Interview mit Dr. Alexander Rahr über die mögliche Agenda eines Biden-Putin-Treffens: „Die Amerikaner scheinen im Gegensatz zu den Europäern ihren realpolitischen Verstand besser zu nutzen. Sie sind Realisten. “

Interview mit Dr. Alexander Rahr über die mögliche Agenda eines Biden-Putin-Treffens: „Die Amerikaner scheinen im Gegensatz zu den Europäern ihren realpolitischen Verstand besser zu nutzen. Sie sind Realisten. “

Global Review hatte erneut die Ehre, Prof. Alexander Rahr, Experte für russische Angelegenheiten, Politikwissenschaftler, Mitglied des Valdai-Clubs und Putin-Berater für Gazprom bei der EU, über die mögliche Tagesordnung eines möglichen Biden-Putin-Treffens zu befragen. Alexander Rahr ist Honorarprofessor am Moskauer Staatsinstitut für internationale Beziehungen und Wirtschaftsschule. Er studierte an der Staatlichen Universität München, arbeitete 1980-1994 für das Forschungsinstitut für Radio Free Europe, das Bundesinstitut für Osteuropa- und Internationale Studien. Er war Berater der RAND Corporation, USA. Von 1994 bis 2012 leitete er das Russisch / Eurasische Zentrum beim Deutschen Rat für auswärtige Beziehungen. Anschließend konsultierte er die Wintershall Holding und später Gazprom Brüssel zu europäischen Angelegenheiten. Darüber hinaus war er auch ein häufiger Gast Putins als Gesprächspartner. Seit 2012 ist er Programmdirektor beim Deutsch-Russischen Forum. Er ist Mitglied des Petersburger Dialogs, des Valdai Clubs, des European Strategy Network von Jalta und Autor mehrerer Bücher über Russland.

Global Review: Dr. Rahr, Trump wollte Russland als hochrangigen Partner gegen China gewinnen, indem er ein Trump-Putin-Treffen und eine Anti-China-G11 vorschlug, an der Russland, Indien, Südkorea und Autsralia beteiligt sind. Er stellte seine NATO-Verpflichtungen in Frage und Putin dachte  aus Ihrer Sicht wirklich, dass es einen Gipfel zwischen den USA, Russland, Frankreich und China für eine neue Weltordnung geben könnte. War dies kein illusionärer Ansatz und war eines von Putins Motiven, dass er befürchtete, dass die US-Demokraten Hllary Clinton oder Joe Biden einen neuen Kalten Krieg gegen Russland beginnen würden, nicht so handzahm sein und das liberale westliche Bündnis gegen Russland und China stärken würden , aber in erster Linie gegen Russland?

Dr.Rahr: Russland hat sich nach dem Fall des Kommunismus und dem Ende des Kalten Krieges als Verbündeter des Westens gesehen. Präsident Jelzin und die russischen post-kommunistischen Führungseliten wollten ein gemeinsames euro-asiatisches Sicherheitsbündnis, sowie einen gemeinsamen Wirtschaftsraum schaffen. China war, aus russischer Sicht, kein Kandidat für die Teilnahme an einem solchen Bündnis. Als Jelzin die Bühne verließ und Putin Präsident wurde, setzte er den Kurs auf ein solches Bündnis zunächst fort. Experten sollten nur seine Reden vor 15-20 Jahren studieren. Die Chance war zum Greifen nahe, Russland in die NATO aufzunehmen oder zumindest mit Russland zusammen die OSZE zur führenden gemeinsamen Sicherheitsorganisation aufzubauen. Russland stellte eine Bedingung, die der Westen nicht erfüllen wollte. Russland wollte als Großmacht anerkannt werden, mit der Wahrung seiner nationalen Interessen und es wollte seine Einflusssphäre im postsowjetischen Raum behalten. Anders als es heute dargestellt wird, war Moskau durchaus bereit, den Jugoslawien-Krieg der NATO mitzutragen. Russland schickte doch Friedenstruppen in den Kosovo, die im deutschen NATO-Sektor eingebunden waren. Der Westen schlug die Idee eines Sicherheitsbündnisses mit Russland aus wertepolitischen Gründen aus, weil Russland unter Putin entschied, doch keine westliche Demokratie zu werden. Hätten Interessen und nicht Werte den Ausschlag damals gemacht, wäre das Sicherheitsbündnis zustande gekommen und Russland stünde heute an der Seite des Westens bei der Eindämmung Chinas. Die heutige russisch-chinesische Allianz scheint mir nicht so fest zu sein, als dass Russland, das sich eher als europäische und nicht asiatische Großmacht sieht, es sich nicht wieder anders überlegen könnte. Im Trump-Team hat man diese Möglichkeit, mit Russland wieder ins strategische Gespräch zu kommen, besser gesehen als in Europa. Was Biden mit Russland vorhat, ist schwer zu sagen. Doch in Moskau wird seine Politik genauestens analysiert. Ich denke, früher oder später werden die strategisch klug denkenden Amerikaner tatsächlich vor der Wahl stehen: Entweder einen russisch-chinesischen Block gegen den Westen hinzunehmen oder sich mit Russland zu verständigen, um China zu isolieren. Russland bedroht amerikanische Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen nicht in der Weise wie es China tut.

