Weltwandel-Neuausrichtung der internationalen Beziehungen und NATO 2030

Weltwandel-Neuausrichtung der internationalen Beziehungen und NATO 2030

Autor: General a.D. Klaus Naumann, 1939 in München geboren, war Soldat von 1958 bis 1999 . Generalinspekteur der Bundeswehr war er von 1991 bis 1996, anschließend bis 1999 ranghöchster Offizier der NATO als Vorsitzender Militärausschuss. Seit 1999 zahlreiche ehrenamtliche Tätigkeiten in nationalen und internationalen Gremien.

Die Leistung der NATO: Europas längste Friedenszeit

Vorspann:

Auf die Beschreibung des bisherigen Beitrags der NATO und der Welt des Jahres 2021 werden die wahrscheinlichen Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte beschrieben und die daraus entstehenden globalen Herausforderungen. Dem folgen Vorstellungen für eine NATO Strategie in entgrenzten Konflikten und zur politischen  Gestalt der neuen NATO.

Die NATO hat seit ihrer Gründung 1949 die Demokratien Nordamerikas und Europas während des Kalten Krieges geschützt und erfolgreich Krieg verhindert, sie hat nach Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes ab 1991 geholfen die Teilung Europas zu überwinden und sie hat ab 2001 durch weltweite Einsätze im Kampf gegen den Terrorismus verlässlich zur Sicherheit der Bündnismitglieder beigetragen. Gegründet als Bündnis gegen die frühere Sowjetunion hat sie sich kontinuierlich an die Veränderungen der Lage angepasst und sich vom Bündnis gegen zu einem Bündnis für den Schutz freiheitlicher demokratischer Rechtsstaaten entwickelt. Die NATO, ohne die es nicht gelungen wäre, die Einheit Deutschlands im Einvernehmen mit Allen friedlich zu erreichen, ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Doch gerade deshalb wird immer wieder die Frage gestellt, ob man sie eigentlich noch brauche, denn es könne doch mit Recht gesagt werden: „Mission accomplished“, Auftrag ausgeführt.

Die NATO ist aber, trotz mancher Mängel und bedauerlicher Lücken in den Fähigkeiten der Bündnispartner, USA ausgenommen, noch immer das einzige leistungsfähige Instrument europäischer Sicherheit und sie wird auch künftig die einfach unersetzliche Klammer sein, die Europas Sicherheit mit der Nordamerikas verknüpft. Dies muss in einer Zeitenwende betont werden, in der Stimmen laut werden, die in Überschätzung der eigenen Fähigkeiten und im Verkennen strategischer Unabänderlichkeiten fälschlich europäische Autonomie fordern oder in utopischer Fehleinschätzung glauben, alle Konflikte ließen sich durch Dialog lösen.

Zwei der seit mehr als 70 Jahren fortbestehenden strategischen Unabänderlichkeiten seien schon vorweg genannt: Erstens, geostrategisch ist Europa nur zu verteidigen, wenn der Nordatlantik von den Bündnispartnern als „Mare Nostrum“ zu sehen ist und, zweitens, es ist die allein zu nuklearem Schutz fähige USA, die Russland, aber auch alle anderen Nuklearwaffenstaaten darin hindert, mit Atomwaffen die NATO-Staaten zu bedrohen oder sie gar einzusetzen. Die gegenseitige Beistandsverpflichtung muss weiterhin erhalten bleiben. Sie bleibt die entscheidende Versicherung für das vom Schutz der NATO in einer unruhigen Welt so abhängige Europa und sie gibt den USA die Legitimität, die ein „America Alone“ niemals geben kann. Die drei Säulen transatlantischer Sicherheit: Kollektive Verteidigung, gemeinsame Krisenbewältigung und Gestaltung kooperativer Sicherheit sind unverändert gültig ebenso wie der Blick auf die Gefahren im Umkreis von 360 Grad.

