Wettbewerb der Verfassungen und der „Neustaat“

Wettbewerb der Verfassungen und der „Neustaat“

In einer Analyse der neuen russischen Verfassung entwickelt Dr. Hans Ulrich Seidt, ehemaliger Botschafter des AAs in Afghanistan und Südkorea, die These, dass sich die Welt- und Geopolitik zukünftig auch durch einen Wettbewerb der Verfassungen auszeichnen werde.

„Dennoch bleibt es eine offene Frage, ob die jüngste Änderung der Verfassung die Position Russlands im Wettbewerb mit China, den USA und der Europäischen Union dauerhaft sichern oder gar verbessern kann. Längerfristig stellen der Rückgang der russischen Bevölkerung, die Abhängigkeit von Rohstoffexporten und die außerhalb des Rüstungssektors stagnierende wissenschaftliche Innovationskraft die russische Führung vor außerordentliche Herausforderungen. Doch die Staaten der Europäischen Union und Nordamerikas sehen sich, das führt die Corona-Pandemie eindringlich vor Augen, Problemen vergleichbarer Dimension gegenüber. In dieser Lage führt der Wettbewerb der Mächte im nächsten Jahrzehnt zur verschärften Konkurrenz ihrer Verfassungsordnungen und Gesellschaften.“

In dem Russlandbeitrag kommt Dr. Seidt zum Ende zur Schlussfolgerung,dass wir überspitzt gesagt,einem Wettbewerb, wenn schon nicht Konkurrenz und auch noch nicht einem Krieg der Verfassungen gegenüberstehen.

Dazu noch ein ganz interessantes Interview aus dem Jahre 2009 über das GG, in dem die These vertreten wird, dass das GG aus dem Geist der Ängstlichkeit hervorging und wenig Visionäres biete, insofern dies eine Verfassung überhaupt leisten kann. Zudem ein Vergleich mit der amerikanischen, britischen und französischen Verfassung..

https://www.deutschlandfunkkultur.de/wie-ein-land-sich-in-seiner-verfassung-spiegelt-100.html

Die Frage ist auch,ob das GG heute noch kompatibel mit den geopolitischen Veränderungen und der Systemkonkurrenz ist,nicht nur beim vielzitierten Thema Migration und Asylgesetz

Aber um auf Dr. Seidts Analyse zurückzukommen ,wird der Wettbewerb der Verfassungen auch eine Dskussion über einen neuen Staat, eine neue Ordnung, einen „Neustaat“ hervorbringen::

„Sowohl mit Blick auf RUS als auch im Hinblick auf CHN stehen wir als Deutsche und Europäer in einer Systemkonkurrenz was die politischen Führungsstrukturen und Handlungsmöglichkeiten angeht. Das spiegelt sich im Wettbewerb der Verfassungen.

Der Terminus Neustaat wurde vom Fraktionsvorsitzenden der CDU-Fraktion, Brinkhaus, in die Diskussion eingeführt. Ernst gemeint hat er das wohl nicht, aber es ist wichtig, darüber nachzudenken, und zwar schnell.“

Das Wort Neustaat höre ich zugegebenermaßen zum ersten Mal und ist medial auch nicht präsent oder einer, der aufmerksamkeitsökonomisch schon  ins Gewicht fiele. Ob aber ein „Neustaat“gewollt ist, ist die Frage, zumal falls, wohl die Vorstellungen von einem Neustaat zwischen Linkspartei über Grüne und FDP bis Union oder gar AfD weit auseinandergehen würden. Ob da überhaupt durchsetzbare Mehrheiten erzielbar waren? Momentan hätte da sogar die AfD einen Vorteil,da sie wohl noch das konkreteste Konzept eines illiberalen,autoritären „Neu“staats hat,der zudem seine östlichen und auch historischen Vorbilder hat oder aber eine SVP-Deutschschweiz mit plebiszitären Elementen. Brinkhaus will nicht nur wie auch Merz und Röttgen einen „Neustart der CDU“, sondern eben auch gleich einen Neustaat, einen neuen Staat, eine Novo Order.

