Georgien und der Ukraine nur eine defensive Reaktion gegen die Erweiterung der EU und der NATO?

Dr. Gregor Gysi: Es wäre für Deutschland und Europa sehr hilfreich gewesen, wenn Putins Rede von 2001 ernst genommen worden wäre. Doch der Westen konnte nicht aufhören zu siegen und meinte, Russland zu einer Regionalmacht herabstufen zu können. Einmal abgesehen davon, dass dies gegenüber einer Vetomacht im UN-Sicherheitsrat schon töricht ist, wurde damit die Tür zugeschlagen, nach dem Ende des Kalten Krieges eine wirkliche politische, ökonomische und soziale Alternative für den Kontinent und die internationale Sicherheit zu schaffen. Stattdessen rückte die NATO immer näher an Russlands Grenzen heran, düpierte Russland beim Krieg gegen Libyen auch auf dem internationalen Parkett und versuchte unter Führung der USA, Russlands wirtschaftliche Schwäche in militärische Überlegenheit umzumünzen. Putin hat daraus geschlossen, dass er die geostrategischen Interessen Russlands auch in Konfrontation mit dem Westen offensiv durchsetzen, dafür Russland militärisch ebenbürtig machen und versuchen muss, den Zusammenhalt in NATO und EU zu schwächen. Das ist ihm, teilweise zur Überraschung des Westens, gelungen. Auf jeden Fall lässt er Russlands Einfluss nicht weiter reduzieren. Nun steht die Welt vor der Frage, ob sich daraus eine Neuauflage des Kalten Krieges entwickelt, wie es momentan erscheint, oder ob man sich daran erinnert, wohin dieser geführt hat, und zu einer Politik zurückkehrt, die die Interessen der unterschiedlichen Seiten berücksichtigt.

Global Review: Wie würden Sie eine EU- oder deutsch-russische Zusammenarbeit legitimieren? Wegen gemeinsamer Interessen wie Weltfrieden, Niedergang der USA, Aufstieg Chinas, eskalierendem chinesisch-amerikanischen Konflikt, Islamismus, Covid und Klimawandel? Was ist mit den Menschenrechten?

Dr. Gregor Gysi : Es geht nicht darum, aus dem transatlantischen Bündnis ein eurasisches zu machen, sondern darum den nationalen Egoismus insgesamt zu überwinden. Wenn US-Präsident Trump nicht einmal vor Sanktionen gegen Verbündete zurückschreckt, um die Nordstream-Gaspipeline aus wirtschaftlichen Motiven zu verhindern und damit einen Markt für US-Flüssiggas zu eröffnen, das unter ökologisch bedenklichen Umständen gefördert wird, ist ersichtlich, wohin nationaler Egoismus führt.

Die wirklichen Weltprobleme Klimawandel, soziale Ungleichheit, friedliche Lösung der internationalen Konfliktherde betreffen die ganze Menschheit und lassen sich nicht auf Kosten eines Teils davon lösen. Insofern wäre eine europäische und deutsche Zusammenarbeit mit Russland ein Schritt auf dem Weg, diesen nationalen Egoismus zu überwinden. Dazu muss, ja darf man die transatlantischen Beziehungen nicht aufgeben, denn Europa und Deutschland könnten viel dazu beitragen, das Verhältnis zwischen den USA, Russland und China zu entspannen.

Um die demokratischen und Freiheitsrechte stand es in Zeiten der Systemkonfrontation in der Sowjetunion schlechter als heute, dennoch kam man zu belastbaren Vereinbarungen und wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Veränderungen auf diesem Gebiet wurden durch eine Strategie erreicht, die Egon Bahr als „Wandel durch Annäherung“ beschrieben hatte. Mir will es nicht in den Kopf, warum der Westen heute meint, dass er mit Sanktionen und Konfrontation mehr erreichen kann.

Global Review: Wie würden Sie die folgende Idee einer Neuen Ostpolitik – Prävention eines neuen Wettrüstens – kommentieren?

1) Deutschland arbeitet innerhalb der EU und der NATO daran, dass die Ukraine und Weißrussland einen mit Österreich in der Nachkriegszeit vergleichbaren neutralen Status erhalten und als Brückenstaaten zwischen der Eurasischen Union und der EU dienen

2) Deutschland arbeitet innerhalb der EU, der NATO und der Ukraine daran, dass Russland unabhängig von den jeweiligen ukrainischen Regierungen seinen Schwarzmeerhafen auf der Krim garantiert wird und im Gegensatz dazu die Annexion der Krim rückgängig macht und die Unterstützung für den pro-russischen Rebellen in der Ostukraine einstellt. Der erste Schritt: Einhaltung des Minsker Abkommens

3) Abrüstungsinitiative Deutschland arbeitet innerhalb der EU, der Vereinten Nationen und der NATO daran, dass sowohl Russland als auch die NATO ein Wettrüsten verhindern und / oder die früheren Verträge über konventionelle und nukleare Beschränkungen neu verhandeln – unter Einbeziehung von Cyberspace und Weltraum und möglicherweise China .

