Interview mit Prof. Rahr über Russland: „Die entscheidende Frage wird sein, welches Zivilisationssystem sich letztendlich durchsetzen wird.“

Interview mit Prof. Rahr über Russland: „Die entscheidende Frage wird sein, welches Zivilisationssystem sich letztendlich durchsetzen wird.“

Global Review hatte erneut die Ehre, ein Interview mit Prof. Alexander Rahr, Experte für russische Angelegenheiten, Politikwissenschaftler, Mitglied des Valdai Clubs, Berater von Gazprom für die EU und Autor des Buches „Putin decoded-Russia 2054“, zu führen. Alexander Rahr ist Honorarprofessor am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen und Hochschule für Wirtschaft. Er studierte an der Staatlichen Universität München, arbeitete 1980-1994 für das Forschungsinstitut für Radio Free Europe, das Bundesinstitut für osteuropäische und internationale Studien. Er war Berater der RAND Corporation, USA. Von 1994 bis 2012 leitete er das Russisch / Eurasische Zentrum beim Deutschen Rat für auswärtige Beziehungen. Anschließend konsultierte er die Wintershall Holding und später Gazprom Brüssel zu europäischen Angelegenheiten. Desweiteren ist er auch als Gesprächspartner desöfteren bei Putin zu Gast gewesen. Seit 2012 ist er Programmdirektor beim Deutsch-Russischen Forum. Er ist Mitglied des Petersburger Dialogs, des Valdai Clubs, des Jalta European Strategy Network, Autor mehrerer Bücher über Russland.

 Global Review: Prof. Rahr, Putins Hoffnungen auf einen Deal mit Trump haben sich nicht erfüllt. Während Trump Russland zurück in die G7 bringen und es in eine G-11-Anti-China-Front mit Indien, Südkorea und Australien bringen wollte, lehnte Putin dies ab. Die Beziehungen unter Trump sind schlechter und angespannter geworden. Während Trump die NATO als veraltet bezeichnete, setzte er seine normalen Militärmanöver und militärische Aufrüstung fort und wollte Truppen nach Polen verlegen. Das erhoffte neue Jalta und die Weltordnung blieben ein Chimare. Was hoffte Putin, als er Trump unterstützte, und was hatte Trump Ihrer Meinung nach mit Russland vor? Passten die Interessen nicht zueinander und wie bewerten Sie diese 4 Jahre?

Prof.Rahr: Wäre Trump wiedergewählt worden, hätte er Putin als erstes ins Weiße Haus eingeladen, um mit ihm einen Deal gegen China zu machen. Trump hat Russland respektiert und eine Interessen-basierte Politik einer Werte-orientierten vorgezogen. Das hat den Europäern und dem US-Kongress natürlich missfallen. Trump konnte seine Russland-Politik niemals realisieren. Der Kongress und der amerikanische Deep State ließen eine positive Russland-Politik nicht zu. In der Ära Trump mutierte Russland zum Feind Amerikas, obwohl es dafür keinen Anlass gab. Die amerikanischen Vorwürfe gegen Russland, wie die Hackerangriffe bei der US-Präsidentschaftswahl 2016, waren – aus Sicht vieler neutraler Beobachter – künstlich vorgetragen worden, um eine Eindämmungspolitik gegenüber Russland zu rechtfertigen.

Die USA haben nicht erst seit der Ukraine Krise 2014 und dem Russlands Intervention in Syrien 2015 erkannt, dass Russland seinen Großmachtstatus in der Welt mittels seiner Militärkraft wiederherstellen gewollt war. Da die Sanktionen, die der Westen nach der Krim-Annexion gegen Russland verfügten, wenig fruchteten und auch der niedrige internationale Ölpreis Russlands Wirtschaft nicht beschädigte, griffen die USA nach der nächsten Waffe, um Russland geopolitisch in die Schranken zu weisen: Verbot von Nord Stream II, Zerstörung der deutsch-russischen Erdgasallianz, Hinausdrängeln des russischen Erdgashandels aus Europa. Die Ironie der Geschichte war, dass Trump die amerikanischen Eindämmungsversuche gegen Russland unbemerkt abzumildern versuchte, indem er sie zwar ankündigte, seine Regierung sie aber nicht wirklich vollstreckte. Doch Trump konnte sich während seiner vierjährigen Amtszeit nur ein einziges Mal länger mit dem russischen Präsidenten Putin zusammentreffen – 2018 in Helsinki. Seine eigene Regierung und der Kongress torpedierten jedoch jegliche Anstrengungen, das Verhältnis zu normalisieren. Der Deep State entpuppte sich außenpolitisch stärker als der US-Präsident. 

