Interview mit Dr. Alexander Rahr: “ Mein Rat an den nächsten Bundeskanzler: Versuchen Sie eine neue Entspannungspolitik mit Russland voranzubringen“

Interview mit Dr. Alexander Rahr: “ Mein Rat an den nächsten Bundeskanzler: Versuchen Sie eine neue Entspannungspolitik mit Russland voranzubringen“

Global Review hatte erneut die Ehre, Prof. Alexander Rahr, Experte für russische Angelegenheiten, Politikwissenschaftler, Mitglied des Valdai-Clubs und Putin-Berater für Gazprom bei der EU, über Russlands nationale Sicherheitsstrategien, das Biden-Putin-Treffens, Afghanistan, Zentralasien, Balkan und China zu befragen. Alexander Rahr ist Honorarprofessor am Moskauer Staatsinstitut für internationale Beziehungen und Wirtschaftsschule. Er studierte an der Staatlichen Universität München, arbeitete 1980-1994 für das Forschungsinstitut für Radio Free Europe, das Bundesinstitut für Osteuropa- und Internationale Studien. Er war Berater der RAND Corporation, USA. Von 1994 bis 2012 leitete er das Russisch / Eurasische Zentrum beim Deutschen Rat für auswärtige Beziehungen. Anschließend konsultierte er die Wintershall Holding und später Gazprom Brüssel zu europäischen Angelegenheiten. Darüber hinaus war er auch ein häufiger Gast Putins als Gesprächspartner. Seit 2012 ist er Programmdirektor beim Deutsch-Russischen Forum. Er ist Mitglied des Petersburger Dialogs, des Valdai Clubs, des European Strategy Network von Jalta und Autor mehrerer Bücher über Russland und hat Putin schon desöfteren getroffen.

Global Review: Dr. Rahr, lassen sie uns einen näheren Blick auf die Nationalen Sicherheitsstrategien Russlands seit 2009 werfen. Damals verabschiedete der russische Nachfolger Putins eine Sicherheitsstrategie bis 2020. Die damalige FAZ berichete dazu:

„Nationale Sicherheitsstrategie“ : Russland will wieder Weltmacht werden

  • Aktualisiert am 13.05.2009-19:46

Der russische Präsident Medwedjew hat die „Nationale Sicherheitsstrategie bis 2020“ unterzeichnet. Ziel der russischen Politik muss es danach sein, den Status einer Weltmacht wiedergewinnen. Russische Rohstoffressourcen werden ausdrücklich in das Arsenal der Machtmittel aufgenommen.

Der russische Präsident Medwedjew hat die „Nationale Sicherheitsstrategie bis 2020“ unterzeichnet. Kern der neuen Strategie ist eine Verbindung der klassischen Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik mit der inneren Entwicklung, die gleichberechtigt in den Blick genommen wird, um die nationale Sicherheit zu gewährleisten.

In die Sicherheitsstrategie ist deshalb eine noch von Medwedjews Vorgänger Putin initiierte „Agenda 2020“ für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung Russlands integriert. Ziel der russischen Politik muss laut der Strategie die Wiedergewinnung des Status einer Weltmacht sein.

Rohstoffe als Machtmittel

Russische Rohstoffressourcen werden ausdrücklich in dem Arsenal der Mittel aufgeführt, über die Russland verfüge, um diesem Ziel näherzukommen. Im sicherheitspolitischen „Bedrohungsszenario“ der Strategie sind die möglichen Gefahren, denen sich Moskau zu stellen habe, aufgelistet: die Proliferation von Massenvernichtungswaffen, der internationale Terrorismus, Versuche, regionale Konflikte mit Gewalt zu lösen, Ausländerhass und Separatismus, Afghanistan, ein verschärfter Kampf um Rohstoffvorkommen, der auf die Barentssee, die Antarktis, das kaspische Becken und Zentralasien ausgreife.

Da der Einsatz militärischer Gewalt in diesem Kampf um Ressourcen nicht auszuschließen sei, ergebe sich daraus die zusätzliche Gefahr von Instabilität an Russlands Grenzen. Die amerikanischen Pläne für die Stationierung von Elementen des Raketenschilds in Ostmitteleuropa haben aus russischer Sicht ebenfalls destabilisierende Wirkung.

„Strategische Partnerschaft“ mit Amerika

Angesichts dieser Pläne und eines Konzepts, das Amerika in die Lage zu weltweiten Überraschungsschlägen mit atomaren und konventionellen strategischen Raketen setze, werde Russland alles tun, um die Parität mit den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der strategischen Waffen zu bewahren. Zugleich strebe Russland aber eine „strategische Partnerschaft“ mit den Vereinigten Staaten an und wünsche Verträge zur weiteren Verringerung und zahlenmäßigen Begrenzung strategischer Angriffswaffen.

Mit Amerika will Russland zudem bei der Verbesserung des Non-Proliferation-Regimes und der Bekämpfung des Terrorismus zusammenarbeiten. Das Kooperationsangebot gilt grundsätzlich auch für die Nato, der Moskau freilich vorwirft, dass sie in der Sicherheitsarchitektur des euro-atlantischen Raumes eine exklusive Rolle beanspruche und sich unter Verletzung internationalen Rechts „globale Funktionen“ anmaße.

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nationale-sicherheitsstrategie-russland-will-wieder-weltmacht-werden-1797154.html

Inwieweit hatte Putin schon seine Sicherheitsstrategie selbst geschrieben, die bis 2020 gelten sollte? Inwieweit beeinflusste er die Nationale Sicherheitsstrategie , was waren seine eigenen Ideen: Weltmacht und Resourcenempire? Damals war noch die Rede von einem Dialog und einer möglichen Partnerschaft mit den USA und der EU und dem Westen.Was beabischtige Putin damit?

Mit Erlass vom 31.12.2015 Nr. 683 hat Präsident Putin die neue nationale Sicherheitsstrategie Russlands in Kraft gesetzt.

In dem Dokument wird betont, dass Russlands seine Rolle bei der Lösung wichtiger internationaler Probleme, der Beilegung von Militärkonflikten, der Gewährleistung der strategischen Stabilität und der Hoheit des Völkerrechts in den zwischenstaatlichen Beziehungen gestärkt habe. Die Wirtschaft habe die Fähigkeit zur Sicherung und Erhöhung ihres Potenzials während der Unstabilität der Weltwirtschaft und Anwendung der Wirtschaftssanktionen gezeigt.

Die selbständige Außen- und Innenpolitik Russlands finde Widerstand seitens der USA und ihrer Alliierten. Ihre Eindämmungspolitik umfasse die Asuübugn von Druck auf den Gebieten der Politik, der Wirtschaft, des Militärs sowie der Informationen.

Die Erhöhung des Machtpotenzials der NATO, die Aktivierung der Militärtätigkeit der Block-Mitglieder, die Erweiterung der NATO und ihre Annäherung an die russischen Grenzen gefährde die nationale Sicherheit Russlands.

Die Politik Westens, die auf die Verhinderung der Integrationsprozesse sowie auf die Erzeugung von Spannungsherden in der Eurasischen Region gerichtet sei, beeinflusse die Realisierung russischer nationaler Interessen negativ. Die Unterstützung des Staatsstreichs in der Ukraine durch die USA und EU habe zu einer tiefen Spaltung in der ukrainischen Gesellschaft sowie zu einem Militärkonflikt geführt. Die Ukraine entwickele sich zu einen langfristigen Spannungsherd in Europa und unmittelbar an der russischen Grenze.