4) Wiederaufnahme der Modernisierungspartnerschaft, insbesondere der wirtschaftlichen Verhandlungen über das langfristige Ziel einer Freihandelszone oder eines gemeinsamen Marktes von Lissabon bis Wladiwostok

5) Eine ökologische Zusammenarbeit zwischen der EU und Russland für ein nachhaltiges Eurasien, Dekarbonisierung in einer strategischen Übergangsphase, Wasserstofftechnologie, Gas als Brückentechnologie, Abwassermanagement, Begrenzung der Abholzung der sibirischen Wälder und andere Bereiche der Zusammenarbeit.

6) EU-russische Zusammenarbeit gegen eine Eskalation des chinesisch-amerikanischen Konflikts

Russland und die EU versuchen, neutral zu bleiben oder ein strategisches Gleichgewicht zwischen den beiden eskalierenden neuen Weltmächten herzustellen und einen Konflikt durch neue Initiativen zu deeskalieren.

7) Eine gemeinsame Initiative für eine internationale Koalition gegen Pandemien und die Umstrukturierung der WHO

8) Eine Einheitsfront gegen den Islamismus des Westens, der EU, Russlands, Indiens und einiger anderer Staaten

Dr. Gregor Gysi: Entscheidend ist Vertrauen herzustellen und das Völkerrecht wieder zur Basis der internationalen Beziehungen zu machen. Die NATO hat die völkerrechtswidrige Lostrennung des Kosovo von Rest-Jugoslawien ermöglicht und damit den Präzedenzfall geschaffen, der aber ebensowenig wieder rückgängig zu machen ist wie die Annexion der Krim durch Russland. Aber man sollte vielleicht über eine wie immer geartete Kompensation verhandeln.

Neues Vertrauen wäre durch eine Rücknahme der Sanktionen zu erreichen, wenn nötig Schritt für Schritt. Nur so wird man wieder Bewegung in die internationalen Beziehungen bringen – sowohl für gemeinsame und vor allem friedliche Lösungen der Konflikte als auch für Abrüstungsverhandlungen.

Sanktionen sind auch zum entscheidenden Hemmnis für gedeihliche wirtschaftliche Beziehungen geworden. Die Erfahrung der letzten Jahre lehrt doch, dass man damit nichts erreicht.

Der Gedanke einer Einheitsfront gegen den Islamismus geht von den gleichen falschen Voraussetzungen aus, die derzeit die internationale Politik bestimmen. Extremismus knüpft meist an Erfahrungen von Zurücksetzung und Ablehnung an. Dies würde dadurch noch verstärkt. Auch hier käme es darauf an, ökonomische, ökologische, soziale Perspektiven zu bieten.

Global Review: Würde die Linkspartei die Idee einer europäischen Seidenstraße Marco Polo 2.0 unterstützen, ein riesiges analoges und digitales Infrastrukturprojekt, das Europa verbindet, Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum schafft, der EU , ihren Bürgern und arbeitslosen Jugendlichen eine konkrete Lösung, Vision und Projekt gibt und das europäische Wohlstandsversprechens wiederbelebt und den chinesischen Einfluss in den 16 plus 1 Staaten zurückdrängt?

Dr. Gregor Gysi :Wie man es nennt, ist nicht entscheidend, aber zweifellos braucht Europa eine solche öffentliche Investitionsoffensive. Dabei kann und sollte man auch mit China kooperieren. Wir müssen raus aus dem Denken, dass wirtschaftliche Prosperität und soziale Wohlfahrt mit nationaler oder regionaler Abgrenzung verbunden sind.

Global Review: Die USA, Israel und China sind die führenden High-Tech-Mächte, während die EU bei nahezu jeder wichtigen disruptiven Technologie hinterherhinkt. Joschka Fischer spricht in seinem neuen Buch „Willkommen im 21. Jahrhundert“ diese technologische Kluft an, die die künftige Hierarchie der Weltmächte bestimmen wird, und fordert eine europäische Initiative zur Überwindung dieser drohenden technologischen Kluft. Andernfalls würde die EU absteigen. Helmut Kohls Sohn Walther Kohl hat gerade ein Buch „Welche Zukunft wollen wir?“geschrieben, in dem er vorschlägt, dass Deutschland einen riesigen Hitech-Fonds initiieren soll, keinen staatlichen Fonds wie Norwegen, sondern einen privat verwalteten Investmentfonds in Zusammenarbeit mit dem Staat für Hi-Tech und Start-ups, die die Billionen von europäischen Ersparnissen und totem Kapital , die durch die Nullzinspolitik der EZB entwertet werden in innovative neue Branchen und disruptive Technologien wie Quantencomputer, Block-Chain-Technologie usw. kanalisiert. Hält die Linkspartei dies für einen konstruktiven Vorschlag?