Etwas in diese Richtung geht auch   das DGAP-Papier der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik (DGAP) „Smarte Souveränität“ und es bleibt die Frage,inwieweit sich notwendige Anpassungen der Staatsstruktur sich noch mit dem bisherigen GG vereinbaren lassen. Wobei man bisher aber zu Verfassungsänderungen immer noch eine kaum zu erreichende 2/3-Mehrheit braucht und der Verfassungskern nicht angeatstet werden darf. Inwieweit die DGAP-Vorschlâge vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet würden, ist da ebenso eine Frage. Ebenso wird etwas der Fetisch des Nationalen Sicherheitsberaters beschworen und eine Art Medienkontrolle befürwortet, zudem eine gesamtgesellschaftliche sicherheitspolitische Mobilisierung der Bevölkerung und ihrer Eliten. Nun haben die USA diese Funktion,des Nationalen Sicherheitsrats und des Nationalen Sicherheitsberater schon lange, aber hat dieser die fatalen Entscheidungen der Bush jr. Und Trump Regierung initiert, mitinitiert oder zumindestens mitgetragen und eben auch nicht verhindert. Von daher ist ein wesentlich holistischerer Ansatz notwendig,der auch Fragen der Eliterekrutierung einschließt.

Die Kritik an der teilweisen Dysfunktionalitat des deutschen Staatswesens ist ja inzwischen recht laut. Noch wird dies mehr an Symptomen wie BER, Wahlchaos in Berlin, fehlender Digitalisierung, langsamen Genehmigungsverfahren bis zur Maximalkritik am „System Merkel“ vorgetragen. Sascha Lobo schreibt dazu auch einige bedenkenswerte Kommentare im SPIEGEL, verbeisst sich aber als IT-Cyberpunk mit rotem Irokesen zu sehr phänomologisch an der mangelnden Digitalisierung. In seinem neuesten Wutbeitrag zur Coronapolitik angesichts der 4. Welle „Willkommen im weinerlichen Wellness- Widerstand“ wird er auch schon mal umfassender.

„ Ab wann darf man eigentlich wegen der erneuten Coronawelle ungebremst wütend sein? Und auf wen genau? Natürlich darf man immer wütend sein, ist ja ein freies Land, aber hinter der viel zu subjektiven Frage nach der berechtigten Wut steht etwas anderes. Nämlich die Frage nach der Verantwortung für die vierte Welle. Und die lässt sich inzwischen beantworten. Wenn man möchte, sogar in Form einer Reihenfolge: die Impfgegner und ihre Propagandahelfer, die Bundesregierung samt dysfunktionaler Verwaltung und schließlich die mangelnde Digitalisierung.

https://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/corona-willkommen-im-weinerlichen-wellness-widerstand-kolumne-von-sascha-lobo-a-12e8d541-5ff2-4e6a-994f-872a1776ac4c

Bisher bleibt diese Kritik aber Stückwerk, eher ein Panoptikum einer Mängelliste ,aber fehlt noch die holistische zusammenhängende systematische Durchdringung.Man will einige Stellschrauben readjustieren,aber ob daraus schon ein „Neustaat“ entstehen würde?

Zumal die Frage auch ist, ob es nur an der Staatsstruktur oder dem Geist der Verfassung und auch dem Zeitgeist der Bevölkerung und Parteien liegt oder eben an allem zusammen. Die Weimarer Verfassung erfuhr ja auch das Schicksal einer „Demokratie ohne Demokraten“ und bestand den Krisen-und Stresstest der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise auch nicht. Und Carl Schmidt meinte ja auch,dass man Politik auch unter dem Extremfall des Ausnahmezustands denken müsse und nicht nur für die guten Zeiten. Heute gibt es eher Tendenzen einer Überdemokratisierung,wenn man die Forderungen nach Basisdemokratie, Bürgerräten, Bürgerkonvent, neuer verfassungsgebender Bürgerversammlung, mehr Dezentralität (nicht Subsidiarität),liquid democracy und plebiszitären Elementen sieht  Die Gegentendenz zur Elitenblase Berlin und Forderungen nach mehr Zentralstaat und weniger Föderalismus .Zudem das GG auch noch mehr auf die Existenz von Volksparteien zugeschnitten war, die heute erodiert sind in dem Sinne, dass keine Partei mehr nachhaltig Wahlergebnisse von 30 bis 40% zu holen imstande ist.