Kennzeichen einer Welt in anhaltendem Wandel

Die Welt 2021

Corona hat 2020 die Welt tief verwundet und nachhaltig, in Teilen dauerhaft, verändert.  Weder die Rückkehr zur globalisierten Welt der letzten beiden Jahrzehnte, die so viele Annehmlichkeiten, aber auch viele Probleme brachte, noch zur gewohnten multilateralen Ordnung wird möglich sein. Alte Probleme werden bleiben, neue werden dazukommen, aber die lieb gewordenen Annehmlichkeiten bleiben weg. Aber auch ohne Corona, die keineswegs die letzte Pandemie gewesen sein dürfte, wäre die Welt 2021 eine völlig andere.

Dazu nur vier Punkte:

Erstens, im Europa einer durch Nationalismus zerbrechlichen, aber schutzbedürftigen EU trat weitere Schwächung durch die Absage der USA an multilaterale Bindungen und Verträge ein, also durch die immer noch einzige wahrlich globale Macht dieser Welt. Gleichzeitig trumpfte ein letztlich schwaches Russland auf, durch ruinöse nukleare Überrüstung und aufwändige Machtprojektion im Nahen Osten, in der Ukraine und im Kaukasus.

Zweitens, es beginnt wohl eine globale Konfrontation USA – China, eingeleitet durch Trumps kurzsichtige Kündigung von TPP und ausgenützt von Chinas „Drei.-Komponenten Strategie: Der neuen Seidenstraße einschließlich des Aufbaus einer militärischen Projektionsfähigkeit, des Technologie Konzeptes China 2025 und des Angebots einer neuen, von China bestimmten Weltordnung, die der Freiheit des Einzelnen keinen Raum lässt und seine Rechte ebenso wie internationales Recht dem Interesse der von Beijing gelenkten Gemeinschaft unterordnet.

Anfang November 2020 erlebte die Welt mit dem wohl mächtigsten wirtschaftlichen Zusammenschluss der Welt, der Regionalen Umfassenden Wirtschaftspartnerschaft  RCEP, den nächsten Schritt in der Umsetzung dieser Strategie. Fünfzehn Staaten der asiatisch-pazifischen Welt, darunter Demokratien wie Australien und Japan, haben sich unter Führung Chinas zusammengeschlossen. Sie vertreten 2,2 Milliarden Menschen und 30% des Welthandels. Niemand wird an RCEP vorbeikommen, weder die USA noch die damit fast marginal gewordene EU, die in den letzten Jahren Chinas Griff nach kritischer Infrastruktur und entscheidender Technologie ebenso wie die Einvernehmen sprengende, von China diktierte 16+1 Erklärung reaktionslos hingenommen hat.                                           

Drittens, in diesem Moment der Herausforderung erfolgte die Absage der ermüdeten Amerikaner an die Rolle des Weltpolizisten. Sie könnte dauerhaft sein, denn die Mehrheit in der zutiefst gespaltenen amerikanischen Gesellschaft will nicht länger die Risiken für andere und oft allein tragen. Die Schutzmacht der Werteordnung des Westens dankt ab, das Vertrauen in die Macht des Rechts schwindet und die Furcht vor der Macht des Stärkeren wächst.

Viertens, auch Europa erkennt endlich, dass Sicherheit in der Welt der Zukunft grundsätzlich global zu sehen ist. Kaum eine Krise dürfte noch regional und nur mit militärischen Mitteln bewältigt werden können. Moderne Mittel im Spektrum von social media über Cyber bis Künstliche Intelligenz können Konflikte noch vor dem Einsatz militärischer Macht entscheiden. Damit wird Bedrohung diffuser, Reaktionszeiten gehen gegen Null und Abschreckung wird fast unmöglich.

Das heißt als Fazit: China ist nun der Herausforderer im Ringen um die Vormacht in der Welt. Europa kann diese Entwicklung nicht verhindern, dazu ist es zu schwach, aber es muss klar sehen: Der Preis für den amerikanischen Schutz Europas wird klare Positionierung, besser die Neubelebung der Partnerschaft sein. Die üblichen Worthülsen und vor allem deutsche Unbestimmtheit reichen nicht mehr.

