Das sogenannte “Sicherheitsgesetz” für Hongkong: Eine Einordnung

Das sogenannte “Sicherheitsgesetz” für Hongkong: Eine Einordnung

Autor; Prof. Dr. Hans van Ess

Ende August 2019 wollte dieser Autor in einer Unterführung in Hongkong eines der seltenen Plakate fotographieren, die zu einer Demonstration am 31. August aufriefen. Als das Handy gezückt war, kam ein Hongkonger Bürger, riss eines der Plakate herunter und warf es mit verächtlichem Gesichtsausdruck in einen Mülleimer. Die Körpersprache verriet seine deutliche Botschaft: Ihr denkt falsch über das, was hier passiert! Dazu passte auch, dass sich die Tagesgespräche, die ich bei diesem Besuch in Hongkong führte, kaum um die Anliegen der Demonstranten drehten, sondern vor allem um das wirtschaftliche Desaster, das sie ausgelöst hatten. Zimmer in Luxus-Hotels waren zu einem Spottpreis zu bekommen, Bars waren leer, der Flugplan erheblich ausgedünnt. Befürchtungen wurden laut, dass die traditionsreiche Fluglinie Cathay Pacific nun bald ganz an Air China verkauft werden müsste.        

Zwei Monate später traf ich bei einer Veranstaltung in Italien einen Kollegen der Tsinghua-Universität in Peking. Als wir gemeinsam im Bus zum Flughafen saßen, dachte ich mir, dass die Gelegenheit günstig sei, ohne lästige Lauscher von ihm zu erfahren, was man bei ihm zu Hause über Hongkong denke. Ruhig sagte er mir, dass ja völlig klar sei, dass die Trump-Regierung und die Briten hinter den Unruhen steckten; man habe auch Belege dafür, dass einiges Geld fließe, um die Demonstrationen am Laufen zu halten. Zum Glück sei dieses Virus nicht, wie eigentlich von den Drahtziehern geplant, aufs Festland übergesprungen, denn sonst hätte es wirklich eine Katastrophe gegeben. Man kann solche Einschätzungen als bornierte Meinung verwöhnter chinesischer Kader abtun, die sich der Gehirnwäsche ihres Regimes nicht entziehen können. Doch das wäre zu kurz gesprungen. So wie der Kollege, der oft die Gelegenheit hat, sich im westlichen Ausland zu informieren, denken zahlreiche Chinesen. Das hat natürlich viel mit Propaganda zu tun, doch gibt es für diese Sicht auch andere Gründe.

Am 30. Juni 2020 verabschiedete der Nationale Volkskongress in Peking das Gesetz zum Schutz der nationalen Sicherheit in Hongkong. Es richtet sich gegen Aktivitäten, die als subversiv, separatistisch, terroristisch oder als ausländische Einmischung gelten. Das Gesetz wird nicht nur von den pro-demokratischen Parteien in Hongkong abgelehnt. Auch Regierungen westlicher Länder machen an dem Gesetz ihre Kritik an der Politik der Kommunistischen Partei in der Sonderverwaltungszone Hongkong fest. Am 1. September hat eine siebenköpfige Expertenkommission der Vereinten Nationen der Volksrepublik China ein Kommunqué zukommen lassen, in dem sie darauf hinweist, dass das Gesetz eventuell eine Verletzung des Völkerrechts darstellen könnte. Die Wortwahl ist bewusst getroffen, denn bisher besteht eine solche Verletzung anscheinend nicht. Die Experten erinnern China an die Verpflichtungen, die es Hongkong gegenüber eingegangen ist, und fordern es auf, sich bei der Anwendung des Gesetzes an das völkerrechtlich übliche Verständnis der verwendeten Terminologie zu halten. Sie sehen eine Gefahr, dass dies nicht der Fall sein könnte, und mahnen, das Gesetz an bestimmten Stellen zu adjustieren. Anscheinend sind die Rechtsexperten in der VR China geschickt genug gewesen, bei der Formulierung des Sicherheitsgesetzes einen Verstoß gegen das Völkerrecht und gegen die gesetzlichen Verpflichtungen, die China in Bezug auf den Status von Hongkong eingegangen ist, zu vermeiden.