Einige plädieren als Lösung für ein Mehrheitswahlrecht ,aber GB und die USA zeigen ja auch ,dass das nicht vor Schlimmeren wie Trump bewahrt. Die Frage ist auch ,ob das alte GG nicht doch noch ausreichend ist, ob der Begriff des Neustaats nicht schnell auch ein Kampfbegriff der Rechten werden kann,die da eher zurück zu autoritären Systemen als Orban- Ungarn und PiS- Polen,semiautoritarer Meriokratie ala Singapur oder wie die Ordnungszelle Bayern unter Kahr(nationalkonservativer Flügel von AfD und Union) oder gleich offen faschistischen Führerstaat ala Höcke wollen. Aber erst einmal bleibt abzuwarten, ob es überhaupt eine „Neustaat“-Debatte, zumal in breiter Öffentlichkeit geben wird. Momentan steht man ja vor der „4. Industriellen Revolution des New Green Deals“ und geht die Debatte über das Verfassungsgerichtsrurteil zur verfassungsmäßig garantierten Lebenszukunftsrecht der Jugend und zu verbessernden Verwaltungsabläufen sowie weniger Bürokratie bei Genehmigungsverfahren und mehr Digitalisierung nicht hinaus, was ja selbst schon eine Mammutaufgabe ist.

Immerhin hat die CDU/CSU-Fraktion schon ein Papier „Neustaat“ vorgelegt wenngleich dies mehr einer Verwaltungsreform ähnelt.

„Neustaat“ ist ein recht komplexes und zumal juristisches Thema, das bei einer öffentlichen Diskussion massenmedial geschickt und komprimiert-knackig   kommuniziert werden müsste. Betrachtet man sich die laufenden Diskussionen über die Institutionen der EU und des Zusammenhangs zwischen Nationalstaat und EU-/internationalen Institutionen sieht man die Überforderung der Bevölkerung. Da wäre vielleicht ein kerniges 10-Punkte Neustaatsprogramm in Form eines kurzen Manifests eventuell eine gangbare Variante.Mal sehen, ob es dazu überhaupt kommt.

Wichtige Vordenker des „Neustaats“ sind unter anderem Nadine Schön und Thilo Heilmann in ihrem gleichnamigen Beitrag, wobei auch Nadine Schön sich eher wirtschafts- und technologiepolitisch äußert und den „Staat als Innovationstreiber“ fordert, auch in Kooperation mit der Bertelsmann- Stiftung.

„Neustaat: Der Staat als Innovationstreiber?

  • 31. August 2021

Für mehr Innovationen braucht es Talente, Kapital und neue Strukturen in Staat und Verwaltung. Ohne eine umfassende Verwaltungsmodernisierung mit einem Wandel unserer Verwaltungskultur wird der Staat diese neue Rolle nicht ausfüllen können. Es braucht einen „Neustaat“. In meinem Gastbeitrag für das Projekt „Fostering Innovation – Unlocking Potential“ der Bertelsmann Stiftung habe ich die notwendigen Schritte und Maßnahmen erläutert, mit denen wir den Staat zum Innovationstreiber machen können:

Wirft man einen Blick in internationale Studien wie den Bloomberg Innovation Index, dann scheint mit dem Innovationsstandort Deutschland  eigentlich alles in Ordnung zu sein. Im Jahr 2020 lag Deutschland hier auf dem ersten Platz, in diesem Jahr immer noch auf einem sehr guten vierten Platz. Vor allem die hohen Ausgaben des Bundes für Forschung und Innovation schlagen sich hier nieder: Der Bund hat zwischen 2005 und 2019 seine Ausgaben für Forschung und Innovation von 9 Mrd. Euro auf über 18 Mrd. Euro mehr als verdoppelt. Auch den hohen Investitionen deutscher Unternehmen in diesem Bereich haben wir das gute Abschneiden zu verdanken. So nennt der Bloomberg Index Volkswagen, Siemens, Daimler und Bayer als deutsche Unternehmen mit den höchsten Ausgaben für Forschung und Entwicklung.

Warum sich also Sorgen machen? Das zeigt ein Blick auf eine andere Zahl, nämlich den Wert der größten Unternehmen in Deutschland und den USA. Alleine der Börsenwert von Apple hat mit umgerechnet 1,26 Billionen Euro im Jahr 2020 den Wert aller deutschen DAX-Aktien übertroffen. Diese kamen zusammen nur auf 1,23 Billionen Euro. Dabei ist nicht allein die Größe entscheidend. Das Geschäftsmodell von Amazon, Alphabet und Microsoft sind Plattformen. Plattformen durchdringen Märkte und schieben sich zwischen Kunde und Verkäufer. Die Bedeutung der Plattformwirtschaft ist dabei kaum zu überschätzen, denn sie hat enorme Auswirkungen auch auf den Dienstleistungssektor. So ziehen die Plattformunternehmen auch die Wertschöpfung klassischer Dienstleistungen an sich, was die Macht der Plattformanbieter noch vergrößert. Das kennen wir insbesondere von Transportdiensten à la Uber oder von Lieferdiensten für Lebensmittel.

Auch der Blick in andere Regionen der Welt zeigt, dass unser Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist. China und der ganze asiatische Raum preschen mit einer ungeheuren Innovationsgeschwindigkeit voran. Es ist kein Geheimnis, dass China mit großem Nachdruck globale wirtschaftspolitische Ambitionen verfolgt; staatlich und zentral entwickelt, in Forschung und Wirtschaft umgesetzt. Auf der anderen Seite beherrschen aktuell die großen US-Player mit ihren dominanten Plattformunternehmen den Markt. In diesem Wettbewerb der Systeme müssen Deutschland und ganz Europa für einen eigenen, europäischen Weg zwischen Amerika und China stehen – für eine offene Plattformökonomie jenseits von Konzernmonopolen und zentralstaatlicher Lenkung. Wollen Deutschland und Europa in diesem weltweiten Spiel der Kräfte mithalten und ein relevanter Akteur sein, dann müssen wir in unsere Innovationskraft investieren.

Was heißt das? Der Staat muss zum Innovationstreiber werden. Für mehr Innovationen braucht es drei Dinge: Talente, Kapital und neue Strukturen in Staat und Verwaltung. Um es gleich vorwegzunehmen: Ohne eine umfassende Verwaltungsmodernisierung einhergehend mit einem tiefgreifenden Wandel unserer Verwaltungskultur, wird der Staat diese neue Rolle nicht ausfüllen können. Es braucht neue Strukturen, es braucht einen „Neustaat“.

  1. Talente

Innovationen werden von Menschen gemacht. Deshalb müssen wir auch direkt in Menschen investieren. Und kein anderes Investment lohnt sich hier so sehr wie das in Bildung. Bereits in den Schulen Gründergeist und Unternehmerkultur zu vermitteln, ist unerlässlich, wenn wir junge Talente hervorbringen und fördern wollen. Fächerübergreifend müssen wir die Vermittlung umfassender Digitalkompetenz in den Unterricht integrieren und anwendungsbezogene, aber auch technologische Grundkenntnisse vermitteln: Wie kann ich mit Daten gezielt Problemstellungen lösen? Wie komme ich überhaupt an Daten heran? Und wie kann ich mit anderen zusammenarbeiten, um ein Problem zu lösen? Diese Themen müssen im Unterricht auf den Lehrplan.