In der Zukunft gilt:

Erstens, Europas Verhältnis zu China bestimmt trotz amerikanischen Festhaltens an gebotener, aber sicher verminderter Kooperation die Zukunft der transatlantischen Beziehungen, der Streit um militärische Zusagen bleibt, sie sind zu erfüllen, werden aber nachrangig, und,

zweitens, die USA werden, wie seit Obama, mehr pazifisch und weniger europäisch sein. Dafür spricht auch die demografische Entwicklung in den USA: Die Mehrheit der US- Bürger wird bald asiatische, lateinamerikanische oder afrikanische Wurzeln haben.

Das alles bestätigt der Bericht der Reflexionsgruppe der NATO, der am 1. Dezember 2020 vorgelegt wurde. Er verlangt Europas Verteidigungsfähigkeit sicherzustellen und wird Grundlage des endlich neu zu erarbeitenden Strategischen Konzepts sein. In ihm sind, die wahrlich globalen Veränderungen ebenso zu berücksichtigen wie künftige Konfliktformen, die man als entgrenzt, als Kampf um die Informationsüberlegenheit und als durch Automatisierung beschleunigt bezeichnen kann. In weiteren Arbeitsschritten werden die Zukunft der NATO, ihre Strategie in den neuen Konfliktformen und dabei sicher auch das Verhältnis von Reaktion und Prävention sowie die Optionen zum Gewinnen der konfliktbeenden Initiative und Prävention zu erörtern sein.

Übergeordnet wird jedoch ein systemischer Konflikt sein: Die freiheitliche Werteordnung des Westens wird herausgefordert durch den Anspruch Chinas, eine neue, attraktivere Werteordnung anbieten zu können. Dieser Herausforderung müssen die NATO-Staaten durch Resilienz der eigenen Demokratien und durch die glaubhafte Fähigkeit der NATO, die freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaaten des Bündnisses verlässlich schützen zu können, begegnen.

Das ist der Hintergrund. Doch weiter ist zu bewerten, welche Kennzeichen des Weltwandels auch über 2030 erkennbar sind und welche Risiken und Gefahren daraus erwachsen. Daraus ist die Rolle der NATO im Weltwandel abzuleiten.

Dafür vorrangig ist Europas Antwort auf die Frage, wie es die Bindung der USA an Europa festigen kann und was es tun muss, um im unverzichtbaren Instrument transatlantischer Sicherheit, der NATO, Partner der USA auf Augenhöhe zu sein. Nur dann wird das Bündnis von den Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks als Anker und Versicherung in einem vermutlich stürmischen Weltenwandel bejaht und unterstützt werden.

Die Welt nach 2030

Prognosen sind immer schwierig, in Zeitenwenden ganz besonders, aber einige generelle Entwicklungen zeichnen sich ab. 

1.    Die Entwicklung einer Welt mit vielen regionalen Machtzentren ohne eine unumstrittene Ordnungsmacht dürfte anhalten. In ihr bleiben die USA zunächst, trotz der von Präsident Trump bewirkten Beschädigung des Vertrauens in die USA und multilaterale Ordnung, die einzige in allen Machtkategorien global handlungsfähige Macht. Sie dürften sich zwar zunehmend nach innen wenden, aber sie werden sich nicht von der Welt abwenden und sie werden sich der Herausforderung China stellen. China dürfte auch 2030 noch immer Herausforderer sein, obwohl es sich weiter um überregionale, auch militärische Handlungsfähigkeit bemühen wird. Volle globale Handlungsfähigkeit dürfte China allerdings kaum vor Mitte des Jahrhunderts erreichen. Chinas großer Vorteil in dieser Auseinandersetzung ist, dass es seine kohärente langfristige Strategie Schritt für Schritt umsetzen dürfte. China hat aber erhebliche innere Schwächen, Hongkong wie das Behandeln der Uiguren zeigen das. Diese Achillesfersen begrenzen seine Spielräume und sie sind gegen China nutzbar.

2.    Die Welt wird zunehmend urbanisiert sein mit riesigen, kaum noch regierbaren Städten, in der neue, leicht zu nutzende Technologien und auch künstliche Intelligenz vermehrt durch international kooperierende Kriminelle genutzt werden dürften. Das Gewaltmonopol der Staaten könnte daran zerbrechen. Innerstaatliche Konflikte könnten zunehmen, es dürfte noch mehr unregierbar werdende und schließlich zerfallende Staaten geben. Daraus könnten auch Konflikte zwischen Staaten entstehen.