Die Verkündung des Gesetzes war der vorläufige Höhepunkt einer langen politischen Auseinandersetzung zwischen Befürwortern eines westlichen Regierungssystems in Hongkong und der Peking-loyalen Führung der Stadt, die immer wieder zu Kundgebungen geführt hatten. In China – wie übrigens auch in weiten Teilen des Vorderen Orients – können und wollen sich viele Menschen nicht vorstellen, dass Protestbewegungen solcher Art spontan entstehen. Ausländische Mächte sind generell im Verdacht, nachgeholfen zu haben, wenn die eigene Autorität untergraben wird.  Hierzulande würde man von Verschwörungstheorien sprechen, aber das hilft bei der Behandlung des Problems nicht weiter. Das Sicherheitsgesetz betont unter Artikel 4 seines ersten Kapitels, dass die Menschenrechte respektiert und gewährleistet sein sollten, dass alle bisherigen Rechte und Freiheiten, einschließlich der Redefreiheit, der Pressefreiheit und des Demonstrationsrechts in Übereinstimmung mit dem Recht geschützt seien. Erst Kapitel 3 beginnt die vier oben genannten Vergehen der Sezession, der Subversion, des Terrorismus oder der geheimen Absprachen mit einem fremden Land zu beschreiben, die mithilfe des Gesetzes verfolgt werden können. Jeweils ein Artikel ist dem Vergehen gewidmet, ein zweiter droht demjenigen Strafen an, der mit Geldmitteln zu den Vergehen anstachelt. Das erklärt die Auslassungen des chinesischen Professors zur finanziellen Unterstützung der Demonstrationen durch das Ausland genauso wie die Tatsache, dass das Gesetz fast grundsätzlich zuerst auf die Bedrohung der Volksrepublik China durch feindliche Aktivitäten in Hongkong eingeht und erst dann auf die Sicherheit Hongkongs selbst. Das vermittelt den Eindruck, dass es dem Nationalen Volkskongress bei der Verabschiedung des Sicherheitsgesetzes weniger um die Verhältnisse in Hongkong ging als vielmehr um die potentielle Bedrohung, die aufgrund ausländischen Einflusses von dort aus für China ausgehen könnte.

China weckt im Westen Emotionen, nicht erst seit 1989, als im Dienst der Kommunistischen Partei Panzer Proteste auf dem Tian’an men Platz niederwalzten. Die Ereignisse bedeuteten eine Zäsur für die chinesischen Innenpolitik und ihre Wahrnehmung im Westen. Gleichzeitig hinderte die gewaltsame Niederschlagung der Proteste westliche Delegationen nach einer kurzen Pause aber auch nicht, einander in Peking und Shanghai die Klinke in die Hand zu geben. Harte und für westliche Verhältnisse ungewöhnliche Bedingungen für eine Partizipation am großen Geschäft nahm man für den erhofften Profit ohne große Bedenken gerne in Kauf. Das Land würde sich schon an die Segnungen der freien westlichen Zivilisation anpassen, wenn es erst einen gewissen Wohlstand erreicht hätte, war die von führenden Politikwissenschaftlern vertretene Meinung. Da musste man gewisse Einschränkungen erst einmal akzeptieren, auch wenn man sich manchmal wunderte. Hongkong hat vom wirtschaftlichen Aufschwung Chinas lange enorm profitiert. Beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat es das zu Beginn des Aufschwungs noch weit vor ihm liegende Deutschland längst abgehängt. Die Kommunistische Partei hat den Kapitalismus stärker laufen lassen als alle der sozialen Marktwirtschaft verpflichteten Parteien Deutschlands. Das Ergebnis ist, dass Hongkonger heute im Schnitt viel reicher sind als Deutsche.