Ein fächerübergreifender Ansatz schließt indes nicht aus, ein neues Schulfach einzuführen, in welchem grundlegende Programmierkenntnisse und ein grundlegendes Verständnis für die Funktionsweise von Algorithmen vermittelt werden. Ganz im Gegenteil: Wir brauchen ein solches Fach, in dem die Grundlagen vermittelt werden, auf denen auch in anderen Fächern aufgebaut werden kann.

Wenn es uns gelingt in den Schulen die Begeisterung für kreatives Arbeiten mit Daten und Algorithmen zu wecken, dann haben wir auch den Grundstein dafür gelegt, dass sich mehr junge Talente für MINT-Studiengänge und vielleicht sogar die Gründung eines eigenen Startups entscheiden werden.

Für mehr Gründergeist in Deutschland brauchen wir aber auch bessere Möglichkeiten zur Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Gerade da unsere Startups in Sachen Gehälter noch nicht mit dem Silicon Valley mithalten können, wollen wir hier einen besseren rechtlichen Rahmen schaffen, damit Startups im Wettbewerb um die klügsten Köpfe durch die Beteiligung am Unternehmen andere Anreize setzen können. Daneben wollen wir auch ein bürokratiefreies Jahr einführen, mit dem wir jungen Unternehmern das Gründen erleichtern wollen.

  1. Finanzierung

Innovation zu fördern, das bedeutet natürlich, Forschung zu fördern, sowohl universitäre als auch außeruniversitäre. Das tun wir, aber müssen in den Schlüsseltechnologien wie KI, Quantencomputing und Blockchain noch eine Schippe drauf legen.

Doch auch sensationelle Forschungsergebnisse nützen uns nichts, wenn wir es nicht schaffen, sie in Deutschland in die Anwendung zu bringen und in neue Geschäftsmodelle umzusetzen, sodass auch die Wertschöpfung bei uns stattfinden kann. So sorgen etwa das zentrale Innovationsprogramm Mittelstand (ZIM) oder auch die deutschlandweit 26 Kompetenzzentren Mittelstand 4.0 dafür, dass neue Erkenntnisse in Sachen Digitalisierung auch in unseren KMU ankommen. Andere Programme, wie die Zukunftscluster-Initiative (Clusters4Future), bauen regionale Innovationsnetzwerke auf und sorgen so für regionalen Wissenstransfer direkt vor Ort.

Daneben verbessert die Bundesregierung die Rahmenbedingungen für forschende Unternehmen, insbesondere für innovative KMU. Mit der Einführung der steuerlichen Forschungsförderung haben wir hier in der vergangenen Legislaturperiode einen großen Schritt gemacht und forschenden Unternehmen eine langersehnte Unterstützung durch den Staat ermöglicht.

Will der Staat aber eine aktivere Rolle in der Innnovationsförderung spielen, muss er auch neue Möglichkeiten ausloten. Einen ersten Eindruck davon, wie das in der Realität aussehen kann, bietet die 2019 neu gegründete Agentur für Sprunginnovation. Die als GmbH gegründete Agentur hat den Auftrag, gezielt ausgewählte Projekte, die an der Entwicklung disruptiver Technologien arbeiten, zu unterstützen. Dabei wird hier in Sachen Agilität und Fehlerkultur bereits vieles ganz bewusst anders gemacht, zumindest soweit es unsere Gesetze aktuell zulassen. Diese gute Idee müssen wir in der kommenden Legislaturperiode noch unbürokratischer und freier aufstellen, damit sie ihr Potenzial voll entfalten kann.

Ein weiteres Beispiel für die aktivere Rolle des Staates bietet der Zukunftsfonds. Mit dem Fonds, den wir im letzten Jahr auf den Weg gebracht und mit 10 Mrd. Euro ausgestattet haben, wollen wir u.a. institutionelle Anleger dazu motivieren, ihr Geld vermehrt in Startups zu investieren, damit wir deren Innovationspotenziale in Deutschland voll ausschöpfen können. Startups sollen damit in Deutschland künftig leichter an mehr Risikokapital kommen können. Dabei wird der Staat hier über die KfW auch selbst als Investor aktiv und investiert über einen Dachfonds in andere Risikokapitalfonds.