Global Review: Moskau und Peking gratulierten Biden zu Beginn nicht und nach XI war Putin der letzte Staatsmann, der Biden zu seinem Sieg gratulierte. Hatte er immer noch gehofft, Trump könnte wieder an die Macht kommen? Er scheint jedoch zu akzeptieren, dass er 4 Jahre mit einem demokratischen US-Präsidenten und einer demokratischen Regierung zu kämpfen hat. In seiner jährlichen Pressekonferenz erneuerte Putin seinen Vorschlag, über Rüstungskontrolle und seine Hoffnung zu sprechen, dass die USA unter Biden nicht so schlecht sein könnten. Wie steht Putin Ihrer Meinung nach zur neuen US-Regierung?

Prof. Rahr: Putin hat Biden nicht, wie die Europäer, sofort gratuliert, sondern mit der verzögerten Anerkennung des Wahlsieges auch Trump ein Signal der Solidarität geschickt. Falls Trump 2024 noch einmal antritt, hofft Putin auf ein besseres Verhältnis zu ihm. Putins außenpolitische Agenda hat sich durch Bidens Sieg nicht geändert. Russland will seinen Großmachtstatus in der Welt zurückgewinnen und fordert von der internationalen Gemeinschaft Respekt. Russland will, dass die Weltgemeinschaft russische Interessen anerkennt. Dass Biden den Abrüstungsdialog mit Russland wieder aufnehmen will, entspricht Putins Wünschen, als Atommacht respektiert zu werden. Putin wird Biden denselben Vorschlag machen, wie auch Trump: die Führer der Ständigen Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrates sollen sich treffen und eine neue post-Jalta-Weltordnung definieren. Damit sichert sich Russland für die nächsten Jahrzehnte seinen Großmachtstatus nebst Einflusszone auf dem postsowjetischen Territorium. Putin rechnet damit, dass – trotz gegenwärtiger Anzeichen in diese Richtung – die Politik des nächsten Präsidenten nicht auf ultraliberale Dogmen setzt, sondern wieder pragmatischer wird.

Aus russischer Sicht verändert sich die Mentalität der US-Führungselite gewaltig. Der „weiße Amerikaner“ hat, mit seinen traditionalistischen US-Werten dort weniger zu sagen. Vertreter ethnischer Minderheiten, die bald keine Minderheiten in den USA mehr sein werden, könnten in der Ära Biden damit beginnen, Amerika von ober her umzugestalten. Das Amerika-First von Trump wird dann einem radikalen Wandel unterzogen. Wenn die Anführer der ethnischen Minderheitsgruppen aber damit beginnen sollten, die Black-Life-Matters Ideologie auf die Auenpolitik umzustülpen, wird Russland wieder mit dem Vorwurf konfrontiert sein, sexuelle Minderheiten im eigenen Land zu verfolgen.   Da Biden offenkundig eine gemeinsame globale Menschenrechtsagenda mit den europäischen Verbündeten plant, dürfte sich die gemeinsame Haltung des Westens gegen Russland Richtung größerer Konfrontation verschieben. Auf dem Valdai Klub im Oktober hatte Putin angedroht, dass eine weitere Eindämmungspolitik des Westens gegen Russland ein Militärbündnis Moskaus mit Peking zur Folge haben würde. Putin begegnet dem Westen mit Stärke, mahnt gleichzeitig deutsche Politiker, Russland nicht mit der gleichen Härte zu begegnen. Eine Spaltung des Westens, auf die Russland in der Ära Trump gehofft hatte, ist nicht eingetreten. Dass bedeutet jedoch nicht, dass die Einigkeit des Westens tatsächlich wiederhergestellt worden ist.

Global Review: Glauben Sie, dass Bidens zukünftige Außenpolitik sich stark von der Nationalen Sicherheitsstrategie 2017 unterscheiden wird, die sich auf China und Russland als revisionistische Mächte und Iran und Nordkorea als Schurkenstaaten konzentrierte, während der Islamismus keine zentrale Rolle mehr spielte? Biden hatte in der Foreign Affairs 3 programmatische Artikel über Außenpolitik, geschrieben 2 im Allgemeinen, einen über Russland. Glauben Sie, er wird sich mehr auf Russland als auf China konzentrieren, Peking-Biden sein und den Iran-Deal erneuern? Was erwarten Sie?