Allerdings ist der kometenhafte Aufstieg Hongkongs seit der Finanzkrise 2008 ins Stocken geraten. Pünktlich zum Amtsantritt des neuen Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Xi Jinping sank es 2012 auf nur noch 1,7 Prozent und ist auch danach nur noch im niedrigen einstelligen Bereich gewachsen. Das ist eigentlich ein normaler Prozess, doch ist er begleitet von ungünstigen Entwicklungen. Die ohnehin hohen Immobilienpreise stiegen seit den 1990er Jahren in astronomische Größenordnungen, so dass es jungen Hongkongern mit einem durchschnittlichen Einkommen nicht mehr möglich ist, auf dem Wohnungsmarkt aktiv zu werden. Das Schicksal teilen sie zwar im globalen Vergleich mit Altersgenossen, die in ähnlich erfolgreichen Metropolen leben. Doch ist die Tatsache deshalb wichtig, weil der Besitz einer Wohnung im chinesischen Kulturkreis häufig Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben – und eine Ehe – ist. Das ist einer der Gründe dafür, dass Hongkong unter einer der niedrigsten Geburtenraten der Welt leidet: 2003 erreichte sie mit 0,9 Kindern pro Frau einen Tiefpunkt. Seitdem hat sie sich zwar etwas erhöht, dies geschieht jedoch wegen starker Immigration vor allem aus der VR China. Auch in Hongkong haben Migrantinnen zumindest für eine bestimmte Zeit höhere Geburtenraten als Einheimische. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Bevölkerung um fast 800.000 Menschen auf mittlerweile 7,51 Millionen vermehrt. Das ist Folge eines gewaltigen Zuzugs vom Festland, ohne das Hongkong kaum lebensfähig wäre. Sowohl Universitäten als auch Krankenhäuser müssten sonst erheblich schrumpfen oder schließen, auch die Wasser- und Lebensmittelversorgung hängt natürlich vom Umland ab. Der Einfluss des Mandarin, der Amtssprache des Festlands, das vor dreißig Jahren kaum jemand von den kantonesisch sprechenden Hongkongern verstand, ist allgegenwärtig. Unter den wenigen jungen Hongkongern mit einer längeren familiären Verbundenheit zur Stadt wächst die Furcht davor, zu Fremden im eigenen Land zu werden. Das könnte schon bald der Fall sein.

Auch diese demografische Entwicklung gehört zur Kulisse, vor der sich die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in Hongkong 2014 erstmals in den sogenannten “Regenschirmprotesten” massiv Bahn gebrochen hatte. Wer die politischen Motive dafür verstehen möchte, muss bis ins Jahr 2007 zurückgehen, als der Nationale Volkskongresses (NVK) der VR China kundtat, dass 2017 der Regierungschef Hongkongs zum ersten Mal durch eine allgemeine Wahl gekürt werden könne, nicht mehr durch ein Wahlpersonengremium wie seit 1997. Das “Hongkong Basic Law”, das der NVK 1990 verabschiedet hatte, stellt nämlich fest, dass das “ultimative Ziel die Auswahl des Regierungschefs durch allgemeine Wahl nach Nominierung durch ein repräsentatives Nominierungskomitee in Übereinstimmung mit demokratischen Verfahren sei”. Im August 2014 schlug der NVK vor, dass das Wahlsystem in Hongkong geändert werden solle, um dieses Ziel schon jetzt zu erreichen. Allerdings behielt er sich vor, die Kandidaten vorzuschlagen. Das Vorgehen löste eine Protestwelle aus, nach der die Wahlrechtsänderung zurückgezogen wurde. Das neue Verfahren wäre nicht demokratisch im westlichen Sinne gewesen, aber es hätte vielleicht doch einen vorsichtigen Schritt nach vorne bedeutet. Die neue Regierungschefin Carry Lam ist 2017 wieder nach dem alten System gewählt worden, das seit der Übergabe Hongkongs durch die Briten 1997 gilt.

Der Nationale Volkskongress war zu seiner Aussage 2007 durch eine recht China-freundliche Stimmung in der Stadt ermutigt worden. Die Peking-freundlichen Parteien hatten bei den Wahlen zum Stadtparlament gegenüber den pro-demokratischen Kräften seit der Übergabe 1997 regelmäßig Boden gemacht. 1998 errangen sie nur 30% der Stimmen, 2012 waren es 42 Prozent, die Peking-treue „Demokratische Allianz für die Verbesserung Hongkongs“ ist ohnehin immer stärkste Einzelpartei gewesen. Bei den Kommunalwahlen 2007 hatte das Pro-Peking Lager sogar erdrutschartig gewonnen. Seine Kandidaten eroberten 15 der 18 Rathäuser. Interessanterweise gelang es ihm, diesen Erfolg 2011 und selbst nach den Demonstrationen 2014 zu wiederholen: 2015 beherrschten Peking-freundliche Kandidaten erstmals sämtliche Rathäuser.