Die Praktix der Entmachtung legitimer politischer Führungen habe sich verbreitet. Der so genannte „Islamische Staat“ sei die Folge einer Politik der doppelten Standards gewesen.

Die langfristigen Interessen Russlands bestehen in folgendem:

       –  Stärkung der Verteidigung Russlands, Gewährleistung der Souveränität und territorialen Integrität,

 -Stärkung der politischen und sozialen Stabilität, Entwicklung einer Zivilgesellschaft,

 -Erhöhung des Lebensstandards, Gewährleistung der demographischen Entwicklung,

 – Sicherung und Entwicklung der Kultur und der nationalen Werte,

 -Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft,

 -Festigung der Position des Landes als einer führenden Weltmacht.

Russland sei an der Verstärkung einer Zusammenarbeit mit der EU sowie an dem Aufbau einer vollwertigen Partnerschaft mit den USA interessiert. Russland sei auch bereit, mit der Nato zusammenzuarbeiten. Eine solche Partnerschaft müsse aber gleichberechtigt und zum Zwecke der Verstärkung der allgemeinen Sicherheit sein. Der Bestimmungsfaktor in den Beziehungen mit der Nato bleibe die Inakzeptanz einer Annäherung der NATO an die russischen Grenzen sowie eine Erhöhung ihrer Militäraktivitäten. 

https://www.ostinstitut.de/de/news/aktuelles/news_ansicht/d/neue_nationale_sicherheitsstrategie_russlands

Inwieweit war dies neue Nationale Sicherheitsstrategie 2015, also ein Jahr nach der Krimannektion und dem Ukrainekonflikt von der vorherigen unterschiedlich und was blieb gleich und änderte sich? Inwieweit war dies Putins eigene Initiative oder Reaktion auf Aktionen des Westens?

Alexander Rahr:  Vladimir Putin ist eindeutig der große Stratege hinter allen russischen außenpolitischen Doktrinen seit 1999. Dmitri Medwedew hat in der jüngsten russischen Geschichte nur die Rolle eines Platzhalters gespielt. Er hatte kein eigenes außenpolitisches Konzept. Auch wenn Medwedew in manchen Kreisen als ein Liberaler angesehen wird: die Wirklichkeit ist, dass er kein eigenes Team und keinen Stab hat und auch als Präsident von 2008-12 niemals gehabt hat. Wäre Putin 2008 für immer abgetreten, wie es die damalige russische Verfassung erfordert hatte, wäre Medwedew höchstwahrscheinlich mit einer eigenständigeren außenpolitischen Konzeption wieder näher an den Westen gerückt. In seinem Innern schien er ein verdeckter Anhänger der Diplomatie von Boris Jelzin zu sein. Erinnern wir uns: Jelzin strebte in den 1990er Jahren danach, Russland im Westen zu verankern. Jelzin opponierte nicht gegen die NATO Osterweiterung auf die mittelosteuropäischen Staaten, weil er Verständnis hatte für die Sorgen dieser Länder, die 45 Jahre kommunistische Fremdherrschaft über sich ergehen lassen mussten. Jelzin dachte, die USA und die Europäer würden mittelfristig ein Bündnis mit Russland favorisieren – gegen die globalen Gefahren aus dem Süden. Jelzin schwebte eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur von Vancouver bis Vladivostok vor. Er konnte sich sogar eine Mitgliedschaft Russlands in der NATO vorstellen.

Nun kommen wir zu Putin und den diversen russischen Sicherheitsdoktrinen zu Beginn der 21. Jahrhunderts. Sie entsprechen einer historischen Logik, denn in Wirklichkeit sind die globalen Interessen Russlands und des Westens so verschieden, dass ein Bündnis oder eine Integration Russlands in den Westen unrealistisch erscheinen. Putin hat das anfangs seiner Amtszeit erkannt, als die NATO, trotz russischer Opposition, in den Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien Eingriff und Serbien die Region Kosovo entriss. Putin spricht heute freimütig von seiner großen Enttäuschung bezüglich des Westens im Tschetschenienkrieg. Statt den russischen Kampf gegen den dortigen Islamismus zu unterstützen, unterstützte der Westen die tschetschenischen Separatisten. Amerikas Ausstieg aus dem ABM-Vertrag und der Aufbau einer amerikanischen Raketenabwehr, die gegen den Iran, Nordkorea aber auch Russland gerichtet war, überzeugte Putin davon, dass der Westen ein Bündnis mit Russland ausschlug.

Die folgenden russischen Sicherheitsdoktrinen revolutionierten deshalb in eine andere Richtung. Russland und der Westen wurden wieder zu Rivalen, Konkurrenten, Gegnern. Putin änderte die russische Sicherheitspolitik und ging schon ab 2004/05 auf Konfrontation mit dem Westen. Es ist richtig, und so steht es in der heutigen Sicherheitsdoktrin, dass unter Putin Russland nach einem Grossmachtstatus strebt. Erreicht werden soll er durch die Stärkung Russlands als Ressourcen- und Energiesupermacht. Der Energiesektor wurde in Russland verstaatlicht, die Oligarchen aus dem Energiesektor entfernt, Russland setzt seine Rohstoffdominanz auf globaler Ebene für die Rückgewinnung des Supermachtstatus ein. Entsprechend Konfrontation fiel auf diese Entwicklung die Reaktion des Westens aus. Vor allem die EU begann sich von russischen Energieexporten unabhängiger zu machen.

Doch was sind – wenn man die letzte Sicherheitsdoktrin studiert – die wahren strategischen Interessen Russlands? Und warum sollte der Westen sie ernst nehmen und nicht eher gönnerhaft mit einem milden Lächeln auf Moskaus Grossmachtträume herabschauen? Ganz einfach: weil die nationale Sicherheitsdoktrin es ernst meint und Putin sie umsetzt – Schritt für Schritt. Russland wird von seinem Selbstverständnis her ein traditioneller Nationalstaat sein, der gegen den westlichen Transhumanismus und Postmodernismus opponieren wird. Russland hat gegenüber der NATO klare rote Linien gezogen: ein NATO Beitritt der Ukraine und Georgiens wird Russland und den Westen in einen Kriegszustand versetzen.

 Die westlichen Medien dürfen die Sachlage weiter sorglos kommentieren und Russland lächerlich machen. Das ändert nichts an der akuten Gefahr eines endgültigen Zivilisationsbruchs zwischen West und Ost. Die russische Sicherheitsdoktrin setzt, wie die NATO, auf Abschreckung. Deswegen sind wir aber lange nicht wieder im Kalten Krieg. Zukünftig gilt es, gegenseitige nationale Sicherheitsinteressen zu respektieren. Und einen Interessensausgleich zu suchen. Und hier mein Rat an den nächsten Bundeskanzler: Versuchen Sie eine neue Entspannungspolitik mit Russland voranzubringen. Putin ist ihr nicht abgeneigt, wie er in seinen letzten Namensartikeln stets betont. Berlin muss ihn ernst und beim Wort nehmen und Russlands Interessen mit in Betracht ziehen. 