3.    Denkbar erscheint die Bildung riesiger industrieller Kartelle, die zwar noch in einem Staat ihr Hauptquartier haben, aber global fertigen und sich jeder nationalen Kontrolle, ja sogar jeglichem politischen Einfluss ihres Stammlandes entziehen. Sie könnten mächtiger werden als jede Regierung dieser Welt und sie werden nur den Gesetzen des Marktes und ihren Interessen folgen. Sie agieren ohne demokratische Legitimation, aber mit größerer Finanzkraft als die Staatenwelt.

4.    Auch eine Welt, in der die gewohnten Ordnungen von Staaten und Gesellschaften, auch hier in Europa, zerbrechen könnten, ist nicht auszuschließen. Sollten die freiheitlichen Rechtsstaaten sich als unfähig erweisen mit den zunehmend komplexer werdenden Fragen der Zukunftssicherung fertig zu werden und weiterhin, wie heute, durch das bequemes „Weiter wie bisher“ Wohlstand verbrauchen, dann könnte die Resilienz der Demokratien in Gefahr geraten, vielleicht sogar verloren gehen.

Übergeordnet aber, allerdings teilweise nicht ähnlich sicher vorhersehbar, dürften die Auswirkungen des globalen Klimawandels und der Demographie sein. Der Klimawandel kann noch durch das Handeln der Staatenwelt beeinflusst werden, obwohl Ausmaß und Erfolgsaussichten derzeit noch offen sind. Die demographischen Entwicklungen dagegen sind bis zur Mitte des Jahrhunderts berechenbar, können allerdings durch den Klimawandel so verschärft werden, dass daraus globale Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage entstehen könnten. Dazu nur zwei Beispiele:

Vor der Haustür des von der Freiheit der Seewege abhängigen Europa liegt eines der am stärksten vom möglichen Klimawandel betroffenen Seegebiete der Welt, der Arktische Ozean. Er könnte ganz oder für den überwiegenden Teil des Jahres in den nächsten 20 Jahren eisfrei werden. Es wird dort neue Abbaumöglichkeiten geben, immerhin werden dort 15 % der Öl- und 25 % der Gasreserven der Welt sowie erhebliche Vorkommen an Mineralien und Metallen vermutet, und es wird vor allem neue, 5000 Seemeilen kürzere Seewege nach Asien geben. Das bedeutet eine Woche weniger Seefahrt und neue Herausforderungen für die Kontrolle eines riesigen, bislang kaum überwachten Seegebietes. Alle Nationen Europas hängen von der Nutzung der Hohen See ab. Wird sie verweigert, ist das Überleben aller NATO- und EU- Staaten in Gefahr.

Am dramatischsten jedoch werden die Folgen des Klimawandels bei der Trinkwasserversorgung und bei der Nahrungsmittelproduktion sein. Dazu nur ein Beispiel: Hält das Abschmelzen der Gletscher des Himalayas an, dann wird die Trinkwasserversorgung von rund zwei Milliarden Menschen gefährdet sein. Abwanderungen würden folgen. Das Zusammenwirken von Klimawandel und Demographie kann Migrationsdruck erzeugen. Daraus können Konflikte bis hin zu Klimakriegen entstehen, Darfur steht als Beispiel.

Es entsteht eine Welt ohne Weltordnung und ohne verbindende Werteordnung. In ihr gibt es die alten Konfliktursachen wie territoriale Ansprüche, ethnische Probleme und religiöse Spannungen. Doch hinzukommen verschärfend demographische Verschiebungen, Ressourcenknappheit und die Folgen technischer und wirtschaftlicher Ungleichgewichte.

