Interview mit Dr. Alexander Rahr: „Russische Pläne, die Ukraine zurückzuerobern, wie es die Rote Armee vor 100 Jahren getan hat, sehe ich nicht“

Interview mit Dr. Alexander Rahr: „Russische Pläne, die Ukraine zurückzuerobern, wie es die Rote Armee vor 100 Jahren getan hat, sehe ich nicht“

Global Review hatte die Ehre, mit Dr. Alexander Rahr, Politiklwissenschaftler , Russlandexperte und Gazpromberater ein Interview über die gegenwärtige Krise um die Ukraine und andere Themen zu führen.

Alexander Rahr ist international angesehener Politikwissenschaftler, Politik- und Unternehmensberater, Publizist und  Buchautor.Die wichtigsten Lebensdaten:

Geboren am 2. März 1959 in Taipeh/Taiwan, verheiratet, zwei Kinder.

Aufgewachsen in Tokio, Eschborn im Taunus, München. Lebt seit 1999 in Berlin.

1980 – 88 Studium an der Ludwig–Maximilian-Universität München (Geschichte, Slawistik, Politik)
1977 – 90 Projektmitarbeiter, Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien, Köln

1982 – 94 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut von Radio Free Europe/Radio Liberty, München

1989 – 91 Forschungsaufenthalte in RAND Corporation (USA), Sowjetparlament (UdSSR), East-West Institute (USA)

1994 – 12 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Programmdirektor Russland/Eurasien-Zentrum (Berthold-Beitz Zentrum) am Forschungsinstitut der DGAP, Bonn/Berlin

2012 –  Projektleiter (Chefredakteur Russlandkontrovers.de) beim Deutsch-Russischen Forum, Berlin

2012 – 15   Senior Advisor Russia, Wintershall Holding, Kassel

2015 –   Senior Advisor, Gazprom Brussels (Berater für Deutschland und EU-Angelegenheiten)

Mitbegründer des Petersburger Dialogs, Valdai-Klubs, Yalta European Strategy, Berliner Eurasischer Klub, Verbands der Russischen Wirtschaft in Deutschland

Träger des Bundesverdienstkreuzes

Ehrenprofessor an der Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO

Ehrenprofessor an der Moskauer Hochschule für Ökonomie

Der Deutschlandfunk berichtete:

„Alexander Rahr war schon bei Wladimir Putin zum Abendessen eingeladen und hat beste Kontakte in den Kreml. Mittlerweile arbeitet der Historiker und Russlandexperte auch als Lobbyist für Gazprom: eine Doppelrolle, die ihm oft Kritik einbringt.

Alexander Rahr gilt als „Putin-Versteher“ – nicht zuletzt, weil der Historiker, Politikberater und Lobbyist schon zwei Biografien über den russischen Präsidenten geschrieben hat. Im vergangenen Herbst veröffentlichte er außerdem seinen ersten Roman, der bereits im Titel wiederum auf den starken Mann im Kreml verwies: „2054. Putin decodiert“.„Putin-Versteher“ – meist ist diese Zuschreibung nicht unbedingt positiv gemeint. Rahr hat damit aber überhaupt kein Problem: „Ich selbst sehe mich auch als Russlandkenner und Putin-Versteher“, sagte er im Deutschlandfunk Kultur: „Aber im guten Sinn.“

https://www.deutschlandfunkkultur.de/historiker-und-russlandkenner-alexander-rahr-ich-bin-ein.970.de.html?dram:article_id=438224

Global Review;  Dr. Rahr, in Ihrem Buch haben Sie gesagt, dass die Russen die preußische und deutsche Disziplin, Ordnung und Logik bewundern. Stimmt das noch, denn die Deutschen können nicht rechtzeitig einen Berliner Flughafen bauen, die Züge sind nicht pünktlich, sie haben ständig Gendertheoriediskussionen? Ist Deutschland immer noch ein Ort der Bewunderung für das russische Volk oder kein historisch-nostalgischer Ort, an den Sie sich erinnern? Und was ist mit Russland? Ist Russland das gleiche wie vor einem Jahrzehnt?