Global Review: Was steht nun in der russischen neuen Nationalen Sicherheitsstrategie von 2021? Was hat sich nun geändert?Was sind die Neuerungen. Seltsamerwieise liest man kaum etwas dazu in den westlichen Medien. Die Moscow Times bescheinigt der neuen NSS eher eine völlige Paranoia bezüglich des In- und Auslands, das nur noch auf Sicherheitsinteressen beruhe und keine eigene Perspektve für das Land habe- Originalton Moscow Times:

„Neue nationale Sicherheitsstrategie ist die Charta der Paranoiden

Russlands neue Nationale Strategie betrachtet nicht nur das Ausland als Bedrohung, sondern auch die Prozesse, die die moderne Welt umgestalten. Von Mark Galeotti Russlands neue Nationale Sicherheitsstrategie ist kein revolutionäres Dokument, sondern baut zu einem erheblichen Teil einfach auf seinem Vorgängerdokument von 2015 auf. Sie markiert jedoch die fortschreitende Verschiebung der Prioritäten des Kremls hin zu Paranoia und einer Weltsicht, die nicht nur das Ausland als Bedrohung betrachtet , sondern die Prozesse, die die moderne Welt umgestalten. Die Strategie soll alle sechs Jahre aktualisiert werden, daher spiegelt das Dokument Wladimir Putin mit seinem Dekret „Über die nationale Sicherheitsstrategie der Russischen Föderation“ vom 3. Juli diesen Prozess der regelmäßigen Überarbeitung wider. Vieles ist im Wesentlichen dasselbe wie in der Iteration 2015, aber es sind die Änderungen, die zählen.

 Die Strategie soll die ultimative Destillation der nationalen Interessen Russlands, der strategischen Prioritäten und der Bedrohungswahrnehmung sein. Als solches ist es sowohl von großer als auch begrenzter Bedeutung. Es handelt sich eher um ein umfassendes Planungsdokument als um ein spezifisches und operatives: Klausel 40(3) spricht beispielsweise von der Bedeutung der Aufrechterhaltung einer angemessenen nuklearen Abschreckung, und Klausel 56 bekräftigt die Notwendigkeit, Russlands Souveränität über seinen Informationsraum zu stärken, ohne geben ein Gefühl dafür, was die Streitkräfteanforderungen des Landes sind oder wie „Informationssouveränität“ durchgesetzt werden kann.

Auf der anderen Seite soll es als grundlegendes Dokument zur nationalen Sicherheit – und für den Kreml wird heutzutage fast alles durch das Prisma der Sicherheit gesehen – in allen detaillierteren Doktrinen und Programmen sowie in den breiteren Durchführung der Staatspolitik. Auffallend ist, dass die neue Strategie ein alarmierenderes Bild der Bedrohungen, denen Russland aus dem Westen ausgesetzt ist, zeichnet und diese Bedrohungen auch umfassender konzeptualisiert. Dies ist kaum verwunderlich, da die Entwicklung des Dokuments dem Sekretariat des Sicherheitsrats obliegt. Obwohl seine Aufgabe hauptsächlich darin besteht, den jahrelangen Prozess der Konsultationserstellung zu erleichtern und einen Konsens zwischen verschiedenen Interessenträgern zu vermitteln, gibt dies dem Gremium in der Praxis einen erheblichen Einfluss auf den Prozess und das Ergebnis.

Das Abschlussdokument sieht sicherlich so aus, als ob es die Fingerabdrücke von Nikolai Patruschew trägt, dem mächtigen Sekretär des Sicherheitsrats und praktisch das, was das russische System einem Nationalen Sicherheitsberater am nächsten hat. Patruschew, eine der eher restriktiven Figuren in Putins engerem Kreis, hat keinen Hehl aus seiner Überzeugung gemacht, dass Russland sich bereits in einem nicht erklärten Kampf mit einem Westen befindet. Bereits im März sagte er der Zeitung Rossiiskaya Gazeta, dass der Westen „um Russland einzudämmen“ versuche, „die gesellschaftspolitische Situation im Land zu destabilisieren, die Protestbewegung zu inspirieren und zu radikalisieren und traditionelle russische spirituelle und Moralvorstellungen.“ Die Strategie identifiziert schnell die Bedrohung, die durch „den Wunsch westlicher Länder, ihre Hegemonie zu bewahren“ (Absatz 7) erzeugt wird, wobei die Hauptherausforderungen von nichtmilitärischen Vektoren herrühren, wie dem „Wunsch, die Russische Föderation zu isolieren und die Anwendung doppelter Standards in der internationalen Politik“ (18) und tatsächlich Versuche von „unfreundlichen Ländern…, sozioökonomische Probleme in der Russischen Föderation zu nutzen, um ihre innere Einheit zu zerstören, eine Protestbewegung anzuzetteln und zu radikalisieren, Randgruppen zu unterstützen und die russische Gesellschaft zu spalten“ (20) . Der letzte Punkt unterstreicht den in der Strategie immer weiter gefassten Begriff von „Sicherheit“ und „Bedrohung“. Dabei gehe es nicht nur um Cyberangriffe und Desinformation, sondern „versuche bewusst traditionelle Werte zu untergraben, die Weltgeschichte zu verzerren, Ansichten über die Rolle und Stellung Russlands darin zu revidieren, den Faschismus zu rehabilitieren und interethnische und interkonfessionelle Konflikte zu schüren“ und sogar den Einsatz von die russische Sprache (19). Lassen Sie uns klarstellen: Es gibt vieles in der Strategie, das entweder harmlos oder geradezu positiv ist. Die Verbesserung der öffentlichen Gesundheit und der Straßenverkehrssicherheit, der Schutz der Bürgerrechte, die Förderung eines gesunden Lebensstils, die Verbesserung der Arbeitsproduktivität, die Bekämpfung von Monopolen – all dies sind bewundernswerte Ziele. Wir haben solche Bestrebungen jedoch schon früher gesehen, und doch stellt der Kreml in seiner COVID-19-Reaktion politische Erwägungen über gesundheitliche und Genehmigungen. Die Wahrheit der Sache ist, dass die zunehmende Versicherheitlichung von allem und die Verbindung von allem, was der Kreml fürchtet oder nicht mag, mit ausländischer Subversion macht dies einfach zu einer Charta der Paranoiden. Es erlaubt nicht, sondern fordert, dass politische Opposition, Minderheitenmeinungen, sogar alternative Lebensstile als Bedrohung für den Staat behandelt werden. Schließlich liegt ein ganz neuer Fokus auf „dem Schutz der traditionellen russischen spirituellen und moralischen Werte, der Kultur und des historischen Gedächtnisses“. Die Strategie stellt fest, dass „traditionelle russische spirituelle, moralische und kulturhistorische Werte von den USA und ihren Verbündeten sowie von transnationalen Konzernen, ausländischen gemeinnützigen, nichtstaatlichen, religiösen, extremistischen und terroristischen Organisationen aktiv angegriffen werden“ ( Klausel 87). Lassen Sie uns beiseite, was „traditionelle russische Werte“ sein mögen – würden sie Leibeigenschaft, Knute und Terem (die soziale Ausgrenzung von Frauen) einschließen? Lassen Sie uns die leichte Feder beiseite legen, die es schafft, das Außenministerium, al-Qaida, Human Rights Watch und Facebook in die gleichen feindlichen Kräfte zu stecken. Dadurch wird die moderne Welt und alle sozialen und wirtschaftlichen Revolutionen, die sie neu gestalten, als Bedrohung neu klassifiziert. 1974 führten die sowjetischen Behörden – erschrocken über den schnellen und einfachen Informationsfluss, der nicht unter ihrer Kontrolle stand – drakonische Gesetze über die Aufbewahrung, Verwendung und Verwaltung von Fotokopierern ein. Der heutige Kreml klingt nur wenige Schritte davon entfernt, ähnlich dem Moloch des Fortschritts gegenüberzutreten. Die Frage ist natürlich, welchen Unterschied die Strategie machen wird. In vielerlei Hinsicht weist sie weniger einen neuen Kurs für die Zukunft auf, als vielmehr die Veränderungen der letzten Jahre fest. Die versuchte Vergiftung von Alexei Nawalny war wahrscheinlich ein Sieg für diejenigen, die argumentierten, dass er kein bloßer Oppositionspolitiker war, sondern tatsächlich ein Werkzeug der westlichen Subversion. Die aktuelle Kampagne, eine wachsende Zahl von Einrichtungen als „ausländische Agenten“ oder Verbindungen zu „unerwünschten Organisationen“ zu kennzeichnen, spiegelt nicht nur die Bequemlichkeit der Verwaltung wider, sondern auch die ehrliche Überzeugung zumindest einiger an der Spitze des Systems, dass dies die Bedrohung, der sie ausgesetzt sind. Nichtsdestotrotz ist die Charta des Paranoiden zumindest für die nächsten sechs Jahre Gesetz.“