Europa beispielsweise muss mit seinen wie in Russland alternden und schrumpfenden Gesellschaften Zusammenhalt, Wohlstand und ein gewisses Maß an sozialer Sicherheit wahren und muss gleichzeitig dem auch ohne Klimawandel steigenden Bevölkerungsdruck aus Afrika zu begegnen, – die Bevölkerung Afrikas wird bis 2050 um vermutlich 2 Mrd Menschen wachsen. Auch die Bevölkerung des Mittleren Ostens wird zunehmen und noch jünger werden. Millionen von Flüchtlingen aus dem Süden Afrikas könnten, getrieben von Durst und Hunger, auf dem Weg nach Norden sein. Dem zu durch Hilfe zu begegnen und Flucht durch Anreize zu bleiben zu verhindern ist nicht Aufgabe der NATO, aber Überlebensfrage vieler NATO-Staaten. Ohne Lösung aber gibt es keine Sicherheit für die NATO-Staaten.

In Nordamerika dagegen nimmt die Bevölkerung zu und bleibt so jung wie heute. Das Bevölkerungswachstum in Afrika und der arabischen Welt ist somit zwar ein globales Problem, doch zum Risiko wird es nur für die europäischen NATO-Staaten, denn Migrationsdruck erzeugt Konflikte, weil jede denkbare Lösung gewaltige Ressourcenprobleme nach sich zieht.

Für die Menschheit des Jahres 2050, dann rund 9 Milliarden, steigt zudem der Lebensmittelbedarf um etwa 30 %. Die Produktivität der Landwirtschaft müsste um 60% gesteigert werden und die heutige maßlose Verschwendung von Lebensmitteln, 50% wandern in den Müll, müsste ein Ende finden. Heute hungern etwa 800 Millionen Menschen. Die Menschheit 2050 unterzubringen und zu ernähren wird ein Problem. Das Trinkwasserproblem wird somit noch größer. Wassermangel könnte Konfliktursache werden. Derzeit sind 870 Millionen Menschen, davon alleine 300 Millionen Chinesen, ohne Zugang zu Trinkwasser, jeden Tag sterben rund 1000 Kinder, weil sie verschmutztes Wasser trinken. Viele Staudammprojekte machen die Sache noch schlimmer. Ein Beispiel sind die Mekong Quellen in Tibet: Für China geht es um Trinkwasser und Wasser für die Landwirtschaft, doch damit fehlen Vietnam die Schwemmstoffe, die das Mekong Delta zur Reiskammer Indochinas machen.

Aber auch um andere Ressourcen dürfte es Streit geben, nicht einmal vorrangig um Öl und Gas. Der Mangel an Metallen und seltenen Erden könnte für große Teile Europas das größte Problem werden, weil beträchtliche Segmente der Industrieproduktion und die in Deutschland weitgehend verfehlte Energiewende von deren Verfügbarkeit abhängen. Verteilungs- und Zugangskonflikte sind für die Zukunft nicht auszuschließen, nicht zuletzt auch wegen des Rohstoff- Kolonialismus der VR China.

Neue Konfliktformen

In der Welt der Zukunft besteht kein Mangel an Konfliktursachen und diese Konflikte werden auch noch leichter zu führen sein. Sie werden aber ganz anders verlaufen als die bekannten Kriege zwischen Staaten. Damit werden auch die gewohnten Formen der Kriegführung immer weniger anwendbar und die NATO wird in den Folgearbeiten des Jahres 2021 prüfen müssen, ob die Streitkräfteplanungen nicht dem Krieg von gestern zu viel Gewicht geben. Künftige Konflikte zwischen Staaten werden in fünf Dimensionen geführt: Land. Luft, See, Weltraum und Cyber Space, und sie werden neue Technologien nutzen wie den Quantencomputer, künstliche Intelligenz und Robotik. Sie werden unglaublich schnell werden und könnten Möglichkeiten schaffen Gegner wehrlos zu machen bevor der Angriff überhaupt wahrgenommen wird.

