Interview mit Dr. Treiber über die Lage am Horn von Afrika, Äthiopien und Eritrea: „GERD ist ein nationales und nationalistisches Projekt“

Interview mit Dr. Treiber über die Lage am Horn von Afrika, Äthiopien und Eritrea: „GERD ist ein nationales und nationalistisches Projekt“

Global Review hatte die Ehre mit Dr. Magnus Treiber ein Interview über die Lage am Horn von Afrika, Äthiopien und Eritrea zu führen.

Prof. Dr. Magnus Treiber

Dr. Magnus Treiber ist Professor für Anthropologie an der LMU München. Nach seiner Doktorarbeit über das städtische Leben der Jugend in Asmara 2001-2005 hat er umfangreiche Forschungen mit eritreischen Flüchtlingen durchgeführt und seine Doktorarbeit über Migration aus Eritrea veröffentlicht (Migration aus Eritrea, Berlin: Reimer 2017). Er hat an den Universitäten München, Bayreuth und Addis Abeba unterrichtet.

Global Review: Dr. Treiber, können Sie uns eine kurze Geschichte von Äthiopien und Eritrea nach dem Sturz des von der Sowjetunion unterstützten Diktators Mengistu Haile Mariam geben? Wer waren die treibenden politischen Kräfte und politischen oder ethnischen Gruppen, aus denen die neuen Staaten bestehen, und was hat sich politisch, wirtschaftlich und kulturell verändert?

Dr.Magnus Treiber: Das äthiopische Militärregime, das 1974 aus der Revolution gegen Kaiser Haile Selassie hervorging, brach aus mehreren Gründen zusammen. Aufstände in der vernachlässigten Peripherie des Landes schwächten die Kräfte der Zentralregierung. Nachdem Gorbatschows Sowjetunion die weitere Unterstützung verweigert hatte, mussten große Gebiete, einschließlich der gesamten nördlichen Provinz Tigray, buchstäblich aufgegeben werden. 1991 einigten sich mehrere äthiopische Guerilla-Fronten auf die Bildung einer neuen Regierungskoalition, die die Dezentralisierung und die weitreichende Autonomie der Provinzen propagierte. In dieser Revolutionären Demokratischen Volksfront Äthiopiens (EPRDF) übernahm die Tigray Volksbefreiungsfront (TPLF) – anfangs eine bloße Bauernguerilla – die Führung unter dem klugen und politisch geeigneten Meles Zenawi. Die siegreiche Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) unterstützte die Machtergreifung der TPLF in Äthiopien, bestand jedoch auf Eritreas Unabhängigkeit – da das koloniale Eritrea erst 1951 Teil des modernen Äthiopien wurde und 1961 besetzt wurde. Beide dominierten die Streitkräfte. TPLF / EPRDF und EPLF zielten auf autokratische Herrschaft ab und überlebten im Wesentlichen durch Unterdrückung oppositioneller Stimmen.


Global Review: Welches sind die wichtigsten Parteien in Äthiopien und wie sehr stützen sie sich auf ein gemeinsames politisches Programm oder mehr auf ethnische Zugehörigkeit oder Stammestreue? Sind die äthiopischen politischen Parteien mit westlichen Parteien vergleichbar oder gibt es Unterschiede? Gibt es mehr linke und mehr rechte Parteien? Gibt es einen stabilen nationalen Konsens oder das Bewusstsein, eine Nation und Nationalität zu sein?