Dr. Gregor Gysi: Das Problem solcher Überlegungen ist, dass die Profite und – fast noch wichtiger – die technologischen Ergebnisse solcher Entwicklungen den Eigentümern des privaten Kapitals gehören. Hier müsste also klar geregelt werden, dass die entwickelten Technologien dann nicht von einzelnen verwertet werden können, sondern allen zugänglich gemacht werden müssen. Das wäre der Preis für eine staatlich garantierte Rendite, mit der man privates Kapital mobilisiert. Wenn ich mir anschaue, wie zurückhaltend gerade die Bundesregierung ihre Einflussmöglichkeiten nutzt, die durch die 9-Milliarden-Unterstützung für die Lufthansa eigentlich bestünden, fehlt mir die politische Fantasie, dass ein solches Herangehen mit einem CDU-Wirtschaftsminister umzusetzen sein soll.

Global Review: Die Demonstrationen in Belarus gehen weiter. Interessant ist, dass die Arbeiter jetzt mit Streik drohen. Könnte diese Arbeiterbewegung eine belarussische Solidarnosc werden? Was würde ein Generalstreik bringen? Oder kann Lukaschenkow, der jetzt Fabriken besuchen und mit den Arbeitern sprechen will, sie davon überzeugen, dass ein Streik oder sogar ein Generalstreik zum Zusammenbruch der von Covid geschädigten Wirtschaft führen könnte und daher nicht in ihrem eigenen und im nationalen Interesse wäre? Lukaschenko willigt nicht ein, Neuwahlen abzuhalten. Es ist fraglich, welche Perspektive die Opposition mit ihren Demonstrationen hat. Hoffe es, dass das Militär die Seite wechselt? Ist das realistisch? Wäre ein belarussischer Jaruzelski denkbar? Vielleicht in einer Reihe mit einem runden Tisch oder ist die Situation in Belarus anders als in Polen? Oder würde Lukaschenko selbst eine solche Entwicklung antizipieren und das Kriegsrecht verhängen? Sollten Deutschland und die EU die demokratische Bewegung in Belarus unterstützen? Besteht nicht die Gefahr, dass wir eine ähnliche russische Reaktion wie in der Ukraine sehen, dass ein Bürgerkrieg ausbricht und Weißrussland in einen pro-europäischen westlichen und einen pro-russischen östlichen Teil mit einem eingefrorenen Konflikt aufgeteilt wird? Was ist die politische Position der Linkspartei?

Dr. Gregor Gysi: In Belarus soll es bei den Präsidentschaftswahlen Wahlfälschungen gegeben haben und die Bedingungen für faire und demokratische Wahlen wurden nicht erfüllt. Bei allen autoritären Regimen entsteht irgendwann der Druck aus der Bevölkerung, zur Demokratie zu wechseln. Eine immer größere Zahl von Menschen in Belarus will den Wechsel und demonstriert friedlich. Inzwischen hat die Bewegung auch viele Betriebe erfasst, auch Funktionsträger des Staates reihen sich ein. Lukaschenko hat zwar versucht, sich der Unterstützung Russlands zu versichern, aber Putin hat klar signalisiert, dass er nur einzugreifen gewillt ist, wenn von dritter Seite von außen versucht würde, in Belarus auf welche Art auch immer zu intervenieren. Der Westen wäre also gut beraten, auf eine direkte oder indirekte Intervention zu verzichten, wenn er Verhältnisse wie in der Ukraine ausschließen will. Angesichts der Breite der Protestbewegung steht Lukaschenko vor der Frage, ob er seine Macht mit Gewalt zu sichern versucht, wie es anfangs schien, oder ob er im Interesse des Landes den Weg zu Neuwahlen frei macht. Es hat wenig Sinn, sich auf ein Wahlergebnis zu berufen, dass derart stark angezweifelt wird und unter fragwürdigen Bedingungen zustande kam. Die Runden Tische aus der Wendezeit in der DDR könnten ein Muster sein, wie man diesen Weg in einem breiten demokratischen Prozess beschreiten kann. Neuwahlen, gegebenenfalls mit Unterstützung und Kontrolle der OSZE, sind meines Erachtens der einzig demokratische und friedliche Ausweg aus der entstandenen Situation. Deren Ergebnis muss dann allerdings von allen Seiten akzeptiert werden. Von Sanktionsdrohungen und –entscheidungen kann ich nur abraten. Sie treffen meist nicht die Regierenden, sondern die Bevölkerung.

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