Die Übergangsform sind die bereits erkannten und genutzten hybriden Konfliktformen, in denen nichtstaatliche Akteure auf das Gewaltpotential von Staaten Zugriff haben.  Ein anderer Vorläufer war im Konflikt Aserbeidschan /Armenien Ende 2020 zu sehen, in dem überlegene Nutzung türkischer Drohnen die Entscheidung brachte. Doch nicht genug damit: Ein großer Teil derartiger Waffen sind auf dem Markt erhältlich und internationale kriminelle Kartelle verfügen über Geldmengen, die jenseits der Vorstellungswelt der Staaten liegen. Sie könnten Zugang zu allen Machtmitteln erlangen und die Vernetzung der Welt erlaubt es diese blitzschnell zu verschieben. Die Zahlen vor Corona belegen dies: Täglich waren neun Millionen Menschen im Flugzeug unterwegs, es wurden 115.000 Tonnen in der Luft und auf See pro Jahr sagenhafte 9,5 Mrd. Tonnen transportiert.

Konflikte der Zukunft könnten als innerstaatliche Konflikte beginnen, vielleicht ganz oder teilweise von nichtstaatlichen Akteuren, also Terroristen, organisierten Kriminellen, Söldnern, Piraten und in ferner Zukunft von Robot-Streitkräften geführt. Zusätzliche Gefahr entsteht, weil die Proliferation von Massenvernichtungswaffen einschließlich biologischer Waffen und von Lenkwaffen bis hin zu Hyperschallwaffen anhalten wird. Kriegführung wird weiter revolutioniert werden, bis an die Grenze zu autonomen Systemen. Analog zur Industrie 4.0 entsteht somit derzeit das Militär 4.0, doch dem wird durch neue Technologien wie den Quanten-Computer, Robotik, Nano-Technologie, bio-chemische Mittel und vielleicht auch Androiden schon bald das Militär 5.0 folgen, das 5G, aber schon bald auch 6G nutzen wird.

Die Entwicklung könnte Angreifern die Option eines den Gegner wehrlos machenden präventiven Handelns geben, ohne kinetische oder zerstörende Gewalt anzuwenden. Sun Tsu hielt das schon vor 2500 Jahren für die beste Form der Kriegführung. Sehr große Staaten könnten ab 2030 in der Lage sein, kleinere Staaten zu erpressen oder sie teilweise oder sogar ganz elektronisch auszuschalten, ohne dass der Angegriffene den Angreifer identifizieren kann.

Aus diesen Entwicklungen entstehen die Herausforderungen für eine auch nach 2030 Schutz versprechende NATO.

Dafür ist nun ein schlüssiges Konzept der Konfliktverhinderung zu entwickeln. Sicher ist, dass weder militärische Mitteln allein noch pazifistischer Verzicht Frieden sichern können. Es ist deshalb sinnvoll, die bestehenden staatlichen wie die internationalen Organisationen Schritt für Schritt an die sich abzeichnenden Entwicklungen anzupassen und sie so umzugestalten, dass sie ihrer Kernaufgabe, Schutz der Bürger und der Integrität der Staats- und Bündnisgebiete auch morgen gewachsen sein werden.

Sicherheit kann nicht länger als gegeben angesehen werden, es gilt jetzt zu handeln, obwohl Europa schwach, abhängig und uneins ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Es gilt also Strategie neu zu denken, denn erst muss man wissen, was man will und dann kann man Instrumente und Organisation gestalten.

Strategie neu denken

Das klassische Paradigma der Strategie ist es die Machtmittel des Gegners zu zerstören, um ihm dann den eigenen politischen Willen aufzuzwingen. Das ist immer und nur dann möglich, wenn der Gegner ein Staat oder Bündnis und somit in einem Gebiet lokalisierbar ist. Diese Strategie ist selbst bei Beschränkung auf strategische Verteidigung, also auf Reaktion, anwendbar. Das Problem ist, den Konflikt zu begrenzen und aus der Reaktion durch kontrollierte Eskalation die Initiative zu gewinnen. Eskalationsdominanz ist dafür Voraussetzung.