Zu berücksichtigen ist, dass die Wahlbeteiligung von sehr niedrigem Niveau aus über die Jahre anstieg. Lag sie 2007 und 2011 noch bei etwas über einer Million – unter 40% der registrierten Wahlbevölkerung und deutlich unter zwanzig Prozent der Wahlberechtigten –, war sie 2015 bei knapp 1,5 Millionen Wählern (47%) angekommen. Bei 7,5 Millionen Einwohnern und einer potentiellen Wählerschaft von sechs Millionen Menschen waren das natürlich immer noch nur etwa 25 Prozent. Die Wahlmüdigkeit hat viele Gründe. Einerseits mögen sich viele Hongkonger sagen, dass ihre Stimmabgabe ohnehin keinen Einfluss auf die Politik in der Stadt haben wird, die von Statusgruppen bestimmt wird, deren Rechte Peking komfortabel gegen die Demokratie abgesichert hat. Andererseits hat es auch unter der Herrschaft des Mutterlands der europäischen Demokratie in Hongkong nie Wahlen auf der Ebene des Stadtparlaments gegeben und damit keine Erziehung dazu, dass mündige Bürger durch Wählen Einfluss auf die Gestaltung ihres Gemeinwesens nehmen könnten. Zwar versuchen vereinzelte westliche Stimmen nun, die Schuld dafür von den Schultern Großbritanniens zu heben, indem sie darauf verweisen, dass China freie Wahlen in Hongkong als unfreundlichen Akt angesehen hätte und deshalb seinen Einfluss bei der britischen Administration geltend machte, damit sie unterblieben. Solche Argumente haben indes den Charakter billiger Ausreden für peinliche Versäumnisse hinsichtlich eigentlich selbstverständlicher Reformen, die jahrelang nicht angepackt wurden, weil man glaubte, dass Hongkong auch ohne sie prächtig funktionierte. Und es bleibt zu konstatieren, dass in Hongkong die Anhänger der Politik der VR China – eines Staates also, in dem direkte Demokratie nur in sehr kleinen Ansätzen auf unterster lokaler Ebene existiert – paradoxerweise offenbar von ihrem Wahlrecht vielfach mehr Gebrauch machten als die Befürworter eines westlich geprägten Systems repräsentativer Demokratie. Das zeigt, dass Chinesen die Vorzüge der repräsentativen Demokratie durchaus verstehen können, auch wenn das Resultat ihrer Stimmabgabe ein anderes sein kann, als man sich das im Westen gemeinhin vorstellen würde.

Im Sommer 2019 flammten die Demonstrationen wieder auf, als Carry Lam ein Gesetz beschließen lassen wollte, das es Hongkong erlaubte, Straftäter ins Ausland auszuliefern. Anlass war ein Mordfall, bei dem ein Hongkonger auf Taiwan seine Freundin umgebracht hatte, nun aber nicht nach Taiwan ausgeliefert werden durfte. Die Demonstranten jedoch fürchteten sicher zu Recht, dass das neue Gesetz auch der Auslieferung missliebiger Personen nach China dienen werde. Der Rückzug des Gesetzes im November reichte der Protestbewegung nicht; unter anderem forderte sie jetzt allgemeine und unabhängige Wahlen. Die Kommunalwahlen, die im November abgehalten wurden, verkehrten die zuvor herrschenden Zustände in ihr Gegenteil. Bei einer Rekordbeteiligung von 71% verdoppelte sich die Wählerzahl auf 2,8 Millionen. Das bedeutet, dass noch immer weit mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten den Urnen fernblieb, und es zeigt, dass es der überwiegenden Mehrheit der Hongkonger Bevölkerung nach wie vor gänzlich egal ist, worum ein kleiner Teil der politisch bewussten Einwohner kämpft. Erstmals seit 1997, als Hongkong aus den britisch-kolonialen Strukturen herausgelöst wurde, erzielten Peking-kritische Parteien aber aufgrund des Anstiegs der Wahlbeteiligung auch auf Kommunalebene die Mehrheit. In absoluten Zahlen war der Erfolg allerdings nicht so groß, wie man auf den ersten Blick meinen könnte: 42% der Wähler hatten nämlich für die Vertreter der harten Peking-Politik gestimmt. Die Gegensätze in der Stadt sind nicht nur an den Universitäten so groß wie nie zuvor. Wenn nicht ein Wunder geschieht, dürften sie in den kommenden Jahren eher wachsen als kleiner werden. Welche Partei dabei die Oberhand gewinnen wird, ist durchaus nicht sicher. Aufgrund demographischer Veränderungen könnte sich die Waage auch ohne direkte Intervention Pekings bald zu seinen Gunsten neigen.