Dr.Magnus Treiber: Ich bin mir nicht sicher, ob die Kategorien rechts und links viel zum Verständnis der politischen und historischen Komplexität beitragen. Äthiopien, nominell eine Demokratie, erlaubte im Rahmen des EPRDF Oppositionsparteien, diese wurden jedoch immer streng kontrolliert und erhielten keinen gleichberechtigten Zugang zu Medien und öffentlichen Mitteln. Darüber hinaus scheinen die meisten Wahlen seit Mitte der neunziger Jahre manipuliert worden zu sein. Am wichtigsten war die Niederschlagung der Proteste nach den Wahlen von 2005, bei denen zwei Oppositionsbündnisse offenbar die Mehrheit der Sitze im nationalen Parlament sowie alle Sitze im Provinzparlament der Hauptstadt Addis Abeba gewonnen hatten. Die Regierungspartei hatte einen klaren Sieg erwartet, jetzt mussten die Stimmen „neu gezählt“ werden. Aber auch die Doktrin des Staates änderte sich vom ethnischen Föderalismus – Ermächtigung der Peripherie – hin zu einer bewussten Entwicklungsideologie (developmentalism) der Dritten Welt. Der Grand Ethiopian Renaissance Dam ist nur das sichtbarste und prestigeträchtigste Projekt in der damals propagierten Transformation von Land und Gesellschaft zu einer modernen Nation, die auf Industrie, landwirtschaftlicher Produktion in großem Maßstab und mittlerem Einkommen basiert. Interessanterweise geht diese Modernisierung auf das 19. Jahrhundert zurück. Der ethnische Föderalismus, der das Land formell in neun Regionalstaaten und zwei unabhängige Städte aufteilt, wurde in der neuen Verfassung des Landes von 1995 festgelegt und veränderte tatsächlich die politische Landschaft des Landes. Das neue politische System gewährte ethnisch begründeten Regional- und Bezirksregierungen eine gewisse Autonomie, hielt jedoch die jeweiligen lokalen Parteien stark abhängig. Äthiopiens politische Parteien und – häufiger – Parteikoalitionen haben Namen und Zusammensetzung ständig geändert, insbesondere seit Abiy Ahmed 2018 Premierminister wurde. Politische Positionen und Parteien spiegeln jedoch häufig Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie wider. Die neue Wohlstandspartei (Prosperity Party) von Abiy Ahmed, die die Nachfolge der aufgelösten EPRDF antritt, steht eindeutig für eine neue zentralistische Perspektive, während die TPLF, die sich jahrzehntelang in der nationalen und internationalen Politik engagierte, erneut auf eine regionale Partei reduziert wurde.


Global Review: Wie hat sich die eritreische Unabhängigkeit entwickelt und war die eritreische Regierung Anhänger des Maoismus, zumal sie Entwicklungshilfe ablehnte, auf die eigenen Kräfte setzte und Autarkie anstrebte? Das politische System und die Entwicklungsstrategie Eritreas scheinen sich von denen Äthiopiens zu unterscheiden. Was waren die Ursachen für die äthiopisch-eritreischen Kriege? War es auch ein Stellvertreterkrieg ausländischer Mächte um die Kontrolle des Horns von Afrika oder eher ein einheimischer interner Konflikt?

Dr.Magnus Treiber: Eritrea wird seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1993 von demselben Präsidenten, dem ehemaligen EPLF-Führer Isayas Afewerki, regiert. Interne Kritiker, allesamt hochrangige Mitglieder der politischen Elite, wurden 2001  – kurz nach dem äthiopisch-eritreischen Grenzkrieg entfernt. Dies führte das Land von einem autokratischen Guerilla-Regime in eine offene Diktatur. Seitdem wurden alle Versprechen von Entwicklung und zukünftigem Wohlstand enttäuscht. Das formelleF riedensabkommen mit dem benachbarten Äthiopien änderte nichts an Verarmung, Willkürherrschaft und Perspektivlosigkeit für die junge Generation. In der Tat hat die EPLF ein maoistisches Erbe, da Isayas Afewerki in Nanjing eine politische und militärische Ausbildung erhalten hat. Der Maoismus als ideologischer Hintergrund trug dazu bei, eine sehr vielfältige Bevölkerung zu integrieren und in den Jahren des Kampfes und auch nach der Unabhängigkeit eine neue Nation heranzubilden. Er trug jedoch auch dazu bei, Kritiker als Verräter zu bezeichnen, und zerstörte Eritreas demokratische politische Kultur der 1950er Jahre. Der Grenzkrieg von 1998 betraf hauptsächlich die politische und wirtschaftliche Hegemonie in der Region. Die eritreische Regierung übersah jedoch, dass die TPLF, ehemals der schwierige Juniorpartner der EPLF, nun das wichtigste Land am Horn von Afrika regierte und daher alle internationale Unterstützung erhielt. Eritrea wurde unbedeutend – bis seine Flüchtlinge in Massen das Mittelmeer überquerten.