So entsteht ein innovatives Ökosystem, mit dem wir die großen Herausforderungen unserer Zeit lösen, die Arbeitsplätze für morgen schaffen und auch soziale und staatliche Probleme lösen. So gibt es mittlerweile einen vitalen Markt an Egov-Startups, deren Produkte direkt die staatliche Verwaltung adressieren, indem sie neue Mobilitätsangebote für den öffentlichen Nahverkehr unterbreiten, durch Drohnen die Bau- und Planungsämter unterstützen oder der Straßenmeisterei neue Tools an die Hand geben, um den Zustand der Straßen zu überwachen. Das innovative Potenzial dieser Angebote kann allerdings nur abgerufen werden, wenn die öffentliche Verwaltung dazu auch bereit ist. Allzu oft ist sie dies leider noch nicht.

  1. NEUSTAAT – neue Strukturen in Staat, Politik und Verwaltung

Nur selten sind Verwaltungen in der Lage, neue Lösungen für Herausforderungen zu entwickeln und umzusetzen. Grund hierfür sind die eigenen Verfahren und Prozesse, die in einen oftmals eng definierten rechtlichen Rahmen eingebettet sind und deshalb wenig Spielraum lassen für neue Wege oder Lösungen. Eine Verwaltung, die es gewohnt ist, in festen Zuständigkeiten zu denken und zu handeln, geordnet in einer klaren Hierarchie, tut sich damit naturgemäß sehr schwer. Sie muss ihre starren Prozesse erst darauf auslegen, dass neue Impulse von außen aufgenommen werden können. Mit anderen Worten: Sie muss agiler werden.

Es braucht hierfür neue Prozesse, um das Silodenken der Ressorts und der föderalen Ebenen aufzubrechen und besser zu verknüpfen. Das Ziel ist dabei ein Staat, der Rahmenbedingungen schafft und selbst innovative Konzepte testet. Wir müssen nicht für jedes Problem eine eigene Lösung finden, aber offen genug sein, gute Lösungen schnell und unkompliziert in die Anwendungen zu bringen.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Unsere Verwaltung in Deutschland basiert auf dem gut 200 Jahre alten preußischen Verwaltungsmodell. Dieses Modell zeichnet sich vor allem durch seine legalistische Verwaltungskultur aus. Das starre Festhalten an klar definierten Zuständigkeiten, Vorschriften und eingefahrenen Prozessen kennzeichnen diese Kultur und machen zugleich deutlich, weshalb wir einen Kulturwandel in der Verwaltung so dringend brauchen.

Ein solcher Kulturwandel vollzieht sich allerdings nicht auf Knopfdruck. Er entsteht durch viele kleine oder große Verhaltensänderungen von  vielen  Menschen  in  vielen  Institutionen.  Diese  Verhaltensänderungen lassen sich weder von einem Dienstherren befehlen, noch von der Politik verordnen. Aber die Politik kann Kulturwandel befördern – durch Regeln und Maßnahmen, durch Vorbilder und Anreizsysteme.

So ist es in der deutschen Verwaltung bisher zumeist ein viel geringeres Risiko etwas zu unterlassen, als etwas zu unternehmen, deshalb muss neben verstärkter Projektarbeit, auch eine neue Fehlerkultur Einzug in die Verwaltung halten. Denn wo Risikominimierung über allem steht, ist am Ende kein Platz mehr für pragmatische Lösungen. Die Vorsicht, keine Risiken einzugehen, hat allerdings auch  rechtliche  Hintergründe:  Für  Beamte  besteht  die  Pflicht  zur  „Remonstration“,  also  die  Pflicht,  ihre  dienstlichen Handlungen  auf  Rechtmäßigkeit  zu  überprüfen und  Bedenken  oder  Einwände  beim Vorgesetzten vorzubringen.