Viele westliche Beobachter schienen auf dem Höhepunkt der Ereignisse im Sommer 2019 eine Neuauflage des Tian’anmen-Massakers zu befürchten. Korrespondenten, die von Truppenbewegungen an Hongkongs Grenze berichteten und annahmen, dass die KP bald zuschlagen würde, wurden trotz der Polizeigewalt auf den Straßen eines anderen belehrt. Die Führung der VR China war in einer Zwickmühle, weil sie keine Handlungsoptionen mehr hatte, nachdem Carry Lam auf die Forderungen der Demonstranten teilweise eingegangen war, diese das aber nicht als Friedensangebot akzeptierten. Forderungen, die sich anschlossen, sind für Kenner der Situation in China unerfüllbar. Vor dem Hintergrund dessen, was hätte passieren können, scheint das sogenannte “Sicherheitsgesetz”, das die VR China im Corona-Schatten für Hongkong 2020 beschlossen hat, damit noch das kleinere Übel zu sein. Schlimmeres wäre denkbar gewesen. Ein schaler Beigeschmack aber bleibt. In China konnten lokale Behörden sich für einen Monat lang alle Mühe geben, die Pandemie mit gravierenden Konsequenzen für den Rest der Welt totzuschweigen. Nachdem die Pandemie den Protesten ein natürliches Ende gesetzt hatte und die wirtschaftlich führenden Nationen dieser Welt mit Schadensbegrenzung beschäftigt waren, hat die Führung der VR China sie dafür ausgenutzt, um eine missliebige Bewegung loszuwerden. In Bezug auf Hongkong kam Corona der Pekinger Führung wie gerufen. Einerseits lässt dies Befürchtungen aufkommen, dass China in die Versuchung geraten könnte, die Gunst der Stunde auch zur Lösung anderer seit langem schwelender Konflikte wie der Taiwan-Frage nutzen könnte, andererseits wirft dies einen Schatten auf die erfolgreiche Corona-Bekämpfung, derer sich China im Augenblick mit Recht brüsten kann.

Man kann die Studenten in Hongkong in ihrer Angst vor China verstehen; dennoch wäre es der Sache dienlich gewesen, wenn sie nach dem Rückzug des Auslieferungsgesetzes in der Lage gewesen wären, realistische Vorschläge auf den Tisch zu bringen, die es möglich gemacht hätten, mittelfristig beim Aufbau demokratischer Strukturen in Hongkong auch auf der obersten Ebene der Stadtführung Fortschritte zu erzielen. Doch fehlt der jungen Demokratiebewegung in Hongkong noch die nötige Erfahrung, um aus einem Massenprotest gegenüber einem autoritär regierten Staat einen politischen Erfolg zu machen. Hongkong könnte sonst auch für China selbst Experimentierlabor sein. Im Dienst der Demokratie wäre es in diesem Sinne wichtig, dass die Konfliktparteien an einen Tisch fänden und hinsichtlich des Wahlrechts für das Stadtoberhaupt auf einen realistischen Kompromiss zuarbeiteten, der beiden Seiten die Möglichkeit eröffnete, gesichtswahrend aus der Krise zu kommen. Auch die Anhänger Pekings in Hongkong sind nicht zwangsläufig sämtlich Feinde der repräsentativen Demokratie; das zeigt ihr Engagement bei den Wahlen. Westliche Politik sollte deshalb eher vermittelnd auftreten, als sich vorschnell auf eine Seite zu schlagen und damit den eigenen Spielraum auf der anderen Seite zu einzubüßen.