Global Review: Die OAU wurde in die Afrikanische Union mit Sitz in Äthiopien umgewandelt. Wenn Sie die AU mit der EU vergleichen – was sind die Unterschiede? Bedeutet dies, dass die internationale Rolle Äthiopiens und seine Rolle in der panafrikanischen Bewegung verbessert wurden? Welches sind derzeit die politisch wichtigsten afrikanischen Staaten für den Panafrikanismus und die internationale Politik in Afrika?


Dr.Magnus Treiber: Kaiser Haile Selassie war ein talentierter Diplomat und politischer Stratege, der die Beziehungen zu ehemaligen Kolonialmächten sowie zu den neuen unabhängigen Staaten Afrikas, den USA und sogar der Sowjetunion pflegte. In seinen späten Jahren gestaltete er die internationalen Beziehungen Äthiopiens weitaus besser, als er auf innenpolitische Konflikte und unausweichliche Veränderungen reagierte. Es war sicherlich ein Erfolg, die OAU nach Addis Abeba zu bringen, das seitdem ein diplomatisches Zentrum ist. Hier befinden sich viele Botschaften und internationale Organisationen, internationale Konferenzen finden statt und Hotels in der Stadt leben hauptsächlich von internationalen Gästen. Neben der infrastrukturellen Bedeutung war Äthiopiens internationale Rolle und seine führende Position unter den afrikanischen Staaten immer auch von seinen Führern und Regimen abhängig. EPRDF- Premierminister Meles Zenawi brachte es im globalen Norden zu internationalem Ansehen  und wurde gleichzeitig ein anerkannter Sprecher der Entwicklungsländer, was etwa  Klimawandel und globale Erwärmung anging. Daher wurde  politische Repression durch die EPRDF übersehen oder als unverzichtbarer Krieg gegen den Terrorismus begrüßt. Abiy Ahmed erhielt den Friedensnobelpreis für seine Friedensinitiative gegenüber Eritrea und äthiopischen Oppositionsbewegungen im Exil. Es war von Anfang an klar, dass er mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert und möglicherweise nicht in der Lage sein würde, sein politisches Programm „Medemer“ – „Zusammenkommen“ –auch umzusetzen.

Global Review: Warum hat Premierminister Abiy die Macht übernommen? Welche Gruppen und politischen Parteien unterstützen ihn und wer ist gegen ihn? Was waren seine wichtigsten politischen Ziele und Unterschiede zu seinen Vorgängern? Da es bereits ein Attentat auf Abiy gab und jetzt das Attentat auf einen populären Musiker, wer ist der wahrscheinliche Mastermind dahinter und wie stabil ist Abiy’s politische Basis? Welche Rolle spielt das äthiopische Militär?