Dr. Rahr: Fehler passieren jedem Autoren. Ja, ich habe in meinem gerade erschienenen Buch geschrieben, dass die deutsche Tüchtigkeit, Ordnung und technologischer Erfindungsreichtum vielen Russen, vor allem jungen, als großes Vorbild dient. Die katastrophalen Fehler bei der Bewältigung der Pandemie, die in Deutschland gemacht wurden, die Rückständigkeit bei der Digitalisierung – sind Dinge, die der Außenwelt nicht verborgen bleiben. Deutschland verliert sein Image als technologisches Musterland, allmählich auch bei den Russen. Ein germanophiler Russe sagte mir vor kurzem: euer schöner Begriff des Leistungsträgers verändert sich zum Schlechten. Wir Russen verstanden ihn so, dass tüchtige Arbeit in Deutschland immer belohnt wurde; arbeitsame Bürger machten den Staat stark und erfolgreich. Heute merken wir, dass der deutsche Leistungsträger-Begriff stark erodiert – hin zum Sozialträger. Was Russland angeht, so ist das Land auf bestem Wege, wie China, aus der Pandemie herauszukommen. Russland beklagt viele COVID-Tote, die Übersterblichkeit liegt bei 300.000 Personen, aber die Wirtschaft wurde, weil der Lockdown letztes Jahr nur kurz war, nicht so massiv in Mitleidenschaft gezogen.

Global Review: Russland entsendet Truppen an die Grenze zur Ukraine, während China seine Militäreinsätze im Südchinesischen Meer und in der Umgebung von Taiwan vorantreibt. Sind dies koordinierte Aktionen? Ist dies nur eine Demonstration einer chinesisch-russischen strategischen Zusammenarbeit, um die USA an ihrer asiatischen und europäischen Front zu bedrohen?

Dr. Rahr: Ich weigere mich, von einer einseitigen Eskalation seitens Russlands und Chinas zu sprechen. Der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zum Donbas kann auch als Reaktion auf die Stärkung der NATO-Militärinfrastruktur im Baltikum und am Schwarzen Meer verstanden werden. Die USA verstärken massiv ihre Militäraktivitäten an den chinesischen Grenzen, dort wird eine US-Raketenabwehr aufgebaut. Die Weltmacht USA erklären Russland und China zu Feinden, führt gegen sie Handelskriege. Gleichzeitig ist nicht von der Hand zu weisen, dass China die Insel Taiwan, die im komplizierten völkerrechtlichen Streit wohl doch zu China gehört, wie Hongkong, in nächster Zeit mit Gewalt vereinnahmen (annektieren) will. So wie es Russland mit der Krim gemacht hat. Dass Russland die Krim nicht hergeben wird, wie das der Westen fordert, ist ebenfalls klar. Auch den Donbas wird Russland nach sieben Jahren Bürgerkrieg nicht mehr an die Ukraine zurückgeben. Eine zerstückelte Ukraine kann nicht Mitglied der NATO werden. Die weitere NATO Osterweiterung auf frühere russische Kerngebiete aufzuhalten ist das Hauptziel russischer Politik, Moskau plant ansonsten keine Eroberungen. Sie fragen, ob Moskau und Peking koordiniert handeln und den Westen somit massiv herausfordern? Meine Antwort wäre nicht Nein.

 Global Review: Russland massiert seine Truppen an der Grenze zur Ukraine ein. Westliche Experten sagen, dass dies ein entscheidender Kampf wird, um die Ukraine zu einem Vasallenstaat Russlands zu machen. Sie sagten, die Ukraine habe 60 Millionen Dollar von den USA als Militärhilfe erhalten, aber ist das nicht ein Witz, da er eine russische Invasion nicht verhindern kann?