Kommentar von Global Review:

  1. Detailierte Analyse und sehr treffend. Nur in Hinsicht auf eine Art demokratischen Kompromiss und einer vermittelnden Rolle westlicher Politik, die wohl wie immer als Einmischung in innere Angelegenheiten aufgefasst würde, ist das doch sehr optimistisch angesichts dem dröhnenden neototalitären Megatrend in China. Ist dies nicht die alte Illusion der Engagementpolitik, dass es einen reformwilligen Teil der KP China gebe, der dann im Zusammenspiel mit dem Anwachsen einer per se kosmopolitischen, liberalen Mittel- und Oberklasse einer chinesischen Demokratie zum Durchbruch verhelfen werde, wenn man nur geduldig abwarte? Auch kann ich mich noch an die Geschichten erinnern, die einige Banker damals in den 90ern von sich gegeben haben.Mit der Shanghaigang um Jiang Zemin und Zhu Rongji werde auch Shanghai neben der Rückgabe Hongkongs 1997 das neue Finanzzentrum Chinas, das dann den Finanzsektor Chinas öffne und Zhu Rongji werde dann der Nachfolger Jiang Zemins und Peking würde dann über Shanghai regiert, kapitalistischer, offener für westliches Kapital, liberaler , rechtsstaatlicher und dann auch demokratischer, ja ein gigantisches Hongkong. Zumal Jiang Zemins 3 Repräsentationen auch die KP China für das Unternehmertum öffne. Jiang verbot dann und unterdrückte dann die Demokratische Partei Chinas und die Falungong und startete eine Taiwankrise. Oder die Hoffnungen, die mit dem Sturz von Politbürokandiaten Bo Xilai und der Wahl Wang Yangs ins Politbüro verbunden waren. Bo Xilai hatte den Maokult wiederaufleben lassen, kampagnenartige Bewegungen gegen Korruption, Kriminalität und Triaden in Gang gesetzt, die etwas an die Kulturrevolution erinnerten, zumal sich auch für mehr Staatseinfluss auf die Wirtschaft und Betonung des Sozialen ausgesprochen., was seitens des Westens mit Besorgnis gesehen wurde. Gleichzeitig kam es in der Stadt Wuhan zu einem Aufstand, bei dem die aufgebrachte Bevölkerung die Regierungsgebäude besetzte, den Bürgermeister absetzte und einen eigenen Kandiaten aufstellte. Anstatt mit Repression reagierte der damalig zuständige KP-Kader Wang Yang mit der Zulassung des Kandidaten und einer Art liberaler Befriedung. Zudem war Wang Yangs Region auch wirtschaftlich mit Kanton und Hongkong verbunden war und forderte er auch wie schon Zhu Rongji weitere wirtschaftliche Reformen und man erhoffte sich westlicherseits, dass das Modell Wukan nun ein Präzedenzfall für die KP China werden könnte und China nun noch kapitalistischer, offener für westliches Kapital und liberal würde . Bo Xilai , seine Frau und Anhänger wurde ein Schauprozess gemacht, während Wang Yang befördert wurde. Unter Xi Jinping wurde dann aber keine politische Liberalisierung eingeleitet, sondern ganz im Gegenteil, eine Neototalisierung.Wahrscheinlich erklärt sich das moderate Urteil gegen Joshua Wong auch dadurch,dass China momentan keine weiteren Vorwände für eine weitere Eskalation in der Konfrontation mit den USA liefern will. Kurzfristig macht die KP China da vielleicht das eine oder andere taktische Zugeständnisse, mittel- und langfristig will sie aber auch ihre Diktatur direkt nach Hongkong ausbreiten ud hat jetzt schon das 1 Land, 2 Systeme-Prinzip infrage gestellt.
  2. Dr. Sachsenröder, ein mit uns befreundeter Akademiker und Interviewpartner vom Institute for South East Asian Studies in Singapur (ret.) , der gerade an einem Buch und einem Dokumentrarfilm über Imperialismus, Opiumkriege und Drogenhandel arbeitet hat uns noch auf einenen weiteren Aspekt des Nationalen Sicherheitsgesetzes jenseits der rein politischen Motive der KP China aufmerksam gemacht: Es diene eben auch der Bekämpfung der Kriminalität,vor allem der organisierten Kriminalität und den Triaden.Die damaligen Kolonialmächte, ihre Geheimdienste und auch die KMT seien tief in den Drogenhandel und mit den Triaden verbunden gewesen. Das Buch Die Soongdynastie von Sterling Seagrave schildert ja sehr plastisch die Verbindungen der KMT mit den Shanghaier Triaden, die sich dann nach der Vertreibung der KMT unter Mao in Taiwan,  Hongkong und Südostasien ansiedelten und dann eben auch mit Unterstützung der US- und britische Regierung ihren Geschäften inklusive dem Drogenhandel weiter nachgingen. Viel Kapital und Teile der Wirtschaftsgeschichte Hongkongs, Taiwans und Südostasiens seien hinter den Glitzerfassaden recht kriminellen Ursprungs. Wobei aber auch bezeichnend ist, dass die KP China zwar offiziell die Triaden und den Drogenhandel bekämpft, umgekehrt es aber auch eine programmatische Rede Deng Xiaopings vor der Rückkehr Hongkongs gibt, in der er die Triaden als „patriotsche Geheimgesellschaften“ bezeichnete.Möglicherweise bekämpft die KP China sie soweit, dass sie keine Macht wie die Mafia in Italien auf Festland China werden, aber eventuell nutzt die KP China sie auch teilweise wie dies die KMT und die USA, GB und auch Frankreich und ihre Geheimdienste lange Zeit getan haben. Zumal man auch hörte, dass die KP China gegen lokale Aufstände in China gerne auch Schlägertruppsder organisierten Kriminalität nutzt oder auch gegen die Demorkatiebewegung in Hongkong benutzt haben soll. Das Sicherheitsgesetz dann als ein Kampf gegen und um die Triaden.