Eine neue Fehlerkultur muss darüber hinaus gelebt werden und fängt bei den Führungskräften an. Wir brauchen den Mut, Konzepte zu testen. Nur wer sich traut, Neues anzugehen, kann vorankommen. In Zeiten großer Veränderungsgeschwindigkeiten sind Absicherungen nach allen Seiten und der Weg des geringsten Risikos die falschen Modelle. Wir brauchen einen staatlichen „Mutanfall“.

Open Innovation

Um Innovationsmotor zu werden, muss sich die Verwaltung für Input von außen öffnen und aktiv dabei helfen, die großen Innovationspotenziale zu heben. Zu oft verengen wir politisch den Blick auf eine einzige Lösung, statt große Lösungsräume zu öffnen und dort das am besten funktionierende Modell zu erproben.

Ein solcher Ansatz ist „open social innovation“. Der Staat findet in Kooperation mit Bürgerinnen und Bürgern und Wirtschaft neue Lösungsansätze für technische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Probleme.

Am Beispiel des Hackathons #wirvsvirus lässt sich das gut veranschaulichen. Dabei wurde unter der Schirmherrschaft der Bundesregierung eine breit angelegte Beteiligungsmöglichkeit für alle diejenigen geschaffen, die mithelfen wollen neue Lösungen zur Pandemiebekämpfung zu entwickeln. Über 28.000 Teilnehmer haben an rund 1500 Lösungen gearbeitet.  Mit dem anschließenden Umsetzungsprogramm wurden dann rund 150 Projekte realisiert. Zu den prominentesten und erfolgreichsten Projekten gehört etwa die Coronaschool, die neue Lösungen für den digitalen Distanzunterricht anbietet oder der Chatbot UDO, der von der Bundesagentur für Arbeit eingesetzt wird, um Antragsteller die wichtigsten Fragen zum Kurzarbeitergeld zu beantworten.

Diese Beispiele zeigen, wohin die Reise gehen soll: Der Staat beschreibt Probleme in seiner Arbeit und definiert Anforderungen sowie eine einheitliche Schnittstelle, über die dann Lösungen aus Gesellschaft und Wirtschaft im Wettbewerb zueinander entwickelt werden können.

Weniger Silo-Denken, weniger Hierarchie, dafür mehr Projektarbeit und ein besserer, pragmatischerer Umgang mit Fehlern: wenn uns dieser Kulturwandel in der Verwaltung gelingt, sind wir auf einem guten Weg hin zur agilen Verwaltung und zum lernenden Staat, der Open Innovation Prozesse nicht nur anstoßen kann, sondern auch die dadurch entwickelten Lösungen erfolgreich implementieren kann. Erst dadurch wird der Staat in die Lage versetzt, sich selbst zu erneuern und anschließend auch erfolgreich als Innovationstreiber zu fungieren.

Viele kleine Maßnahmen machen dabei gemeinsam den großen Wurf: Diese Vorschläge und Ideen sind nur ein kleiner Auszug eines Gesamtkonzepts für eine moderne, digitale Verwaltung, das ich im Juni letzten Jahres mit meinem Abgeordnetenkollegen Thomas Heilmann und weiteren Co-Autoren vorgelegt habe. Wir nennen es „Neustaat“ und es besteht aus 103 Vorschlägen, die die „Jahrhundertreform“, wie sie unser Fraktionsvorsitzender Ralph Brinkhaus neulich gefordert hat, mit Leben füllen. Für mich steht fest: Wir brauchen den Neustaat! Das kommende Jahrzehnt muss ein Modernisierungsjahrzehnt werden. Will der Staat Innovationstreiber sein, muss er bei sich selbst anfangen!“

Jedenfalls scheint eine grundlegende Änderung des politischen Systems oder der Verfassung über eine umfassende Verwaltungsreform hinaus noch nicht vorgesehen.

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