Dr. Rahr: Russische Pläne, die Ukraine zurückzuerobern, wie es die Rote Armee vor 100 Jahren getan hat, sehe ich nicht. Es fällt mir immer schwer, als deutschen Experten und Think Tankern, westlichen Gefahreneinschätzungen zu widersprechen. Aber ich sehe, wie die Ukraine versucht, sich den USA in dessen Bemühungen Russland einzudämmen, anzudienen. Die Ukraine glaubt, dass mit dem Wahlsieg von Joe Biden eine Wende eingetreten ist. Trump ignorierte den Konflikt um die Ukraine. Biden scheint gewillt sein, ihn im Sinne Kiews zu lösen und immensen Druck auf Russland auszuüben. Er nannte Putin einen Killer und versprach, Russland alsbald hart zu bestrafen. Die Ukraine ist von den Vermittlern Deutschland und Frankreich schwer enttäuscht, weil der Minsker Prozess nicht zur Rückgabe der Krim und des Donbas geführt haben. Nun setzt Kiew auf einen neuen Waffengang gegen Russland mit massiver US-Militärhilfe. Dass im Westen zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Russen aggressive Absichten zugerechnet werden, ist normal. War bei den Kriegsvorbereitungen gegen den Irak im Jahre 2002 im Westen nicht anders. Damals sprach man von Massenvernichtungswaffen im Irak, die vernichtet werden mussten. Nach dem US-Einmarsch suchte man sie vergebens. Warum sollte Putin heute die Ukraine angreifen und einen Krieg mit dem Westen riskieren? Russland ist gerade dabei, über Sputnik V sich mit den Europäern wieder zu vertragen. Der Kreml öffnet den EU Bürgern wieder die Einreise nach Russland.

Global Review: Ist eine neue Ostpolitik möglich, die die Ukraine in einen neutralen Staat und als Brückenstaat zwischen der EU und der EAEU und nicht in einen Vasallenstaat Russlands verwandelt?

Dr. Rahr: Die Ukraine ist kein künstlicher Staat, wie es die Russen behaupten. Seit 30 Jahren gibt es dieses schöne Land auf der europäischen Landkarte. Nur ist die Bevölkerung immer noch zweigeteilt, zwischen totalen Anhängern einer Westintegration im Westen des Landes und einer traditionell pro-russischen Bevölkerung im Osten des Landes. Eine einseitige NATO-Mitgliedschaft oder eine eurasische Mitgliedschaft würde das Land zerreißen. Deshalb halte ich eine Neutralität der Ukraine für den richtigen Weg, um die europäische Sicherheitsordnung wieder zu stabilisieren. Deutschland und Frankreich sollten die Idee eines gemeinsamen europäischen Raumes vom Atlantik bis zum Ural wiederbeleben. In diesem Raum sollte es eine unteilbare Sicherheit für ALLE geben. Leider sind die USA aufgrund ihrer globalen geopolitischen Interessen gegen einen solchen Raum. Die Chinesen sind dafür – und denken diesen Raum mit ihrer Seidenstraßen-Strategie jetzt vom Osten her.

Global Review: In Ihrem Buch haben Sie gesagt, dass ein großer Fehler der deutschen Regierung darin besteht, dass sie sich mit Polen, den baltischen Staaten und Osteuropa beschäftigt, aber ihre eigene deutsch-russische Politik vorantreiben sollte. Die Politik Deutschlands als Teil der EU kann jedoch niemals darin bestehen, diese Staaten zu ignorieren, aber auf der anderen Seite könnte eine Koalition innerhalb der EU ohne diese Staaten als eigene Lobbygruppe, die Kompromisse mit ihnen eingeht, eine Alternative sein. Was denken Sie darüber?