Global Review: Als Biden gewählt wurde, sagte er, dass es eine Revanche gegen Russland wegen seiner Einmischung in US-Wahlen, seiner Unterstützung für Trump, seiner neuen Durchsetzungskraft im Nahen und Mittleren Osten und in Europa geben würde, und nannte Putin sogar einen „Mörder“. Nawalny kehrte nach Russland zurück und es gab westliche Hoffnungen, dass er eine Massenprotestwelle auslösen könnte, und dann kam die Ukraine-Krise, als westliche Medien und Experten eine Invasion in Russland vorhersehen. In unserem Interview sagten Sie, dass Russland keine Pläne habe, die Ukraine zu besetzen und zu annektieren, und es stellte sich heraus, dass dies wahr ist. Nachdem Nawalny keine Massenbewegung hervorgebracht hatte und der Regimewechsel weit entfernt zu sein scheint, als Russland im Ukraine-Konflikt deeskalierte, schlug Joe Biden ein Treffen zwischen ihm und Putin vor. US-Außenminister Blinken und der russische Außenminister Lawrow werden sich jetzt neben der Sitzung des Artic Council zu einem getrennten Treffen treffen. Denken Sie, dass dies eine Vorbereitung für ein Biden-Putin-Treffen ist?

Dr.Rahr:  Biden will unbedingt das Gipfel-Treffen mit Putin haben, es scheint für ihn sogar wichtiger zu sein, als die Gespräche mit den US-Verbündeten in Europa zu führen. Ich glaube, dass er selbst, wie viele vernünftige Amerikaner, die Geschichte von der Manipulation der Präsidentenwahl 2016 durch Russland nicht glaubt. Sie ist von den Demokraten in ihrem internen Kampf mit Trump aufgebauscht worden. Allerdings ist für Biden die russische Innenpolitik, die Verletzung von Menschenrechten, nicht hinnehmbar. Er bleibt also bei der harten Kritik an den inneren Zuständen in Russland, denn das verlangt von ihm die amerikanische liberale Führungselite. Putin wird einem Treffen mit Biden sofort zustimmen, wenn er sieht, dass die USA mit ihm nicht über Menschenrechtsverletzungen, sondern tatsächlich über einen Ausgleich an Interessen reden möchten. In der Tat könnte das Treffen einen Minimalkonsens erzeugen: bei Abrüstungsfragen, beim Klima- und Umweltschutz (ein neues Thema, dass Putin und Biden plötzlich am Herzen liegt), bei der Befriedigung von Afghanistan und des Nahen Ostens. Diejenigen Mittelosteuropäer, die sich schon darüber gefreut hatten, dass Biden, anders als Trump, Putin hart anfassen würde – und die Ukraine in der westlichen NATO-Politik aufwerten würde, fühlen sich umgangen. Die Amerikaner, das muss man in Europa wissen, denken vornehmlich an ihre eigenen strategischen und nationalen Interessen. Und wenn sich die Umstände ändern, sie woanders Vorteile sehen, agiert Washington stets pragmatisch.

Global Review: Wenn Biden und Putin sich treffen sollten, was könnte Ihrer Meinung nach ihre Agenda sein? Bei welchen Themen könnten sie Erfolg haben, bei welchen Themen kann Ihrer Meinung nach kein sofortiger Kompromiss gefunden werden. Biden und Blinken sprachen von einer „selektiven Zusammenarbeit mit Russland“. Was bedeutet das in der praktischen Realität? Denken Sie, dass Russland und die USA eine Methode wie chinesische Diplomaten anwenden sollten:  Sich auf die gemeinsamen Themen konzentrieren,  über die Unterschiede sprechen, aber ihre Lösung  verschieben auf einen späteren Zeitpunkt, um einen ersten Schritt nach vorne zu erreichen? Und denken Sie, dass Biden und Putin dieses Treffen ernst nehmen, oder ist es nur Schaufensterdekoration, um guten Willen zu zeigen?