Ist Putins neue Verfassung und die neue Nationale Sicherheitsstrategie miteinander verbunden und Gedanken deselben Vaters? Inwieweit entwickelt sich Russland in Sachen Autoritarismus hin zu einem neototalitären System wie China, wenn prowestliche NGOs auf eine Stiue mit Terroristen und dem Islamischen Staat gestellt werden?

Alexander Rahr: Das Problem des Westens, westlicher Medien und Think Tanks ist, dass sie alle aufgehört haben, Russland von Innen her zu studieren und Russland nur in der Eigenreflexion wahrnehmen wollen. Außerdem dominieren in der westlichen Russlandexpertise immer noch die alten Konfrontationen Denkschulen aus dem Kalten Krieg. Ich finde das tragisch, denn westliche Entscheidungsträger sind so nicht gefeilt vor katastrophalen Fehleinschätzungen. Und durch fatale Fehleinschätzungen, Politik der Doppelstandards, Arroganz und Überheblichkeit entstehen Konflikte. Ich will damit keineswegs sagen, dass der Westen immer falsch liegt und Russland richtig handelt. Ich bitte, mich da nicht falsch zu verstehen.

Russische Außenpolitik ist auch von Arroganz und Überheblichkeit bestimmt, aber – Moskau nimmt den Westen ernst und realistisch wahr. Die neue russische Sicherheitsdoktrin ist keine Paranoia, sondern die authentische Beschreibung und Festlegung Russlands als das „andere Europa“. Für manche im Westen spinnt Russland, wenn es die „einzig wahren Linien der westlichen Leitkultur“ negiert. Doch Russland kämpft um seine Machstellung in Europa, es hat immer versucht, Europa nach eigenen Vorstellungen zu formen, die den abendländischen Sichtweisen widersprachen. Erinnern wir uns: das zaristische Russland fungierte im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts als Bollwerk gegen die Französische Revolution. Mit dem Sieg über Napoleon 1812 standen die Russen in Paris. Im Ersten Weltkrieg kämpfte Russland für die orthodoxen slawischen Völker Osteuropas gegen Österreich und Deutschland. Der russische Panslawismus erlitt eine demütigende Niederlage, Russland verlor sein Imperium, kam aber in Gestalt des Bolschewismus mit einer neuen revolutionären Idee zurück nach Europa. Hitler-Deutschland wurde durch die Sowjetunion besiegt, die USA landeten erst ein Jahr vor Kriegsende in Europa. Dem Kommunismus hat Russland heute abgeschworen. Aber nicht den traditionellen russischen nationalen Werten.

Russland ist heute ein hochkapitalistisches und eher rechts-gerichtetes Land, aber mit einer links-geprägten Bevölkerung. Die rechts-gerichteten Herrschaftseliten und die sozialistisch geprägte Bevölkerung eint eines: der Wunsch nach einem starken Staat, der nach außen Gegner abschrecken kann und im Innern für sozialen Frieden sorgt. Für den Großteil der Russen ist westliche Demokratie weniger wichtig als ein starker Ordnungsstaat. Putin hat das verstanden, und formuliert dementsprechend seine Doktrin. In seiner Präsidentschaft wird er keinen Millimeter russischen Bodens abgeben. Er hofft auf eine Abspaltung der pro-Russisch denkenden Bevölkerung in der Ostukraine vom anti-russischen Teil der Westukraine. Ostukraine und Weißrussen werden in Russland als Teil der russischen Nation gesehen. So und nicht anders sollte man die russische Sicherheitsdoktrin verstehen. Russland kreiert mit der Eurasischen Union ein zweites europäisches Integrationsmodell, neben der Europäischen Union. Moskau will, dass sich beide Systeme ergänzen und ist für eine strategische Kooperation aller europäischen Staaten von Lissabon bis Vladivostok. Aber eben nicht ausschließlich auf westlichen Idealen, Vorstellungen und politischen Modellen.

Deshalb werden in Russland heute pro-westliche, liberale Nichtregierungsorganisationen bekämpft und verboten. Der Kreml verdächtigt sie alle, westliches Gedankengut über Regime change nach Russland transportieren zu wollen. In der russischen Führungsspitze kennt man die Wünsche des Westens: dass Putin verschwinden möge und ein pro- westlicher Politiker endlich das Land wieder Richtung Westen führen würde. Der Westen will Russland dort sehen, wo es unter Jelzin in den 1990er Jahren stand. Im Kreml argwöhnt man, dass der Westen das „Putin-Regime“ als „nicht legitim“ betrachten würde. Dementsprechend versucht Moskau im eigenen Land eine Drohkulisse gegen westliche Einflussbestrebungen aufzubauen. Natürlich macht Russland dasselbe, was der Westen in Russland tut: Moskau sucht die Kooperation mit den westlichen Kräften, die eine Zusammenarbeit mit Russland und kein US-höriges Europa wünschen. Den Westen ärgert das ungemein. Wie kann Russland es wagen gegen uns zu opponieren –  schreiben die hiesigen Medien. Nun, der Westen und Russland befinden sich, wenn man die russische Sicherheitsdoktrin liest, im Wettstreit der Kulturen, Ideen, wirtschaftlicher Überlegenheit. Das wird auf die Dauer so bleiben. 