Prof. van Ess schrieb uns darauf noch:

  1. „Ja, ich gebe zu, dass der Schluss optimistisch aussieht. Ich glaube, aber dass die KP (oder zumindest ein Teil von ihr) Hongkong tatsächlich als ein potentielles Experimentierfeld angesehen hat, denn die Last der Macht allein zu tragen, ist auf die Dauer durchaus riskant. Vor Corona war es um die wirtschaftliche Entwicklung Chinas gar nicht so positiv bestellt, so dass der wichtigste Legitimationspfeiler für die eigene Herrschaft einzustürzen drohte. Da wäre die Möglichkeit, sich durch mehr demokratische Elemente zusätzlich abzusichern (ohne natürlich die Macht aus den Händen zu geben), eine interessante Option gewesen. Die Demonstrationen in Hongkong haben dies aber unmöglich gemacht. Hätten die jungen Leute da wenigstens ein kleines bisschen klüger agiert, dann hätte man zu einem vernünftigen Kompromiss kommen können. Nach Corona sieht das jetzt sowieso alles ganz anders aus. Erstens kommt China besser aus der Krise als der Westen, so dass sich die KP in dieser Hinsicht nicht mehr so viel Sorgen machen muss, und zweitens hat man den Demonstranten einigermaßen geräuschlos den Hahn zudrehen können.“
  2. „Ja, Kriminalität ist bestimmt ein Thema, bei dem man hier manchmal wegsieht. Allerdings hat Hongkong natürlich selber ein durchaus funktionierendes Rechtswesen (so stellt es sich mir selbst dar). Die Unmöglichkeit der Auslieferung eines Mörders nach Taiwan zeigt schon, dass es durchaus ein reales Problem gibt. Betreffen könnte das grenzüberschreitende Bandenkriminalität in Südchina. Heute stützen allerdings große Teile des Hongkonger Finanzkapitals die Pekinger Regierung, weil auf der Zusammenarbeit ihr Reichtum beruht. Vor einigen Jahren gab es den Fall der Telefonbetrüger, die von Thailand aus in China viele Menschen um ihr Erspartes betrogen hatten. Die hat man unter allgemeinem Beifall einfach mit einer Spezialaktion aus Thailand nach China geschafft. Von Hongkong aus hätte man das mit Sicherheit nicht so leicht tun können. Allerdings gibt es die spektakulären Fälle von entführten Buchhändlern, die in China vor Gericht gestellt hatten, weil sie Xi Jinping’s Ansehen beschmutzt hatten. Es war wohl tatsächlich yellow press, aber das Vorgehen war und bleibt problematisch.“
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