Prof. Rahr: Bidens Außenpolitik wird weiterhin China und Russland als Gegner betrachten. Die USA sind nicht gewillt, diese beiden Großmächte an der Neugestaltung der multipolaren Welt Zugeständnisse zu machen. Die USA werden auch unter Biden Moskau und Peking mit aller Macht zu schwächen versuchen. Die europäischen Verbündeten werden da sogar weniger Entscheidungsfreiheiten bekommen, als sie es unter Trump hatten. Andererseits wird Biden sich – jedenfalls in den ersten Monaten – intensiv mit den europäischen Verbündeten absprechen, allen voran Deutschland. Schätzungsweise wird es zu einem neuen Iran-Atomdeal kommen, um dem Iran die allerletzte Chance zu geben, endgültig auf nukleare Waffen zu verzichten. Wird das transatlantische Bündnis wieder zusammenwachsen? Sicherlich ja, aber es wird seine einstige Stärke verlieren. Die Tatsache, dass sich die Welt nach 30 Jahren von einer unipolaren Ordnung zu einer multipolaren wandelt, kann niemand mehr verhindern. Der Westen wird auch für Jahre hinaus von der Covod-19 Pandemie geschwächt sein. Der Westen wird die gesamte Biden Amtszeit benötigen, um die wirtschaftlichen Verluste der Pandemie wieder auszugleichen. Innenpolitik wird in den westlichen Staaten zunächst Vorrang vor der Außenpolitik bekommen. Am Ende seiner Präsidentschaft wird die Welt dreigeteilter. Neben dem transatlantischen Block wird es eine Allianz eurasischer Staaten mit China geben – die, ganz nach George Orwells Roman 1984, ein Gegengewicht zum Westen bilden wird. Als dritter Block kommt der Islamismus in Erscheinung, er ist keinesfalls besieht und wird sich über Afrika und den Mittleren Osten ausbreiten. Der Westen hat nicht dir Möglichkeiten, das zu verhindern.

Global Review: Während Russland und die Türkei in Lybien und zusammen mit dem Iran in Syrien ein Abkommen vermittelten, das Interessenssphären definierte, initiierte, unterstützte Erdogan einen neuen Krieg im Caucusus, der nun zu einem Waffenstillstand führte. Er etablierte die Türkei jedoch als neue Regionalmacht im Kaukasus und in Zentralasien und versucht auch, engere Kontakte zum atomar bewaffneten Pakistan zu knüpfen. Bei der militärischen Siegesparade in Aserbaidschan erklärte er jedoch, dass das Abkommen nicht das Ende des Kampfes sein würde, und zitierte auch ein Gedicht, das Aserbeidschans Grenze zum Iran in Frage stellte. Nachdem die USA und die EU Sanktionen gegen die Türkei verhängen wollten, erklärte Erdogan nun, er wolle die Vergangenheit kürzen und die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zurücksetzen. Wie werden sich Ihrer Meinung nach die Beziehungen zwischen der Türkei, Russland, China, dem Iran, den USA und der EU entwickeln? Und ist Erdogan ein verlässlicher Partner oder wird er nie gesättigt sein?

Prof. Rahr: Ich bin kein Türkei-Experte. Ich denke aber, dass Erdogan von seinen geostrategischen Plänen, den alten Einflussbereich der Osmanen um seine Türkei wieder herzustellen, nicht lassen wird. Ein verstärkter Einfluss der Türkei im Nahen und Mittleren Osten und in Nordafrika ist weder für den Westen noch für Russland eine Katastrophe. Beide Seiten hoffen, dass die Türkei dort den Islamismus aufhält und untergräbt. Für Russland ist das Vordringen der Türkei in den Kaukasus und Zentralasien ebenfalls tolerierbar. In Zentralasien wird Erdogan den Einfluss Chinas schmälern, im Kaukasus wird er die Aufstellung von NATO-Basen verhindern. Besser Erdogan, als die USA – sagt sich der Kreml. Probleme wird Erdogan mit der EU bekommen, solange die EU gegenüber der Türkei eine Werte-orientierte Außenpolitik macht. Erdogan weiß, dass er die EU mit seiner Flüchtlingspolitik erpressen kann, um Zugeständnisse für sich herauszuholen. Diese Situation wird sich kaum ändern. Ich denke, dass es zwischen EU und der Türkei zum offenen Bruch kommen wird. Möglicherweise wird die Türkei aus der NATO austreten und sich an den strategischen Allianzen in Eurasien beteiligen. Falls Erdogan seine Verbündeten Azerbajdschan dazu animiert, territoriale Forderungen an den Iran zustellen (ein Großteil der azerbajdschanischen Ethnie lebt in Persien), wird es zwischen Ankara und Teheran zum Konflikt kommen. Angesichts der geopolitischen Ambitionen Erdogans ist eine solcher Konflikt nur eine Frage der Zeit.