In der künftigen kaum berechenbaren Welt ist das allenfalls in eng begrenzten lokalen Konflíkten möglich. Besteht das Risiko der Entgrenzung eines Konfliktes ist bisherige Abschreckung kaum noch wirksam, weil es keine Macht gibt, die mit allen anderen Mächten gleichzeitig fertig werden könnte.  Eine Strategie, die durch Androhung der Vernichtung Abschreckung erreicht, wird somit unwirksam. Man muss deshalb wohl auch über Paradigmenwechsel in der Strategie nachdenken und die Frage beantworten, wie man eine defensive Strategie entwickeln kann, ohne ausschließlich reaktiv zu denken.

Die Technik bietet dazu viele neue Möglichkeiten. Es könnte eine Strategie der Lähmung möglich werden. Damit könnte die Nutzung militärischer, nicht mehr auf Zerstörung zielender Mittel nicht mehr das letzte, sondern ein frühes Mittel werden, bleibt aber das äußerste Mittel der Politik.

Die künftige NATO Strategie muss zudem den Bedingungen entgrenzter Konflikte Rechnung tragen. Das verlangt, dass die Staaten eines Bündnisses alle Mittel der Staaten nutzen. Das setzt nicht nur mehr Treffen auf Ministerebene voraus, sondern auch neue Formate. Gemeinsame Treffen der Außen- und Verteidigungsminister und gemeinsame EU/NATO Treffen gibt es bereits, weitere Formate müssen geprüft werden wie beispielsweise das fallweise Hinzuziehen der Finanz- und/oder der Entwicklungsminister.

Für diese Treffen sind die Entscheidungsverfahren anzupassen, ohne allerdings für die politische Entscheidung, im Falle der NATO also die Entscheidung des NATO-Rats, das Einstimmigkeitsprinzip aufzugeben. Das darf aber nur für diese Ebene gelten. Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip auf allen, dem Rat untergeordneten Vorbereitungsebenen macht Verteidigung und Schutz in der Welt von morgen unmöglich.

Das politische Dach

Ob das von der Reflexionsgruppe derzeit vorgesehene politische Dach des Festhaltens an Harmel mit Abschreckung und Dialog gegenüber Russland und dazu eine vage Andeutung einer zu entwickelnden China Strategie ausreicht, bedarf gründlicher Prüfung. Zweifel sind angebracht, denn das ist aus Sicht der USA und Kanadas kein überzeugender Grund am aufwändigen transatlantischen Bündnis festzuhalten, auch nicht der durch Europa erfolgende Schutz der Gegenküste und der politische Vorteil, nicht alleine handeln zu müssen, reichen aus. Der Mehrwert für sie im heraufziehenden Konflikt mit China im indo-pazifischen Raum fehlt. Es muss eine NATO Sicherheits-und Verteidigungsstrategie gegenüber China entwickelt werden, die den Westen und seine Werte schützt und zugleich das Angebot an China einer Kooperation zum Abbau von Konfrontation enthält. Eine solche Strategie unterhalb der Schwelle der Beistandspflicht bedeutet keineswegs den praktisch gar nicht möglichen Abbruch aller wirtschaftlichen Verflechtung, aber deren Steuerung zum Nutzen der Sicherheit.

Das bedeutet, Chinas Griff nach Europa einzudämmen, also die Nutzung kritischer Infrastruktur, den Zugriff auf Schlüsseltechnologien und die Instrumentalisierung der 16+1 Erklärung zu mindern, aber auch das Beharren der NATO, auf dem uneingeschränkten Recht die Freiheit der Meere global zu wahren. Letzteres bedeutet für die NATO, Seeherrschaft im Nordatlantik und Schutz der Seeverbindungswege im Arktischen Ozean und im indo-pazifischen Raum. Das wäre ein eindeutiger Mehrwert für Amerikaner und Kanadier.

Dem sollten die Europäer die Bereitschaft hinzufügen, führend und verantwortlich für die Konfliktverhinderung und -eindämmung im Vorfeld Russlands, in der Kaukasus-Region und, abgestimmt mit der Afrikanischen Union, im Norden Afrikas Sorge zu tragen und gemeinsam mit den den kooperationsbereiten regionalen Mächten und in Abstimmung mit den USA Verantwortung für den Bereich des erweiterten Nahen Ostens zu übernehmen. Dabei ist sicher der Abraham Accord und die dort geforderte Entwicklung einer Strategic Agenda eher ein Ausgangspunkt für die Notwenigkeit Iran zu begrenzen als die illusionäre Rückkehr zum JCPOA. So entstünde Entlastung für die USA und ein Mehrwert, der ihre Bindung an Europa festigen dürfte.