Dr.Rahr; Der Vergleich mit der China-Politik ist gut. So ähnlich wird sich das Gespräch zwischen Putin und Biden entwickeln. Man wird drei-vier ganz große Themen bestimmen, darunter die Abrüstung, um dann über unterschiedliche Interessen zu reden und schließlich einen Minimalkonsens bei wenigstens einem großen Thema zu erzielen. Denn einen neuen Kalten Krieg und die NATO in eine direkte Konfrontation mit Russland zu führen, das kann Biden nicht ernsthaft wollen. Welchen Grund soll der Westen haben, Krieg gegen Russland zu führen? Die „falschen“ russischen Werte, Menschenrechtsverletzungen, Nawalny, die Annexion der Krim, Cyberangriffe – nein, aus diesen Gründen wird Amerika nicht in einen langen zermürbenden Krieg mit Russland ziehen, der am Ende Russland zum Verbündeten Chinas macht. Die US-Administration schaut, anders als Trump, ein wenig stärker auf Europa. Und dort sieht man in Washington, dass es unter den europäischen Verbündeten keines Konsens über ein härteres Vorgehen gegenüber Russland gibt. Ein Beispiel ist der Kampf um Nord Stream 2. Biden ist sicherlich die neue Umfrage in Deutschland vorgelegt worden, nach der die Mehrheit der Deutschen in Amerika und nicht in Russland die größte Gefahr für die Demokratie in Europa sieht. Auch eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine gibt es im Westen keinesfalls. Es gibt EU-Staaten, die der Ukraine provokatives Verhalten gegen Russland vorwerfen würden, wenn sie freier sprechen könnten, ohne den gesamteuropäischen Konsens zu stören. Sie werden jetzt überrascht sein, aber ich werde Ihnen ein Thema nennen, das USA und Russland auf Jahre vereinen wird. Erinnern Sie sich an 9/11, als Putin den damaligen US-Präsidenten Bush anrief, um eine gemeinsame Allianz gegen den internationalen Terrorismus vorzuschlagen. Vielleicht hat sich Biden das Protokoll dieses Gesprächs nochmals angeschaut und bewertet es heute weniger abweisend als Bush. Immerhin dachten die USA damals, schnell mit den Islamisten in Afghanistan fertig zu werden. Der amerikanische Militäreinsatz in Afghanistan dauerte aber zwanzig Jahre, und gebracht hat er nichts. Die USA ziehen sich zurück. Die Europäer laufen ebenfalls davon – der Russe soll das Islamisten-Problem dort richten. Wer denn sonst von den Regionalmächten, etwa der Iran?  

Global Review: Biden stimmte Putins Vorschlag zu, den START-Vertrag um 5 Jahre zu verlängern, und wird von den US-Republikanern kritisiert, dass er dies bedingungslos getan habe und dass China seine ICBM-Zahl erhöhen könnte, was die globale nukleare strategische Abschreckung und das Gleichgewicht ändern könnte. WENN Biden und Putin über Abrüstungsinitiativen sprechen, sollten dies auch Cyber- und Weltraumwaffen und andere Länder, insbesondere China, einschließen oder sollten sie unabhängig versuchen, einen Kompromiss zu schließen, der ihre eigene militärische Abschreckung nicht ignoriert, sondern das globale strategische Gleichgewicht stabilisiert ?

Dr. Rahr: Es ist völlig legitim, dass Sie in ihren Fragen China als den Elefanten im Raum sehen, wenn Biden und Putin aufeinandertreffen. Natürlich wollen weder Biden noch Putin einen Rüstungswettlauf mit China, sie wollen beide, dass China sein Atomwaffenpotential nicht steig ausbaut. Wenn Biden klug handelt, wird er Putin auf seine Seite ziehen. Denn wenn auch Russland die chinesische nukleare Aufrüstung kritisiert, ist die Idee eines russisch-chinesischen Bündnisses, vor dem der Westen Angst hat, tot. Aber um Putin auf seine Seite zu ziehen, darf Biden das Treffen nicht dazu missbrauchen, Putin wegen Menschenrechtsverletzungen öffentlich an den Pranger zu stellen. Das befürchtet nämlich der Kreml. Vor allem müssen USA und Russland die gegenseitige Sanktionsspirale bei Diplomatenausweisungen und Visasperren überwinden. Die westlichen Medien erwarten von Biden ein Kräftemessen mit Putin, das der Amerikaner gewinnt. Aber irgendwie scheint Biden zu verstehen, dass eine völlige Sprachlosigkeit und das Fehlen jeglichen Dialogs mit Russland, die USA nicht stärker, sondern schwächer macht.  