Dr.Magnus Treiber: Abiy Ahmed hat die Macht nicht übernommen, seine Nominierung war das Ergebnis einer Pattsituation und des sich abzeichnenden Konflikts zwischen den Koalitionspartnern des EPRDF. Nach dem Tod von Meles Zenawi im Jahr 2012 wurde Äthiopien nominell von Hailemariam Dessalegn, einem Mann aus dem Süden,regiert, mit mächtigen, aber unpopulären TPFL-Kadern im Rücken. Sowohl die politische Opposition, insbesondere unter den Oromo-Nationalisten, als auch deren gewaltsame Unterdrückung nahmen zu, nachdem das Regime Meles Zenawis charismatisches Gesicht und seine internationale Glaubwürdigkeit verloren hatte. Als Äthiopien praktisch unregierbar wurde, trat Hailemariam Dessalegn Anfang 2018 zurück. Abiy Ahmed wurde zum Vorsitzenden der Demokratischen Volksorganisation der Oromo innerhalb des EPRDF ernannt. Seine Nominierung bot einen Kompromiss zwischen den verschiedenen Parteien und Fraktionen der EPRDF sowie zwischen der EPRDF und militanten Oromo-Aktivisten. Abiy Ahmed tauschte politisches Personal aus, schwächte den Einfluss der TPLF, schloss berüchtigte Gefängnisse, rehabilitierte ehemals illegale Oppositionsgruppen und rief sie aus dem Exil zurück. Allerdings öffnete er die Büchse der Pandora und dynamisierte politischen Konflikt, der seit jeher ein fester Bestandteil des modernen Äthiopien ist. Ironischerweise sah ausgerechnet er sich gezwungen, auf politische Repression zurückzugreifen, um sich und seine Regierung zu schützen. So führte Abiy Ahmeds Transition zu einer unüberschaubaren Gerüchtwelt und politischen Radikalisierung auf allen Seiten. Der Mord an dem Oromo-Sänger und politischen Aktivisten Hachalu Hundessa, einer prominenten Stimme der Oromo-Emanzipation, wurde später vielen potenziellen Interessengruppen vorgeworfen und unterstreicht den angespannten und fragilen Zustand des gegenwärtigen Äthiopien. Politische Unsicherheit gilt auch für die bürokratischen Institutionen des Staates, in denen neue Interessengruppen Einfluss suchen, während andere  abwarten, bevor sie Partei ergreifen. Das äthiopische Militär, das nach dem Fall des Derg neu aufgebaut wurde, spiegelte sicherlich die Dominanz der TPLF wider, erschien jedoch als effizienter, in sich funktionierender Apparat . Der Staatsstreich von 2019 in Bahir Dar, bei dem sowohl Äthiopiens Armeechef als auch der Regionalgouverneur von radikalen Amhara-Nationalisten innerhalb des Militärs ermordet wurden, zeigte, dass auch hier Auflösungsprozesse stattfinden

Global Review: Die Golfkrise droht jetzt das Horn von Afrika zu erreichen. Der jüngste Höhepunkt ist das Abkommen zwischen der Erdogan- Türkei und dem Sudan über die Wiederherstellung eines alten Hafens sowie ein neues Dock mit zivilen und militärischen Einrichtungen, das es auch türkischen Kriegsschiffen ermöglichen soll, den Sudan anzufahren. Das Horn von Afrika ist ein strategischer Punkt, durch den ein Großteil der weltweiten Ölversorgung und des wichtigen Handels fließt, aber viele Länder wie Somalia oder Sudan sind in politische Krisen und einen Stellvertreterkrieg zwischen der Türkei, dem Iran und Saudi-Arabien verwickelt. Auch China will sich nicht länger aus dem Konflikt heraushalten, hat sich der internationalen Anti-Piraterie-Koalition angeschlossen, zu der auch die USA und Deutschland gehören, und neben den USA, Frankreich, Saudi-Arabien und Japan eigene Militärbasen in Dschibuti errichtet. Der türkisch-sudanesische Vertrag über 650 Millionen US-Dollar verschärft den Konflikt zwischen den regionalen Großmächten. Es ermöglicht der Türkei auch eine militärische Präsenz im Roten Meer, während gleichzeitig Truppen nach Libyen geschickt werden und Ägypten in einen doppelten Zangengriff genommen wird. Ein weiterer Konflikt zwischen dem Sudan und Ägypten eskaliert über die territorial umstrittene Grenzregion Halayeeb. Der Sudan hat Ägypten beschuldigt, Truppen über die Grenze entsandt zu haben, in seinen Luftraum einzudringen und Küstengebiete zu überfluten, und der Sudan hat auch die eritreische Grenze geschlossen, nachdem Berichten zufolge in Eritrea stationierte ägyptische und VAE-Truppen gemeldet wurden. Der Sudan hat sich auch bei den Vereinten Nationen beschwert, dass Ägypten Saudi-Arabien zwei strategische Inseln in der Nähe von Halayeeb zurückgegeben hat, und dann der Konflikt um Äthiopiens Pläne, einen Damm zu bauen, der die lebenswichtigen Wasserzuflüsse Ägyptens abschneiden könnte. Inwieweit ist Äthiopien vom Sudan und Somalias Al Shabab , Islamisten und Eritrea bedroht? Welche Großmächte unterstützen Äthiopien, Sudan und Eritrea in diesem geopolitischen Konflikt?