Konfliktverhinderung durch Kooperation

Weitere sinnvolle Schritte in der Ausgestaltung des politischen Dachs einer global orientierten NATO wären die Abstimmung der NATO China Strategie mit der EU und die Einrichtung mindestens zweier zusätzlicher, regelmäßig tagender Konsultationsforen, ein mindestens einmal im Jahr tagender atlantisch-pazifischer Sicherheitsrat aus NATO, ASEAN und ANZUS und ein Forum zur Koordinierung des Schutzes der Seewege im Arktischen Ozean, das anfänglich auf ein jährliches Treffen des NATO Generalsekretärs mit dem Vorsitzenden des Arctic Council beschränkt werden könnte und über dessen Ergebnisse der NATO Generalsekretär routinemäßig im NATO-Russland Rat berichten müsste. 

Begrenzung der Entgrenzung

Selbstverständlich sollte das Politische Dach der künftigen NATO auch eine über die Vorschläge der Reflexionsgruppe hinausgehende Rüstungskontrollkomponente enthalten. Sie muss sich vorrangig der Frage der Begrenzung der ausufernden nuklearen Rüstung widmen und sie muss über den NATO Rahmen hinausgehen. Die NATO sollte deshalb zusätzlich zu den nicht von der NATO geführten, bilateralen Verhandlungen zwischen Russland und den USA mit China Wege suchen, wie die Nuklearmächte gemeinsam Proliferation von Massenvernichtungswaffen und von Flugkörpertechnogien verhindern können, wo sie Wege sehen, verifizierbar den Einsatz von Nuklearwaffen zur Kriegführung zu verhindern und wie langfristig eine kontrollierte Verringerung der Nuklearwaffen vereinbart werden könnte. Ein denkbarer anfänglicher Weg für die NATO könnte sein, dafür eine Expertengruppe einzuladen, die nach dem Vorbild der ICNND des Jahres 2009 binnen zweier Jahre Vorschläge erarbeitet, die der NATO Generalsekretär nach Abstimmung im NATO-Rat dem Weltsicherheitsrat mit dem Ziel vorträgt, ein Mandat zur Einleitung von Verhandlungen zu erhalten.

Gestern wie morgen gilt: Ohne politischen Willen gibt es keine Sicherheit

Dies ist nur ein Denkanstoß zur Rolle der NATO im Weltwandel. Zeit zu warten bleibt nicht. Im Sommer 2021 dürfte die neue Regierung der USA handlungsfähig sein,  dann müssen zumindest die Arbeitsaufträge erteilt sein, damit nach den Wahlen in Deutschland am 26.9.2021 und in Frankreich 2022 die Umsetzung beginnen kann. Dann erst kann man beginnen, die entscheidende Komponente für die Glaubwürdigkeit der Strategie zu erzeugen, den politischen Willen zu handeln, wenn es geboten ist. Das ist noch immer Europas, vor allem Deutschlands, größte Schwäche. Die Menschen ahnen, aber sehen noch nicht, wie groß die Gefahr ist. Die Politiker der freien Welt sind jetzt aufgerufen, es ihnen klar zu sagen. Tun sie es nicht, dann wächst Verunsicherung, dann schwindet Vertrauen und es entfaltet sich die Dynamik der Angst. Die nützt nur den Demagogen, sie zerstört die Bereitschaft, Freiheit als Freiheit für Verantwortung zu begreifen. Es ist nun die Dynamik der Hoffnung zu wecken: Den Menschen klar sagen, wo Europa steht, welche Wege es gibt und dass Europa die Kraft hat, zu bestehen. Dafür ist Eile geboten, aber es ist nicht zu spät.

General Naumanns Artikel erscheint Mitte 2021 in der Hanns-Seidel-Stiftungs (HSS)- Publikation „Weltwandel – Neuausrichtung der internationalen Beziehungen“

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