Global Review: In der US-Regierung, dem Militär und dem, was Sie sonst als „tieferen Staat“ bezeichnen, gibt es mindestens zwei Fraktionen: Eine, die der Meinung ist, dass die USA gleichzeitig gegen Russland und China sein sollten. Der andere meint, die USA sollten China als Hauptbedrohung betrachten und sogar zu einer Zusammenarbeit oder Neutralisierung Russlands gegen China kommen. Auf dem Valdai-Clubtreffen drohte Putin mit einem militärischen Bündnis mit China, aber China hat sich bisher nicht darauf geeinigt. Denken Sie, dass innerhalb des US-Establishments die Stimmen, die eine von den USA und Russland selektive Zusammenarbeit propagieren, jetzt in der Mehrheit sind? Liegt dies an einem strategischen Konsens innerhalb der US-Elite oder ist dies mehr ein taktischer Schritt, nachdem der Massenprotest von Nawalny nicht stattgefunden hat und Russland sich von der Grenze zur Ukraine zurückgezogen hat?

Dr.Rahr: Gut, dass Sie Putins Rede im Valdai Klub erwähnen. Der Valdai Klub tagt vom 19.-22. Mai in Kasan. Putin ist Schirmherr und Ideengeber. Er instrumentalisiert den Klub, um seine Messages in die Welt zu senden. Das wird auch in Kasan der Fall sein. Ich werde natürlich dort sein. Ich kann meinerseits nur wiederholen: die Amerikaner haben die besten Think Tanks der Welt. Sie haben Expertise, denn sie wollen ja die Welt regieren. Also müssen sie verstanden haben, dass man die Ukraine nicht einfach so aus den russischen Einflussbereich herausziehen und im Westen verankern kann. Die Hälfte der ukrainischen Bevölkerung will Frieden mit Russland. In der Westukraine hasst man Stalin mehr als Hitler, das ist richtig. Aber in der Ostukraine leben Menschen, deren Vorfahren mit den Idealen der Sowjetunion positiv umgehen. Übrigens, glaube ich, dass Nawalny im Arbeitslager seine Stellung als unangefochtener Anführer der anti-Putin-Bewegung verliert. Der in London lebende Oligarch Chodorkowski, den ich mit Hans-Dietrich Genscher im Dezember 2013 aus dem russischen Arbeitslager nach Deutschland geholt habe, ist der neue unangefochtene Organisator des Aufstandes gegen Putin. Jedenfalls hat er diese Ambitionen. Ich glaube nicht, dass er Erfolg haben wird. Nawalny hat 5 Prozent Unterstützung in der russischen Bevölkerung. Putin hat mehr.  Um auf Ihre interessante Frage richtig zu antworten: Ja, die Amerikaner scheinen, anders als die Europäer, ihren realpolitischen Verstand besser zu gebrauchen. Sie sind Realisten.

Global Review: Während sich die USA aus dem Nahen und Mittleren Osten zurückziehen und sich auf den Asian Pivot und China konzentrieren und auf ein neues Iran-Abkommen drängen, glauben Sie, dass die USA Russland als Macht in dieser Region akzeptieren würden, was einen Beitrag zur Stabilität leisten könnte ?

Dr. Rahr: Den Amerikanern wird nichts anderes übrigbleiben, als die russische Ordnungsrolle im Nahen Osten zu akzeptieren. Eine chinesische Führungsrolle würde viel anti-westlicher sein. Ich frage Sie nochmals als kundigen Experten: wer soll nach dem Abzug des Westens aus Afghanistan dort die Führungsrolle im Kampf gegen den Islamismus übernehmen? Die zentralasiatischen Staaten sind dafür zu schwach. Iran? Das kann Washington nicht zulassen. China? Auch das wird Washington nicht zulassen,

Global Review: Glauben Sie, dass Putin Biden als starken Präsidenten oder eher als Sleepy Joe wahrnimmt, der nur ein vorläufiger Übergangspräsident von Kamal Harris oder für einen wiedergewählter Trump oder einen neugewählten Pompeo ist? Glaubt Putin, dass Verträge, die er mit Biden unterzeichnen würde, durch zukünftige Regierungen verlängert würden? Ist Putin der Ansicht, dass die USA trotz ihres schwankenden politischen Systems ein verlässlicher und nachhaltiger Partner sein könnten, während China mit seiner Ein-Mann-Diktatur über die Lebenszeit der verlässlichere Partner war?