Dr.Magnus Treiber: Der postrevolutionäre Sudan muss noch seine neue regionale und internationale Rolle finden – und seine Beziehungen etwa zu Saudi-Arabien, das das Regime von Omar al-Bashir unterstützte, oder  der Türkei neu aushandeln. In Bezug auf Äthiopiens Grand Renaissance Dam befindet sich der Sudan zwischen zwei Stühlen – einmal unterliegt er Ägyptens langjährigem Versuch, den Nil über sein eigenes Territorium hinaus zu kontrollieren, zum anderen besitzt der Sudan ein eigenes Interesse am Import von Wasserkraft aus Äthiopien. Eritrea – ein Freund Ägyptens in der Region – ist vielleicht besser in der Lage, zwischen Ägypten und Äthiopien zu vermitteln. Der eritreische Präsident Isayas Afewerki steht in dieser Hinsicht offenbar zu  seinem neuen Freund Abiy Ahmed, könnte aber auch in die inneren Turbulenzen Äthiopiens verwickelt sein. Äthiopien hat ein vitales Interesse an einem stabilen Somalia, einem kooperativen Somaliland und einem ruhigen Ogaden, der somalisch bewohnten Region Äthiopiens im Westen. Da es jetzt um Äthiopiens eigene Stabilität geht, scheint Somalia im Moment  kein unmittelbar dringliches Problem, dies kann sich aber natürlich wieder ändern. International wird Äthiopien aus wirtschaftlichen und strategischen Gründen sowohl von den Vereinigten Staaten und als auch der Europäischen Union unterstützt, erstere sind an Wirtschaftsbeziehungen und  Geostrategie interessierte, letztere an Wirtschaftsbeziehungen und Migrationskontrolle.


Global Review: Will Premierminister Abiy Ahmed neben dem Friedensabkommen mit Eritrea die wirtschaftliche Entwicklung des Landes vorantreiben? Wie sieht sein Wirtschaftsprogramm aus? Gibt es ähnliche Modernisierungspläne wie die Vision 2030 von Saudi-Arabien oder die Vision 2025 von Ägypten? Welche Rolle spielen ausländische Investitionen dabei? Ist Äthiopien Teil der chinesischen Belt and Road Initiative? Welche Rolle spielen China, die EU und die USA, nachdem Trump die afrikanischen Staaten als „Scheißlöcher“ (shitholes) bezeichnet hat?

Dr.Magnus Treiber: Abiy Ahmed versucht in erster Linie wirtschaftliche Netzwerke und Entwicklung in der gesamten Region zu initiieren. Deshalb hat er das Interesse Äthiopiens an eritreischen Häfen über den unnachgiebigen Anspruch der EPRDF auf marginale Grenzgebiete gestellt. Er hält im Wesentlichen an der Infrastrukturpolitik der EPRDF, dem Renaissance Dam und dem Ziel Äthiopiens fest, ein Land mit mittlerem Einkommen zu werden, das den Standards der Weltbank entspricht. China ist stark am Aufbau von Infrastruktur und Industrie beteiligt, aber wohl weniger am Landraub, der für die betroffene ländliche Bevölkerung zu einem großen Problem geworden ist. China ist ein wichtiger Partner für Äthiopien und verantwortlich für verschiedene prestigeträchtige Infrastrukturprojekte wie der ersten Autobahn des Landes zwischen Addis Abeba und Adama, der städtischen Straßenbahn von Addis Abeba und der neu gebauten Eisenbahnlinie zwischen Dschibuti und der äthiopischen Hauptstadt. Dennoch haben die äthiopischen Regierungen das Land immer als Hegemon der gesamten Region verstanden. Äthiopiens nationale Unabhängigkeit und relative Autonomie standen immer an erster Stelle, wenn sie von der wirtschaftlichen und technologischen Unterstützung durch internationale und globale Mächte abhängig waren. In dieser Tradition erwies sich Äthiopien unter der EPRDF für Privatinvestoren und internationale Unternehmen – viele aus der Türkei – als weitaus weniger attraktiv als ursprünglich angenommen. Trotz der inhärenten Asymmetrien, brutalen Hierarchien und tiefen Rivalitäten wird auch das moderne Äthiopien in Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden verstanden.US-Präsident Donald Trump behauptete, er hätte den Nobelpreis für die Ermöglichung des eritreisch-äthiopischen Friedensabkommens erhalten sollen – was durchaus nicht ganz falsch ist.  Seine Ära wird jedoch irgendwann enden.