Global Review:  Putin hat nach dem Treffen mit Biden, den russisch-chinesischen Freundschaftsvertrag verlängert und nun auch seine neue Nationale Sicherheitsstrategie beschlossen, die einen Dialog mit dem Westen nicht vorsieht. Die chinesische Global Times, ein wesentliches Organ der KP China  kommentiert dazu:

 „Die neue russische Strategie zeigt, dass es den USA nicht gelungen ist, die Beziehungen zwischen China und Russland zu spalten Moskau lässt die Erwartungen an den Westen fallen, die Beziehungen zu verbessern

 Yang Sheng Veröffentlicht: 05.07.2021 Russlands jüngste aktualisierte nationale Sicherheitsstrategie zeigt, dass der Versuch der USA, die Beziehungen zwischen China und Russland zu spalten, erneut gescheitert ist, und dies ist ein klares Signal Moskaus an die Welt, dass die Hauptbedrohung nach wie vor aus dem Westen und nicht aus dem Osten kommt. Chinesische Experten sagten, die russische Führung mit strategischer Weisheit habe festgestellt, dass der Einfluss und die Stärke des Westens schwinden, und deshalb priorisiere sie die Beziehungen zu nicht-westlichen Großmächten wie China und Indien. Die Nationale Sicherheitsstrategie der Russischen Föderation ist ein strategisches Dokument, das die Mittel umreißt, mit denen Bürger, Gesellschaft und Staat in allen Bereichen des nationalen Lebens vor äußeren und inneren Bedrohungen geschützt werden sollen. Das erste derartige Dokument wurde 1997 erstellt und ständig aktualisiert, um neue Entwicklungen zu berücksichtigen, sagte Sputnik News.

 Der russische Präsident Wladimir Putin hat der aktualisierten russischen Nationalen Sicherheitsstrategie zugestimmt, wobei das entsprechende Dekret laut Sputnik News am Samstag auf dem staatlichen Portal für Rechtsinformationen veröffentlicht wurde. Ma Yongbao, Experte für Russlandstudien und Senior Research Fellow am Think Tank der Global Governance Institution, sagte der Global Times am Sonntag, dass das neue Dokument im Vergleich zum ersten Dokument von 1997 einige Inhalte über den Aufbau einer Partnerschaft mit den USA entfernt habe und eine Win-Win-Kooperation mit der EU. „Das zeigt, dass die Widersprüche zwischen Russland und dem Westen ernst und schwer zu lösen sind.“

Alexander Rahr: China und Asien werden Russlands bevorzugte Partner sein, weil es zwischen Russland und den Asiaten kaum geopolitische Konflikte gibt und keinen Wettstreit von Ideen. Diese Tendenz ist sichtbar. Russland glaubt, seine Modernisierung eher vorteilhafte wirtschaftliche und technologische Allianzen mit asiatischen Staaten bewerkstelligen zu können. Von Europa kommen Sanktionen, aus Asien nicht. Die Chinesen haben die russische Kehrtwende von einer Hingabe nach Westen zu einer Reorientierung nach Asien mit Freude bemerkt.

Für China ist es wichtig gewesen, einen möglichen Beitritt Russlands zur NATO unter Jelzin und Medwedew zu verhindern. Eine 1200 km lange Grenze mit der NATO im Norden, US-Kriegsschiffe im Südchinesischen Meer – all das hätte die neue Supermacht China vermutlich geschwächt und ihren Wirtschaftsaufstieg aufgehalten. China weiß, dass im Falle einer militärischen Wiedereroberung Taiwans, Beijing mit einem russischen Beistand gegen die USA rechnen kann. In diesem Moment wird China auch die Krim als Teil Russlands akzeptieren, möglicherweise auch den Donbas. Für den Westen sind diese Überlegungen ein Albtraum. So sollte die neue multipolaren Welt niemals aussehen.

Mal schauen, ob der kollektive Westen aber den Übergang zur multipolaren Welt stoppen kann. Das ist eher unrealistisch. Es wird trotzdem eine neue Entspannungspolitik geben – im Klima- und Umweltschutz. Kein einzelnes Land, auch nicht die EU, kann das Problem CO2- Emissionen alleine angehen. Um den Planeten vor der Erwärmung zu bewahren, brauchen wir eine supranationale Koalition williger Staaten. Deutschland muss eine Vorreiterrolle bei einem Green Deal mit Russland spielen. Russland hat Deutschland diesbezüglich Vorschläge gemacht. Umwelt und Klima werden demnächst wichtiger als Atomwaffen und Abrüstung. Auf dieser Kooperationsebene kann verlorenes Vertrauen zurückgewonnen werden. 

Global Review: Zudem schreibt die KP China zu dem Biden- Putintreffen, dass dieses Russland nicht von China lösen könne und die Neue Sicherheitstrategie das Zeichen und der Garant dafür sei:

„Westliche Medien oder Beobachter, die erwarten, dass ein Treffen zwischen den Präsidenten der USA und Russlands die bilateralen Beziehungen wieder herstellen und sogar die chinesisch-russische Partnerschaft spalten kann, sind zu naiv. Sie haben keine Ahnung, was mit den russisch-amerikanischen Beziehungen in der in den letzten 30 Jahren. Es war eine Reihe von Tragödien“, sagte Li Haidong, Professor am Institut für Internationale Beziehungen der China Foreign Affairs University, der Global Times. Russland hat jede Erwartung aufgegeben, die Beziehungen zu den USA und der EU grundlegend zu festigen und zu verbessern, und was die USA Russland in den letzten Jahrzehnten angetan haben, hat Moskau immer wieder enttäuscht und beleidigt, sagten Analysten. Washington hat die Weichen für die Aufgabe seiner Rüstungskontrollverpflichtungen gestellt, heißt es in der Neuauflage der nationalen Sicherheitsstrategie Russlands. „Die Vereinigten Staaten verfolgen eine konsequente Politik des Verzichts auf internationale Verpflichtungen im Bereich der Rüstungskontrolle vor dem Hintergrund der Entwicklung des Potenzials für das globale Raketenabwehrsystem“, heißt es in dem Dokument, berichtete TASS. Er stellte fest, dass die geplante Stationierung amerikanischer Mittelstrecken- und Kurzstreckenraketen in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum eine Bedrohung für die strategische Stabilität und die internationale Sicherheit darstelle. Russlands tiefe Besorgnis über die USA betrifft nicht nur die Sicherheit, sondern auch die Wirtschaft. Das Dokument betrachtet die Reduzierung des Dollareinsatzes im russischen Außenhandel als eines der Mittel zur Sicherung der wirtschaftlichen Sicherheit des Landes.

Ma sagte, die Wirtschaftssanktionen der USA gegen Russland seien weder in der Amtszeit von Donald Trump noch in der Amtszeit des derzeitigen Präsidenten Joe Biden aufgehoben worden, und fügte hinzu, dass die derzeitige Politik der Federal Reserve den US-Dollar abwerten könnte, daher sei es vernünftig, dass Russland ein Beispiel für die Welt darüber, wie ein potenzielles globales Finanzrisiko durch die unverantwortliche US-Politik verhindert werden kann. Bezeichnenderweise nimmt das aktualisierte Dokument der Nationalen Sicherheitsstrategie den Ausbau der strategischen Zusammenarbeit mit China und Indien in die Liste der außenpolitischen Prioritäten Russlands auf, um Mechanismen zu schaffen, die die regionale Sicherheit und Stabilität im asiatisch-pazifischen Raum auf bündnisfreier Basis gewährleisten Region, berichtete Sputnik News.