Dr. Rahr: Ich wünsche mir, dass die Europäische Union zu einer einheitlichen Meinung über Russland gelangt. Deutsche und Alt-Europäer hatten sich nach der Wende mit Russland ausgesöhnt, der Gedanke einer NATO- und EU-Mitgliedschaft Russlands machte die Runde. Dann traten die ehemaligen Warschauer Pakt Länder der NATO und EU bei und trugen ihre Aversionen gegen Russland in das westliche Bündnis hinein. Allerdings stimmt es nicht, dass alle ehemaligen Ostblockländer Hass gegenüber Russland verspüren. Wir sehen doch gerade in der jetzigen Pandemie, wie eng die Kooperation bei Sputnik V bei den meisten mittelosteuropäischen Ländern mit Russland besteht. Es sind eigentlich nur die drei Baltischen Länder und Polen, die Russland mit aller Macht aus Europa heraushaben wollen. Es sind diejenigen Staaten, das muss man sagen, die 1939 von Stalin überfallen wurden und sich deshalb mehr als Opfer des Kommunismus als Opfer des Nationalsozialismus sehen, obwohl wir doch alle wissen, dass der Hitler-Faschismus und nicht die Sowjetunion für die Gräuel des Zweiten Weltkrieges verantwortlich war. Ich wünsche mir, und das habe ich auch in meinem Buch geschrieben, dass in Osteuropa einmal ein ähnlich erfolgreicher Aussöhnungsprozess funktionieren kann, wie in Westeuropa unmittelbar nach 1945. Deutschland könnte ihn anstoßen.

Global Review: Wenn der  Konflikt zwsichen dem Westen und Russland eskaliert, ist es dann nicht möglich, in anderen Bereichen wie einem New Green Deal oder Rüstungsreduzierung zu einer Zusammenarbeit zu gelangen?

Dr. Rahr: Gerade Global Review hat in mehreren Artikeln und Interviews Überlegungen zu einem Green Deal zwischen Russland und der EU angestellt. Sie sind alle richtig. Die eigentlichen Gefahren und Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind Klima- und Umweltveränderungen, die wir gemeinsamen bekämpfen müssen. Wenn die Grünen in Deutschland den Kanzler stellen sollten, werden sie vielleicht zu diesem Umdenken, was die globalen Konfliktpotenziale betrifft, gelangen. Die Amazonas Wälder, um die wir so besorgt sind, liegen auf dem anderen Teil der Erdkugel. Russland und seine sibirischen Wälder, die Probleme mit dem Auftauen des Nordpols – das sind direkte europäische Probleme, die wir friedlich und einvernehmend lösen müssen. Der Ost-West-Konflikt gehört der Vergangenheit an.

Global Revièw: Welchen Rat würden Sie Biden geben, um einen Kompromiss mit Putin-Russland einzugehen?

Dr. Rahr: Ich rate Biden, so schnell wie möglich einen Summit mit Putin und Xi Jinping abzuhalten, um Rivalitäten in der anbrechenden multipolaren Ordnung konstruktiv zu lösen, über Kompromisse und nicht Kampf. Die Welt steht vor einem erneuten Umbruch, der Westen wird seine frühere Stärke verlieren, Asien wird an Kraft hinzugewinnen. Wir in Europa begreifen diese Realitäten nur schwer, der Umdenkungsprozess bei uns sollte jedoch schneller von statten gehen. Biden’s Allianz der Demokraten gegen Tyrannen dieser Welt wird ohne Entspannung nicht funktionieren.

Global Review: In Ihrem Buch sprechen Sie von der „russischen Frage“. Der Westen habe sich keine Gedanken gemacht,wie man Russland in Europa integrieren könne. Gab es aber nicht zuvor Ideen vom gemeinsamen Haus Europa bis zum gemeinsamen Wirtschaftsraum von Lissabon bis Vancouver? Hat die jüngere Generation überhaupt noch einen Bezug zu Russland oder stirbt mit der Kriegs- und Nachkriegsgeneration da nicht eine Generation aus, denen die Wichtigkeit der Beziehungen zu Russland noch ein Anliegen war? Umgekehrt hat aber eine Umfrage bei dem NATO Youth Summit ergeben,dass Russland nicht als der Hauptfeind gesehen wird ,sondern mehr allgemeiner der Klimawandel und Cyberbedrohungen. Wie passt das zur russischen Frage?

Dr. Rahr: Die jüngere Generation unserer Politiker wird die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anpacken müssen und das überalterte Denken des 20. Jahrhunderts schnell verlassen müssen. Ich hoffe deshalb, dass Vertreter der jüngeren Generation so schnell wie möglich in allen Ländern der Welt an die Macht kommen und der Generation der jetzt noch regierenden Väter und Großväter zeigen können, dass sie es besser machen.

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