Global Review: Welche Rolle spielt der Grand Ethiopian Renaissance Dam (GERD) für die wirtschaftliche Entwicklung Äthiopiens? Vom wem wurde er finanziert und wem gehört der Damm? Bedeutet dies die großflächige Elektrifizierung Äthiopiens und vielleicht auch einiger Nachbarländer? Wie viel Strom wird der Damm produzieren und inwieweit hängt die Energiebilanz Äthiopiens von verschiedenen Energiequellen ab? Ist es nur ein wirtschaftliches Projekt oder ein geopolitisches Projekt, das versucht, den Sudan und Ägypten wie die Türkei durch das GAP-Projekt zu erpressen, das den Euphrat und den Tigris im Irak und in Syrien kontrolliert, indem es die strategischen Wasserreserven kontrolliert?

Dr.Magnus Treiber: GERD ist ein nationales und nationalistisches Megaprojekt, das von äthiopischen Ingenieuren aus öffentlichen Mitteln und Steuergeldern finanziert wird. Zusammen mit den anderen Staudämmen Äthiopiens wird es die Elektrifizierung des gesamten Landes und sogar den Export von elektrischem Strom in den Sudan ermöglichen, der selbst kürzlich den Merowe-Damm weiter nördlich gebaut hat. Beide Länder benötigen dringend und zunehmend Strom. Megaprojekte sind in die sogenannten Entwicklungsländer und ihre modernistische Politik zurückgekehrt und versprechen mehr Autonomie und Autarkie und damit weniger Abhängigkeit von internationalen Akteuren. Natürlich wurden ökologische Risiken und die Vertreibung der lokalen Bevölkerung akzeptiert, kritische Fragen oder umsichtiger politischer Protest ignoriert oder sogar unterdrückt.

Global Review: GERD stößt in Ägypten und im Sudan auf Widerstand, da beide Länder befürchten, dass das umgeleitete Nilwasser ihre Landwirtschaft, Bewässerungssysteme und die Wasserversorgung ihrer Städte und Bevölkerung erheblich beeinträchtigen könnte. Berücksichtigt Äthiopien diese Bedenken oder handelt es nach dem Motto „Ethiopia First“, unabhängig von den wirtschaftlichen, politischen und ökologischen Auswirkungen für die anderen Länder? In der Zwischenzeit soll die UNO beteiligt sein, aber Äthiopien sieht dies eher als nationales Prestigeobjekt einer Renaissance und verzichtet auf Einmischung von außen. Wie kann dieser Konflikt gelöst werden oder wenn nicht, muss das Horn von Afrika um seine Stabilität fürchten?


Dr.Magnus Treiber: Äthiopien argumentiert, dass letztlich kein Nilwasser entnommen wird. Die jetzt begonnene Befüllung des Damms wird jedoch den Wasserfluss aus dem Blauen Nil für bis zu 15 Jahre reduzieren. Trotz der innenpolitischen Krise versammeln sich viele Äthiopier hinter dem Staudammprojekt, das Ägypten natürlich vor den Kopf stößt. Langfristig – und selbst im unwahrscheinlichen Fall eines begrenzten Luftangriffs Ägyptens – müssen diese nordostafrikanischen Regionalmächte jedoch zu einem pragmatischen Umgang miteinander finden. Insbesondere die USA werden dabei Druck ausüben. Ägypten muss die politische Emanzipation seines Nilhinterlandes akzeptieren – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Der postrevolutionäre Sudan blieb neutral, bis er sich dem Druck Ägyptens beugte, ist jedoch, wie bereits erwähnt, an Wasserkraft aus Äthiopien äußerst interessiert.