 Chinesische Experten sagten, China und Russland seien beide große Atommächte und ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, die einen einzigartigen Einfluss und eine einzigartige Verantwortung haben, um die Weltordnung, den Frieden zu schützen, die Gerechtigkeit für die internationale Gemeinschaft zu verbessern und die US-Hegemonie auszugleichen. Die beiden Länder teilen in vielen Bereichen gemeinsame Interessen und stehen unter ähnlichem strategischen Druck aus dem Westen, so dass zu erwarten ist, dass Russland seinen Beziehungen zu China Vorrang einräumen wird, sagten Analysten. Sie sagten, dass, wenn China oder Russland, insbesondere Russland, eines Tages eine totale Konfrontation mit dem Westen haben, die beiden Großmächte zumindest vertrauen und sich aufeinander verlassen können, um eine völlige Isolation zu vermeiden, eine Art Versicherung, die Russland nicht bekommen kann von woanders.

https://www.globaltimes.cn/page/202107/1227805.shtml

Wie beurteilen Sie diesen chinesischen Kommentar. Ist die KP China in Panik, dass die USA doch eine Änderung in der russischen Aussen-und Sicherheitspolitik bewirken könnte?Und wie könnten die USA dies erreichen? Oder stimmt die Analyse, dass Bidens Herangehensweise naiv ist? Zudem: Was hat der Biden-Putingipfel gebracht? War es mehr eine Goodwill-Show beider oder doch ernsthafter gemeint und kam es zur Gründung der vom Weißen Haus angekündigten Arbeitsgruppen zu verschiednenen Themen, die Vorschläge erarbeiten sollen, ähnlich wie RIAC mit der Münchner Sicherheitskonferenz dies schon mittels Iwanow und Ischinger vorpreschend getan haben?

Alexander Rahr: Ich schrecke fast zurück, Ihre Frage zu beantworten. Warum? Weil aus meiner Sucht die chinesischen Experten recht haben. Als deutscher Experte darf ich das eigentlich nicht sagen, das entfernt mich vom deutschen Mainstream. Ich drehe mal den Spieß herum und argumentiere so: mir geht es, wie auch GR, um die Analyse und Feststellung deutscher Interessen. Verzeihen Sie meinen Hochmut, aber aus einer arroganten Position „der Westen hat immer recht, weil er die bessere Moral besitzt“ kann und darf man die heutige Weltlage nicht mehr kommentieren. Ich wage zu behaupten: das kontinuierliche Festhalten an der Werte orientierten Außenpolitik mag theoretisch deutsche Interessen in der Welt widerspiegeln. Tatsächlich führt dieser Ansatz zu immer neueren Konflikten. Deshalb plädiere ich für eine Revision deutscher nationaler Interessen: weg von der Hypermoral, hin zu mehr Pragmatismus und Interessensausgleich mit anderen nicht-liberalen Mächten dieser Welt. Sie fragen nach dem Ergebnis des Biden-Putin Gipfels. Nun, die USA und Russland werden meiner Meinung nach jetzt pragmatischer miteinander umgehen, nach Kooperationsmöglichkeiten in Feldern suchen, wo es für beide Seiten zum Vorteil wird.

Ich denke, eine neue Abrüstungspolitik ist nicht mehr in weiter Ferne. Die USA werden jetzt keine Sanktionen mehr gegen Moskau verhängen, die Nord Stream 2 Pipeline wird durchgewinkt. Die EU hat den Ernst der Weltlage noch nicht ganz verstanden. Die mittelosteuropäischen Neulinge in der EU und NATO scheinen sich für die wahren Weltprobleme überhaupt nicht zu interessieren. Klima- und Umweltschutz scheint sie kaum zu sorgen. Die Migrationskrise in der EU haben sie ausgesessen. Pandemie hin-oder-her: die reicheren westlichen Nachbarn müssen helfen. Ihr außenpolitisches Augenmerk ist einzig und allein auf die Auseinandersetzungen mit Russland gerichtet und in diese Konfrontation ziehen sie die alten Westeuropäer, die sich eigentlich mit,Russland aussöhnen wollten, mit hinein.

Ich finde, der künftige Bundeskanzler muss hier auch mal mit der Faust auf den Tisch hauen. Europas Sicherheitsinteressen können nicht ständig Geiseln der Russophobie einzelner Mittelosteuropäer sein. Ich will damit nicht sagen, dass die Polen und Balten, Ukrainer und Tschechen stets falsch liegen. Anders als wir Deutsche, haben sie Angst vor einer russischen Übermacht.  Aber das Problem ist über Entspannungspolitik, Aussöhnung und Dialoge zu lösen, nicht durch eskalierenden Streit. Die Länder des europäischen Ostens müssen sich genauso versöhnen, wie die westlichen Europäer nach dem Krieg. Konflikte an der Grenze zu Russland treiben Moskau weiter Richtung Militärbündnis mit China. Ein Alptraum für Europa. 

Global Review: Zudem ist es ja auch noch nicht zu der von Putin erwogenen russisch-chinesischen Militärallianz gekommen. Putin verlängerte desweiteren mit China den Freundschafts- und Grenzvertrag. Wurde dieser nur übernommen oder erweitert oder weitergehend geändert? In welcher Phase und Position  beim Übergang zu einer multipolaren Welt und bei den russisch-chinesischen Beziehungen wähnt sich Russland?

Alexander Rahr: Russland und China haben stetige Beziehungen. Angesichts des westlichen Drucks auf Moskau und Beijing rücken diese beiden Staaten zusammen. Es gibt an der russisch-chinesischen Grenze keine Bedrohungsszenarien, wie an der Grenze NATO-Russland. Es gibt gewisse Klauseln im Russisch-chinesischen Freundschaftsvertrag, die nichtöffentlich sind. Hier geht es um militärische Kooperation. Ich bemerke, dass die Zusammenarbeit zwischen USA und Russland im Weltraum schwächer wird. Die USA brauchen die Russen als Partner nicht mehr. Dafür gehen Russen und Chinesen enger zusammen. Ich wette, beide Staaten planen noch vor den Amerikanern und Europäern eine bemannte Mondreise. Nicht auszuschließen sind gemeinsame Manöver von Hyperschallwaffen, die hochgeheim sind. Mehr sollte man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen. 

Global Review: Nach dem Abug der NATO aus Afghanistan, stürmen nun die Taliban in den Süd- und Nordprovinen voran.Sie zscheinen nun auch die möglichen Rückzugsgebiete der damaligen Nordallianz zu erobern, um eine wiedermalige Entstehung schon präventiv zu verhindern und möglichen Anti-Talibankräften jeglichen potentielle Widerstandsbasis unmöglich zu machen. Tadschikistan hat jetzt seine Grenztruppen zu Afghanistan verstärkt und Russland erklärt, dass es bei der Bewältigung etwaiger Grenzopnflikte auch militärisch intervenieren wolle. Welche Perspektive sieht Russland, China, Pakistan und Indien als Mitglieder der SCO für Afghanistan und die Stabilität Zentralasiens und Südasiens?

Alexander Rahr: Ich war zunächst der Meinung, dass Afghanistan und der NATO Rückzug von dort Gesprächsthema des Biden-Putin Gipfels werden könnte. Ich nahm an, die USA würden in dieser Region Russland als die vernünftigste Ordnungsmacht akzeptieren. Stattdessen setzen die USA hier auf Indien. Die Amerikaner wollen auch separate Sicherheitsbeziehungen mit den Ländern Zentralasiens aufbauen. Einige russische Experten behaupten, die USA hätten mit den Taliban einen geheimen Deal ausgemacht. Letztere sollen die nächsten Jahre Russland und das Kollektive Sicherheitsbündnis der Eurasischen Union – die CSTO ( Collective Security Treaty Organisation) – bekriegen und den russischen Einfluss in der Region des südlichen postsowjetischen Raumes dauerhaft schmälern. Russland könne so kein Imperium mehr sein. Der Krieg gegen den Islamismus soll also auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion stattfinden. Ich finde eine solche Überlegung makaber, sie würde aber in das Denken amerikanischer Hardliners hineinpassen.