Dr. Rahr: Ich werde nun offen zu Ihnen sprechen. Die russischen Führungseliten sehen den Westen, allen voran die USA, als gescheitert an. Das mag falsch sein. Aber in Moskau denkt man so. Aber in Russland ist man nicht per se anti-westlich. Europa ist die Wiege der russischen Kultur. Niemand in Russland möchte den zivilisatorischen Bruch mit Europa. Die Russen akzeptieren die USA als Ordnungsmacht in Europa, aber nur solange sie Russland ebenbürtig behandeln. Russland will eine multipolare, eine polyzentristische Weltordnung, wo die fünf Mitglieder des UN-Sicherheitsrates die neue sicherheitspolitische Architektur bestimmen sollen. Der Westen sollte sich darauf einstellen, dass er selbst schwächer und Russland und China stärker werden. Ich weiß, dass ein solches Denken wehtut, nichtsdestotrotz muss es gesagt sein. Natürlich wissen die Russen, dass Biden physisch angeschlagen ist und schauen auf Kamala Harris. In Wirklichkeit rechnen sie mit einem Comeback von Trump im Jahre 2024. Putin wird dann zum fünften Lam wiedergewählt sein. Die gesamte Welt wird von der Pandemie geschwächt sein. Die Karten werden neu gemischt. China hat bislang aus der Pandemie den größten Nutzen gezogen. Russland will es auch. 2024 glaubt man sich dann auch mit den USA über weltpolitische Fragen besser einigen zu können. Wenn die Annäherung mit den USA jedoch ausbleibt, wird Russland sich mit Peking verbünden, gegen den Westen.

Global Review: Wie würde Putin-Russland Ihrer Meinung nach auf eine grüne deutsche Kanzlerin Baerbock reagieren, die sich auf Menschenrechte und Werte konzentriert und auf einen Regimewechsel in Russland zu hoffen scheint und Putin nicht als Staatsmann sieht, mit dem man verhandeln muss, um zu versuchen zu Kompromissen zu kommen? Was sind Ihre Szenarien für die bevorstehenden deutschen Wahlen und welche Option würde welche Außen- und Russlandpolitik bedeuten?

Dr. Rahr: In der BILD Zeitung habe ich gelesen, dass die Russen vor Frau Baerbock Angst hätten. Deshalb würden sie jetzt eine Kampagne gegen sie starten. Das ist absurd. Die Russen sind eher Realisten. Sie stellen sich auf jede mögliche Nachfolge von Frau Merkel ein. Ja, in Russland mag man die Grünen nicht, weil sie so ideologisch klingen. Die Grünen wollen die Konfrontation mit Russland verschärfen, wegen der Frage der Menschenrechte. Wenn ich als deutscher Kommentator in den russischen Medien zu Stellungsnahmen zu den Chancen der Grünen gebeten werde, sage ich offen und ehrlich, dass die Grünen naturgemäß keine Freunde Russlands oder einer Folge der Brandtschen Ostpolitik sind. Dennoch werden sie die Nord Stream 2 zum Zeitpunkt ihrer Kanzlerschaft nicht mehr stoppen können. Außerdem werden die Grünen nicht allein regieren können. Sollte Frau Baerbock Kanzlerin werden, wird sie wahrscheinlich mit der SPD und der FDP eine Regierung bilden wollen. Ein SPD-Außenminister wird einen Bruch in den Beziehungen zu Russland verhindern. Die Grünen müssen Russland und die russischen Interessen professioneller analysieren. In der Opposition tragen sie heute keine Verantwortung für die europäische Sicherheitspolitik. Dass diese durch die NATO-Osterweiterung und den Krieg in der Ostukraine in einer Schieflage sich befindet, ist ein Fakt. Der nächste Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin wird auch der stärkste Mann bzw. Frau in der EU sein, er/sie wird die Neuausrichtung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu verantworten haben. Das wissen die Verantwortlichen in Moskau. Deutschland bleibt aber das wichtigste Land für Russland. Deutschland bleibt Führungsmacht in Europa, und wenn Russland sich mit Europa verständigen will, geht es nur über Deutschland, egal wer im Kanzleramt sitzt.

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