Global Review: Nachdem Trump Putins Vorschlag, den START-Vertrag um ein Jahr zu verlängern, abgelehnt hatte, drohte Putin im Valdai Club mit einem militärischen Bündnis mit China und sagte, er habe nichts gegen ein China, das seine ICBM-Zahl auf 1500 erhöhen würde wie Russland und die USA es haben. Die Global Times forderte auch, dass China seine ICBM-Arsenale erweitern sollte. Der frühere NATO-General Domroese glaubt, dass ein Militärbündnis keine solche Gefahr darstellt, da weder Xi noch Putin der anderen Macht folgen würden und es militärisch das strategische Gleichgewicht nicht wesentlich verändern würde. Wie werden sich Ihrer Meinung nach die Beziehungen zwischen Russland, China und den USA entwickeln? Stehen wir am Beginn eines neuen Wettrüstens und wie könnte dies verhindert werden?

Prof. Rahr: China wird sich nicht in die Abrüstungsinitiativen der USA und Russlands hineinziehen lassen; es wird weiter aufrüsten, demnächst eine bemannte Mondlandung organisieren und dann Waffen im Weltraum stationieren. China wird, nach Expertenmeinung, schon 2028 die USA wirtschaftlich wiederholen. In den 2030er Jahren wird China der Welt stärkste Militärmacht sein. In Moskau weiß man das, und trifft Vorkehrungen – weniger konfrontativer als kooperativer Art. Moskaus Ziel ist es, zusammen mit China den Westen zu schwächen, wobei Moskau gegenüber dem Westen keine feindlichen Ziele verfolgt. Russland will seinen angestammten Großmachtstatus im europäischen Konzert der Mächte, den es 1815 im Wiener Kongress nach dem Sieg über Napoleon, sowie 1945 in Potsdam nach der Zerschlagung Hitler-Deutschlands gewonnen hatte, wiederhaben.

Global Review: Die chinesisch-indischen Beziehungen haben sich verschlechtert. Indien ist dem RCEP nicht beigetreten, engagiert sich stärker im Quad und verhängt Sanktionen gegen chinesische Importe und IT-Unternehmen. Wenn Russland mit einem militärischen Bündnis mit China droht, könnte dies Indien näher an die USA und gegen Russland und China bringen. Wie werden sich Ihrer Meinung nach die russisch-indischen Beziehungen entwickeln und welche Rolle soll Russland im asiatischen Dreh- und Angelpunkt und im Indopazifik spielen?

Prof. Rahr: Russland hat traditionell gute Beziehungen zu Indien und Indien wird sich von den USA keinesfalls in eine Eindämmungspolitik gegen Russland (und China) einspannen lassen. Indien wird, anders als die Europäer, niemals eine zweitrangige Bündnisrolle unter einer Führung Washingtons akzeptieren, dafür das Land zu stolz und zu mächtig. Man sollte die Kooperation Indiens in der von China und Russland angeführten Schanghai Organisation für Zusammenarbeit nicht unterschätzen. Um diese Organisation herum formiert sich gerade eine künftige asiatisch-eurasische Sicherheitsarchitektur. Für China, Indien und Russland gilt es, dass das Vakuum im Mittleren Osten, das nach dem Abzug der USA entsteht, nicht durch Islamisten aufgefüllt werden wird. Die USA haben sich aber auch aus Asien unter Trump herausgezogen, in Asien ist die größte Wirtschaftszone der Welt unter chinesischer Führung entstanden. Das sind die wahren Herausforderungen, vor denen Europa und der Westen stehen. Leider werden sie nicht richtig konzipiert. In Asien nimmt die neue multipolare Weltordnung Gestalt an, während die Europäer sich an den Rockzipfel Bidens klammern werden, um die alte Welt zu retten. 