Ich persönlich glaube langfristig an eine teilweise Wiederaufnahme von US-Russland gemeinsamen Militäraktivitäten gegen den Islamismus. Hier müsste sich auch Deutschland, das für die Befriedung Afghanistans 20 Jahre Mitverantwortung getragen hatte, besser positionieren. Wenn schon die USA als Ordnungsmacht versagt haben, so muss in Zukunft in der Region um Afghanistan mit Russland militärisch kooperiert werden. Das wäre ein Anliegen für den nächsten Bundeskanzler. Was Russland angeht, so haben russische Politiker die Idee, Afghanistan in eine Union mit Zentralasien zu integrieren, mit anderen Worten, Zentralasien um Afghanistan zu erweitern, um dort unmittelbar für Stabilität zu sorgen. Nur: Afghanistan unter einer Taliban- Führung wäre für Zentralasien eine dauerhafte Gefahr. 

Global Review: Bei dem jüngeren Valdaiclubtreffen war nach Zentralasien diesmal der Balkan ein zentrales Thema, wobei sie selbst einen Beitrag zu Serbien verfassten. Wie beurteilen Sie die Rolle Russlands, der Türkei und Chinas auf dem Balkan und die der EU. Während Merkel und Deutschland sehr darauf drängt die EU- Mitgliedschaft von Balkanstaaten zu forcieren, hat Macron eine weitere Aufnahme mit der Forderung verbunden, dass erst der EU-Vertrag dahin gendert werden müsse, dass Neumitglieder der EU sich nicht nur anfangs an die Mitgliederkritierien halten, sondern auch grundsätzlich und langfristig. Andernfalls müsse man sie ausschliessen können. Während Deutschland eher der Ideologie nachhängt Big is Beautyful und Quantität statt Qualität, Masse statt Klasse bevorzugt und von der Angst getrieben ist, Russland könne den Balkan sich geopolitisch einverleiben, scheint Macron eine andere Vorstellung zu haben.Wie sehen Sie dies und auch aus der Sicht Russlands?

Alexander Rahr: Die Sitzung des internationalen Valdai Klubs in Belgrad hat deutlich vor Augen geführt, dass Serbien an engen Beziehungen mit Russland interessiert ist, gleichzeitig aus materiellen Gründen der EU angehören möchte. Eine NATO Mitgliedschaft Serbiens ist wegen des NATO Krieges gegen Serbien 1999 ausgeschlossen. Wirtschaftlich wird sich Serbien wohl eher an China und Russland orientieren, weil die politischen Bedingungen, von denen ein Beitritt Serbiens zur EU abhängt, heute für die Serben unerfüllbar sind. Gemeint ist hier die Anerkennung des Kosovo. Spekuliert wurde auf der Balkan-Konferenz über die Idee von Grenzverschiebungen auf dem Westbalkan. Der bisherige Rumpfstaat Bosnien- Herzegowina soll die serbisch besiedelten Gebiete an Belgrad abgeben, die kroatisch besiedelten Gebiete an Zagreb. Kosovo könne sich mit Albanien vereinigen, vermutlich auch Bosnien.

Die USA scheinen aus Stabilitätsgründen den Plan zu unterstützen, Deutschland und Frankreich sind gegen Gebietsveränderungen. Deutschland träumt in der Tat von einer neuen EU-Erweiterung auf den Westbalkan. Man wolle in Europa kein Niemandsland und keine weißen Flecken, hört man in Berlin. Die Franzosen dagegen halten schon die jetzige EU für überdehnt. Sie fürchten um die wirtschaftliche und finanzielle Stabilität der EU wenn neue unreformierte und arme Staaten aufgenommen werden.

Aus meiner Sicht ist die Idee, durch die EU ein neues friedliches Imperium Karl des Großen zu schaffen, nicht mehr zu erfüllen. Nach dem Austritt Großbritanniens aus der EU verlagert sich das politische Gewicht der EU sowieso nach Mittelosteuropa. Die künftige EU wird bald nicht mehr von der Achse Berlin- Paris getragen sein. Angesichts der neuen Stärke Russlands und der Türkei hat die EU das frühere politische Monopol auf Europa verloren. Nicht alle im Westen haben das verstanden. Ich muss schon sagen: Valdai in Belgrad war höchst spannend. 

Global Review: Wie glauben Sue, dass sich der Ukrainekonflikt weiterentwickelt? Russland stationierte ja vor dem Biden-Putintreffen massiv Truppen zur ukrainischen Grenze, dass nicht klar war, inwieweit hier eine erneute Annektion der Ostukraine oder aber nur ein Austesten von Biden erfolgen würde. In unserem Global Review-Interview meinten Sie, dass Russland nicht die Absicht habe, die Ukraine wie vor 100 Jahren zu erobern, was sich dann richtig herausstellte. Wi sieht Russland die weitere Entwicklung in der Ukraine, nachdem die Türkei der ukrainischen Armee Drohnen liefert, die USA Defensivwaffen, Deutschland bisher nur diplomatisch über den Minsker Prozess beteiligt ist, nun aber der Grünencokandidat in die Ukraine fährt, sich mit Stahlhelm ablichten lässt und deutsche Defnsivwaffenlieferungen von Deutschland an  die Ukraine fordert, während GB im Schwarzen Meer Drohgebärden ggen Russland fährt? Wird dies in Moskau eher als Lachnummer wahrgenommen oder wie sonst?

Alexander Rahr: Das deutsche Interesse am Ukraine-Konflikt ist klar. Es darf keinen großen Krieg auf dem europäischen Kontinent geben. Deshalb hat Bundeskanzlerin Merkel den Minsk-Prozess eingeleitet. Sie setzt auf das bisherige Normandie-Format. Was ist das russische Interesse? Langfristig eine Aufteilung der Ukraine in einen prorussischen Ostteil und einen prowestlichen Westteil. Kurzfristig will Russland, dass die Ukraine eine Föderation wird. Dann können die östlichen Regionen der Ukraine ihre Wirtschaftsbeziehungen mit Russland wieder aktivieren. Die Westukraine könnte gleichzeitig mit der EU enge Bande knüpfen. Russland wird die ukrainischen Separatisten in der Ostukraine um jeden Preis stützen. Eine Rückgabe der abtrünnigen Republiken des Donbas an die Ukraine wird es nur dann geben, wenn diese Regionen einen besonderen Autonomiestatus bekommen. Kiew ist nicht bereit dazu. Deshalb bleibt der Konflikt in der Ostukraine angespannt und eingefroren.