Global Review: Die AU unterzeichnete ein Panafrican Freetrade-Area, das in den westlichen Medien unbemerkt blieb. Ist diese afrikanische Freihandelszone mit dem Europäischen Gemeinsamen Markt vergleichbar? Wie viele afrikanische Länder beteiligen sich und glauben Sie, dass diese Freihandelszone die wirtschaftliche Entwicklung ankurbeln und möglicherweise ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und der PAFTA bewirken könnte?


Dr.Magnus Treiber: Dies war sicherlich ein entscheidender Schritt für die AU. Noch haben nicht alle 54 Teilnehmerstaaten das Abkommen ratifiziert, und es wird einige Zeit dauern, bis seine Auswirkungen messbar sind. Die wirtschaftliche Produktion und Wirksamkeit ist auf dem gesamten Kontinent sehr ungleich verteilt, und das enorme Potenzial an mineralischen und landwirtschaftlichen Ressourcen sowie die zunehmende Industrialisierung sindalles Bereiche, die das Versprechen wirtschaftlichen Erfolgs ebenso wie das Risiko der Deprivation, ökologischer Katastrophe und weiterer sozialer Differenzierung in wenige Superreiche, eine sich abmühende städtische Mittelklasse und abgehängte Massen in sich tragen. Abiy Ahmeds Friedensoffensive hat sicherlich eine starke wirtschaftliche Dimension und Äthiopien vereint all diese Entwicklungen wie unter einem Brennglas.. Auf der anderen Seite sind afrikanische Staaten – zumindest in ihren Zentren – bemerkenswert nationalistisch, und grundlegende politische Veränderungen aufgrund wirtschaftlicher Entwicklung sollten in naher Zukunft nicht erwartet werden.


Global Review: Wie wirkt sich die Covid-Krise auf die afrikanische, äthiopische und eritreische Gesellschaft, Politik und Wirtschaft aus?

Dr.Magnus Treiber: Im Gegensatz zu Europa scheinen die Infektionszahlen und insbesondere die Zahl der Todesopfer weniger alarmierend zu sein – möglicherweise eine Folge der überwiegend jungen Bevölkerung Afrikas. Die Krise hat jedoch weitaus mehr Auswirkungen als in Europa. Nur wenige Staaten waren vorbereitet und verfügten über annähernd ausreichende medizinische Ausrüstung oder Nothilfe. Wohlfahrtssysteme existieren nur rudimentär, wenn überhaupt. Die Verfügbarkeit von sauberem Wasser ist ein weiteres Problem. Die vorübergehenden Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, die in vielen Ländern Afrikas dekretiert wurden, verhinderten, dass große Teile der Bevölkerung zur Arbeit gehen oder sich als  Tagelöhner anbieten konnten. Trotz begrenzter Ressourcen mussten sich ländliche Familien oft auch um Verwandte kümmern, die aus den Städten geflohen waren. Der Tod von Vätern und Müttern lässt Kinder mitunter in völliger Armut zurück – wie schon die Ebola-Epidemien in West- und Zentralafrika gezeigt haben. In verschiedenen Ländern töteten Militär- und paramilitärische Polizisten während der Ausgangssperre Menschen, darunter auch Kinder – die möglicherweise nur auf der Straße waren, um Geld und Essen zu organisieren. Darüber hinaus wurden schwere Fälle von häuslicher Gewalt gemeldet. Die soziale Dimension der Krise und ihr Konfliktpotential ist also sehr viel bedeutsamer als in den meisten europäischen Staaten. Eritrea meldet relativ wenige Infektionen und keine Todesfälle. Äthiopien, Somalia sowie der Nord- und Südsudan sind stark betroffen – insbesondere dicht besiedelte Gebiete, darunter auch Flüchtlingslager. Gleichzeitig muss das Leben weitergehen. Bei all den politischen Spannungen und Ausbrüchen von Gewalt in Äthiopien und der gesamten Hornregion und der existenziellen Notwendigkeit, einen Lebensunterhalt zu aufzubringen, sind nicht alle Menschen in der Lage oder bereit, sich noch angemessen um COVID-19 zu kümmern.

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