Global Review: Während der frühere US-Präsident Trump die NATO für „obsolet“ und Macron für „hirntot“ erklärte. Eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers Thomas de Maizierre und des US-Amerikaners Wess Mitchell, stellvertretender Staatssekretär für europäische und eurasische Angelegenheiten von Oktober 2017 bis Februar 2019, schrieb einen NATO-Bericht 2030 und möchte die oft tot gesagte NATO zu neuen Ufern führen Die Frankreich hat die Ergebnisse des Berichts bereits unterstützt, und im nächsten Jahr könnte auf dem NATO-Treffen eine neue NATO-Strategie beschlossen werden. Glauben Sie, Putin wird von einer neuen NATO beeindruckt sein?

Prof. Rahr: Ich denke die neue NATO-Strategie wird nichts anderes bedeuten, als dass neuer Wein in alte Schläuche gegossen werden wird. Die NATO kann reaktiviert werden – aber dann benötigt es ein klares Feindbild, mehr Kampfesmut in den eigenen Reihen, eine klare Führung und langfristige Ziele. Im Kalten Krieg war die NATO ein rein defensives Bündnis. Doch die neue Strategie könnte von außerhalb des Westens als Versuch gewertet werden, die Weltherrschaft an sich zu reißen. China, Russland und andere Staaten werden ihrerseits aufrüsten, der Weltfrieden wird in ernsthaft Gefahr geraten. Macron hat mit seiner Behauptung, die NATO sei „hirntot“ nicht so Unrecht.

Die größte Leistung des Bündnisses ist es, West- und Mittelosteuropa konsolidiert zu haben. Doch weiter ist die NATO nicht gekommen. Den Russen ihre Einflusssphäre im postsowjetischen Raum abspenstig zu machen schafft die NATO nicht, denn inzwischen funktioniert dort das Militärbündnis der Organisation des Paktes der Kollektiven Sicherheit (einiger ehemaliger Sowjetrepubliken). Im Krieg in der Ostukraine kann die NATO keine Rolle spielen, sie hält sich raus. Rausgehalten hat sie sich auch im Krieg um Bergkarabach (2020). Im Mittleren Osten – Irak, Afghanistan – spielt sie als Bündnis keine Gestaltungsrolle. Für einen Krieg gegen China ist die NATO nicht gerüstet. Die NATO verhindert, dass die Europäer in die Lage versetzt werden, eine eigene schlagkräftige Armee und Rüstung aufzubauen, so wie es Macron als einziger Europäer möchte. Die Funktion der NATO wird weiterhin sein, den US-Einfluss über Europa aufrechtzuerhalten. Das funktioniert solange, bis es zwischen den Amerikanern und Europäern keinen größeren Streit gibt.

Global Review: Der Medienrummel um Weißrussland und Nawalny scheint vorbei zu sein, während die Demonstrationen gegen Lukachenkov fortgesetzt werden. Es gab keine neuen Sanktionen gegen Russland und nur einige sanfte Sanktionen gegen Weißrussland. Die USA berichten jedoch, dass es einen riesigen Cyberangriff auf US-Ministerien, Institutionen und Unternehmen durch russische Hacker-Gruppen gegeben hat, die dem russischen Militärgeheimdienst angeschlossen sind, und Biden sagte, er werde den Angreifer zur Rechenschaft ziehen. Was wird die Konsequenz in den US-russischen Beziehungen sein?

Prof. Rahr: Der Fall Nawalny wird das deutsch-russische Verhältnis noch lange belasten. Ich denke nicht, dass die USA ihre neue Außenpolitik sofort mit aggressivem Handeln in Bezug auf Russland beginnen werden. Biden wird sich die Weltlage ernsthaft ansehen, mit den Verbündeten konsultieren und dann entscheiden. Russland hat den Amerikanern Deeskalation im Cyberkrieg angeboten. Das Angebot ist nicht vom Tisch.