Was möchte die Ukraine? Kiew will, dass der Westen ihr hilft, die von Russland okkupierten Landesteile, einschließlich die Krim, wiederzubekommen. Kiew glaubt, der Westen nutze nicht alle Mittel, unter anderem Sanktionsschrauben, um Moskau so zu schwächen, dass es kapituliert. In dieser Hinsicht irrt sich die Ukraine. Egal, was manche westliche Politiker an Drohungen gegenüber Russland aussprechen, im Grunde will niemand einen heissen Krieg riskieren. Also bleibt der Konflikt in der Ostukraine eingefroren. Die Krim wird die Ukraine auch nicht zurückbekommen. Dazu müsste man die mehrheitlich russische Bevölkerung der Halbinsel überzeugen, sich von Russland zu lösen und sich der Ukraine anzuschließen. Mir fehlt die realistische Vorstellung, wie das zu machen ist, auch rechtlich. Ein Game changer könnte der Beitritt der USA zum Normandie-Format sein. Dann wäre der Konflikt allerdings nicht mehr europäisch, sondern Teil der großen amerikanischen Geopolitik. Doch auch die USA werden keinen Krieg für die Ukraine gegen Russland führen. 

Global Review: Wie wird sich Russland in weiteren Belaruskonflikt verhalten? Lukatschenkow entführt inziwschen internationale Flugzeuge, spricht von terroritischen Schläferzellen, die mit deutscher und Merkels Unterstützung einen Putsch in Belarus planten, nun überlegt Europa mit Flüchtlingsströmen zu überfluten? Hat dies Putins Goodwill als Speerspitze gegen den Westen oder gefällt dies Putin nicht? Was sind Lukatschenkows, die belarussischen und Putins und die russischen Interessen? Ist Putin alles recht, nur um Belarus zu einem Teil der Russischen Föderation und der Eurasischen Union zu machen?

Alexander Rahr:Belarus ist, anders als die Ukraine, Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion und damit von Russland abhängig. Die EU hat kaum nennenswerten Einfluss auf dieses Land. Belarus ist Teil eines von Russland angeführten Militärbündnisses. Die Mehrheit der Weißrussen wollen keine Mitgliedschaft in der NATO. Lukaschenko ist ein Meister im Lavieren. Er hält sich an Russlands Rockzipfel, wenn er Druck aus dem Westen bekommt. Doch wenn Russland ihn unter Druck setzt, sich in einen Unions-Staat mit Russland zu begeben, versucht er wieder Hilfe im Westen gegen Moskau zu bekommen. 20 Jahre spielt er schon dieses Spiel und nicht ohne Erfolg. So überlebt er politisch. Es ist falsch anzunehmen, das Schicksal Lukaschenkos hinge alleine von Putin ab. Langfristig sehe ich einen Machtwechsel in Belarus, der einen moderateren Politiker hervorbringt. Lukaschenko wird wohl ins Exil gehen müssen, um sich vor gerichtlichen Verfolgungen retten zu können.

Belarus bleibt aber vorerst in der Eurasischen Wirtschaftsunion, denn ich sehe keine realistische Perspektive für eine kostspielige EU-Erweiterung auf Länder der ehemaligen Sowjetunion. Wir es momentan scheint, nutzt Russland keineswegs die Schwächung Lukaschenkos, um sein Land nach Russland zu integrieren. Putin weiss, dass eine nicht-rechtliche, also auf kein Referendum basierte Wiedervereinigung zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Nachbarland führen kann. Für Moskau ist es jetzt vor allem wichtig, Belarus von  NATO und EU fernzuhalten. Solange Lukaschenko sich an der Macht haelt, hat Moskau da nichts zu befürchten. Jegliche Versuche eines Regime changes seitens des Westens in Belarus wird Russland unterbinden. Aber wie geht es weiter? Gerade hat Russland wieder Moldawien an den Westen verloren. Im Kaukasus wird der russische Einfluss von der Türkei verdrängt, in Zentralasien hängt alles davon ab, ob Russland diese Länder dauerhaft vor Islamisten schützen kann. Was in Belarus passieren wird nach Lukaschenko ist nicht vorhersehbar. 

Global Review: Die EU will bis 2050 klimaneutral und eine grüne Wasserstoff-EU sein. Ist das realitsisch ohne Russland?Zur Erreichung der Ziele des Pariser Klimaabkommens und einer klimaneutralen grünen Wasserstoff-EU hat die EU nur die Möglichkeit haben, erneuerbare Energiegürtel nicht in Europa zu bauen,da dies nicht ausreichen würde,  sondern in den Sonnengürteln der MENA-Region und dem Sonnengürtel von Westafrika über die Sahelzone nach Somalia. Während der MENA-Gürtel nach den Wirren des Arabischen Frühlings eine gewisse Stabilisierung erfährt, muss man die Türkei und Russland zumindest einbeziehen, wenn man ein stabiles Umfeld und vielleicht einen Sonnengürtel will. Und wenn es für grünen Wasserstoff keine Möglichkeit gibt, ist man auch auf Russland oder die USA angewiesen, um aus Gas blauen oder türkisfarbenen Wasserstoff zu gewinnen. Der andere Sonnengürtel von Westafrika bis Somalia erodiert und wird zu einem Instabilitätsgürtel. Eine dritte Option wäre, sich auf die Subsahara, das südliche Afrika, zu konzentrieren, aber das hat bisher niemand vorgeschlagen, nicht einmal die EU oder Deutschland. Einige Deutsche und Europäer hoffen auf einen Sonnengürtel in Australien, aber selbst das ist sich nicht sicher , auch in einer sicheren Umgebung, da Australien Asien versorgen will und der Energietransfer nach Europa ein weiteres großes Problem wäre, wenn man nicht glaubt, dass all die Energie und der Wasserstoff von Containerschiffen geliefert werden könnten. Ein Unterwasserstromkabel von Darwin nach Europa ist in der Herstellung nicht möglich. Wie betrachtet Russland und auch Gazprom die deutsche und europäische Energiewende?

Alexander Rahr: Wie wird in Russland die deutsche Energiewende gesehen? Ihre geoökonomische Analyse ist stimmig, nichtsdestotrotz heute sehr utopisch. Die Wasserstofftechnologie wird erst in 15-20 Jahren Anwendung finden können. Die Sonnengürtel-Infrastruktur ist für Terroranschläge der Islamisten viel zu anfällig. Und: in einem technologisch so hochentwickelten Land wie Deutschland funktioniert weder die Digitalisierung auf anständigem Niveau. Noch funktioniert das Stromnetz zwischen Bayern und Schleswig Holstein. Deutschland verzichtet auf eigene Atomkraftwerke, muss aber Atomstrom in Frankreich anfordern, weil die eigenen Stromleistungen schwächeln. Die deutsche Landbevölkerung wehrt sich gegen neue Windräder, deren Zahl aber verdreifacht werden muss, um die nächste ökologische Energiewende zu schaffen. Für Elektroautos fehlen Ladestationen. Für die Batterieherstellung benötigt die deutsche Industrie Rohstoffe, die es in Europa nicht gibt. Man ist wieder auf Produzenten wie China und Russland angewiesen. Kurzum: Deutschland wird grösste Mühe haben, den Übergang zu regenerativen Energieträgern so schnell zu schaffen, wie die Regierung es heute verspricht. Enttäuschte Erwartungen wird es geben. Vor allem werden innerhalb der EU kaum genug Länder mit der gleichen Radikalität die Energiewende angehen, wie es der deutsche Fahrplan für Europa vorsieht. Nichtsdestotrotz muss an grünen Deals gearbeitet werden und Moskau ist keineswegs dagegen. Was man nicht will, ist eine neue Form der grünen Kolonisierung durch „fortschrittliche“ Länder. Die weniger starken Partner Deutschlands auf dem Gebiet der Ökologie fordern Mitsprache und Ebenbürtigkeit. 

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