Global Review: In diesem Moment verdichten sich die parlamentarischen Mehrheiten in Schweden zunehmend zu einer NATO-Mitgliedschaftsoption. Zumindest ist diese Option kein Tabu mehr. Putin hat anscheinend gute Arbeit geleistet. Jetzt vertrauen nicht einmal mehr die von Neutralität besessenen Schweden Russland. Was für eine Veränderung seit der Zeit von Olaf Palme. Anscheinend haben das nicht einmal die Sowjets geschafft. Eine Tendenz Schwedens, der NATO beizutreten, würde dazu neigen, seine Ausrichtung nach Osten gegenüber Russland im Vergleich zu Macrons Ausrichtung nach Süden zu stärken. Wie würde Putin wohl reagieren, wenn Schweden und Finnland NATO-Mitglieder würden?

Prof. Rahr: Finnland wird der NATO nicht beitreten, dafür gibt es in diesem Land keinen Konsens. In Schweden dagegen schon. Für Russland ist eine schwedische Mitgliedschaft in der NATO kein feindlicher Akt, denn Russland hat bereits den Betritt der baltischen Länder zur NATO „geschluckt“. Anders wird es kommen, wenn die Ukraine und Georgien von der neuen Biden-Administration neue Beitrittsangebote erhalten. Russlands Reaktion auf diese Schritte ist schlecht abzuschätzen, aber es wird eine krachende Reaktion geben. Die Biden-Administration mag hoffen, dass Putins Tage im Kreml gezählt sind und das russische Volk sich einen anderen Anführer wünscht. Nicht ausgeschlossen sind westliche Versuche, Putins Abgang künstlich zu beschleunigen. Erreicht wird dadurch nur das Gegenteil.

Im Westen fehlt es heute an der richtigen Russland-Analyse. Die Think Tanks haben ihre Russlandexpertise verloren, verfallen in Wunschdenken. Putins Nachfolger wird kein pro-westlicher Liberaler sein, sondern eher ein nationalistischer Falke. Nawalny mag nach Russland zurückkehren, vielleicht kann er tatsächlich in die Politik eintreten und an den Präsidentschaftswahlen 2024 teilnehmen. Doch Mehrheiten wird er in der russischen Bevölkerung, die in ihrer Gesamtheit immer noch dem Verlust der UdSSR nachtrauert und vom Westen nur Feindschaft erwartet, nicht finden.

Global Review: Wie wird Putins Perspektive für die kommenden Jahre sein? Wird er versuchen, seine Macht zu festigen und zu erweitern, und auf die nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA und Frankreich zu warten, in der Hoffnung, dass Trump wieder auftaucht oder ein Trump-ähnlicher Republikaner und Marine Le Pen Macron stürzen, sich vom Euro und der NATO zurückziehen und die NATO und die EU in ihrer größten Krise nach dem Brexit bringen könnten?

Prof. Rahr: Eine sehr gute Frage: was ist Putins Langzeitstrategie. Einfach ist die Antwort darauf nicht. Ich habe versucht, sie in meinem Buch „2054: Putin decodiert“ zu finden. Die Antwort hängt von den Umständen und der globalen Weltlage ab. Putin versucht zu erahnen, wie die Welt in 25 Jahren aussehen wird und die Grundlagen für den Erfolg Russlands in dieser Zeit zu legen. Aber er wird sich eingestehen müssen, dass Russland nicht mehr die Kraft hat, die einst die Sowjetunion als Gestaltungsmacht auf diesem Planeten besessen hatte. Er wird anders operieren müssen. Aber er ist entschlossen, für die globalen Ansprüche Russlands zu kämpfen, wofür er im Westen Gegnerschaft erntet. Niemand im Westen will ein starkes, nichtdemokratisches Russland in Osteuropa sehen. Putin wird – und dafür hat er die Verfassung geändert – versuchen, ein neues traditionalistisch-konservatives Wertesystem im Russland zu schaffen, an dem sich andere Staaten, auch die Mittelosteuropas, orientieren könnten. Einer Kampfansage an das liberale Werte-System Westeuropas geht er nicht aus dem Weg.

Die entscheidende Frage wird sein, welches zivilisatorische System sich am Ende durchsetzt. Putin hofft, dass er Unterstützung in Asien findet. In der EU wird man sich immer bewusster, dass ein neuer Wettbewerb der Systems Realität wird. Die Freiheit, Aufklärungsgedanke, das römische Recht – der Westen wird es niemals einer Zäsur unterziehen, auch wenn der Druck seitens immer stärker werdender autoritärer Staaten und Herrscher immer größer wird. Genau das ist das Spannungsfeld der 2020er Jahre, mit dem wir es zu tun bekommen.

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