Interview mit Dr. Alexander Rahr über die Ukrainekrise: Putin “ rechnet auch nicht mit einem westlichen Nein, sondern mit einem westlichen Schweigen“

Interview mit Dr. Alexander Rahr über die Ukrainekrise: Putin “ rechnet auch nicht mit einem westlichen Nein, sondern mit einem westlichen Schweigen“

Global Review hatte erneut die Ehre, Dr. Alexander Rahr, Russlandexperte, Politologe, Mitglied des Valdai-Clubs, Putin-Berater für Gazprom bei der EU über die Ukrainekrise und damit verbundene Fragen zu interviewen. Alexander Rahr ist Honorarprofessor am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen und Wirtschaftshochschule. Er studierte an der Ludwigs- Maximilians- Universität München, arbeitete 1980-1994 für das Forschungsinstitut für Radio Freies Europa, das Bundesinstitut für Osteuropa- und Internationale Studien. Er war Berater der RAND Corporation, USA. Von 1994 bis 2012 leitete er das Russisch-Eurasische Zentrum beim Deutschen Rat für Auswärtige Politik. Anschließend beriet er die Wintershall Holding und später Gazprom Brüssel zu europäischen Angelegenheiten. Darüber hinaus war er auch als Gesprächspartner ein häufiger Gast bei Putin. Seit 2012 ist er Programmdirektor des Deutsch-Russischen Forums. Er ist Mitglied des Petersburger Dialogs, des Valdai Club, des Yalta European Strategy Network, Autor mehrerer Bücher über Russland.

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Dr. Rahr bei einem Treffen mit Putin

Global Review: Dr. Rahr, die Lage um die Ukraine bleibt sehr agespannt. Putin massiert nicht nur weiter Truppen an der Grenze zur Ukraine, sondern will nun auch Militärmanöver im Atlantik und dim Mittelmeer, zumal auch im Persischen Golf mit China und Iran abhalten. Es sieht eher aus, dass er weiter eskaliert und den Verhandlungsdruck weiter ehöht, vielleicht auch gleichzeitig mit Blick auf einen Irandeal. Sie selbst haben wie General a. D. Domroese die Einschätzung, dass Putin nicht in die Ukraine einmarschieren wird, dass die Ukraine für weitere 25 Jahre kein NATO-Mitglied werden wird und sich Putin Asien und speziell China zuwenden wird. Dem scheint entgegenzustehen, wie dies viele befürchte,dass Putin aufgrund seines Ultimatums an den Westen, die USA und die NATO zu einer Invasion in der Ukraine gezwungen sein wird, zum nicht einen Gesichtsverlust zu erleiden, während andere seine Verhandlungsabsicht generell infrage stellen und dies nur als logischen wieteren Schritt des Expansionismuses des russischen Neoimperialismus sehen, der sich immer wieder selbstgeschaffene konstruierte Vorwände schafft, um seine Einfluszonen auszudehnen, ega was der Westen mancht oder ihn beschwichttigen will.. Wie beurteilen Sie die Lage?

Dr. Rahr: Ich bin kein Prophet und kenne auch Putins wahren Plan nicht. Ich denke aber, er ist kein Hasardeur. Er hat die jetzige Konfliktsituation kaltblütig geplant. Er hat auch einen Plan B. Ich werde Ihre Fragen nicht im westlichen Sprech beantworten, sondern ganz im Stil der von mir geliebten Realpolitik. Vor unserem Interview habe ich mich, mit Ihrer Erlaubnis, in Moskau kundgetan. Ich fragte dort an: Was also will Putin? Meine Gespräche waren nicht unergiebig, wie Sie an den Antworten sehen können. Putin will nicht weniger, als die „Schieflage“ der europäischen Sicherheitsarchitektur korrigieren. Er plant die Begradigung der europäischen Ordnung. Keine der ehemaligen Sowjetrepubliken (ausser den Balten) darf dem westlichen NATO-Bündnis beitreten, weil ansonsten Moskau seine Sicherheitsinteressen bedroht sieht. Im Grunde will Putin die traditionelle russische Einflusszone nicht an den Westen abgeben. Schweres NATO Kriegsgerät soll vertraglich nicht auf dem ehemaligen Territorium des Warschauer Paktes stationiert werden. Das, was die NATO Gorbatschow 1990 mündlich zugesichert, aber schriftlich nirgends fixiert und später gebrochen hat, soll jetzt vertraglich zwischen Westen und Moskau vereinbart werden. So weit, so gut. Die Reaktion des Westens auf die russischen Forderungen hat Putin vorhergesehen. Doch einen Gesichtsverlust durch ein westliches Nein kann er und wird er nicht hinnehmen. Er rechnet auch nicht mit einem westlichen Nein, sondern mit einem westlichen Schweigen. Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, lässt Putin seine „Grande armee“ an der Grenze zur Ukraine Manöver abhalten. Der Westen tobt, die Politik und Medien reagieren hysterisch, doch Russland sieht, dass die westlichen Drohungen im Sande verlaufen. Die NATO, die gerade in Afghanistan nach 20 Kriegsjahren kapituliert hat, hätte – als robuste Antwort auf Putins Ultimatum – die Ukraine und Georgien jetzt demonstrativ in die NATO aufnehmen können. Hat sie aber nicht. Im Gegenteil: Deutschland und Frankreich bleiben bei ihrem Veto gegen den Beitritt dieser Staaten zur NATO. Ausser den Amerikanern, Briten, Polen und Balten will niemand die Ukraine in der NATO sehen. Der Preis wäre zu hoch: eine Gefahr eines Krieges mit Russland. Das ist die korrupte Ukraine dem Westen nicht wert. Die USA sind pragmatisch; sie senden das klare Signal aus, dass die NATO nicht für die Ukraine, im Falle eines russischen Einmarsches, kämpfen wird. Waffen sollen an die Ukraine vereinzelt geliefert werden, aber auch da ist der Westen gespalten. Wirtschaftssanktionen soll es geben, doch die tun Russland weniger weh als dem Westen selbst. Moskau glaubt nicht daran, dass der Westen so selbstmörderisch sein kann, um Russland vom SWIFT Zahlungssystem abzuschalten. Der Westen könnte dann technisch keine Öl-, Gas- und Rohstoffkäufe in Russland bezahlen – angesichts der gegenwärtig immer bedrohlich werdenden Energiekrise in Europa kann sich der Westen den Abbruch der Exporte aus Russland gar nicht leisten. Die wahre Drohung Putins ist ein Militärbündnis mit China und Iran gegen den Westen. Dieses Schreckgespenst hat der Westen noch gar nicht wirklich auf seinem Radar. Also geht man im Kreml davon aus, dass der Westen Russland seine angestammte Einflusssphäre kampflos überlassen wird. Der Westen soll, nach Afghanistan, sein zweites Waterloo erleben. Wenn russische Forderungen erfüllt werden, will Putin sich jedoch gleich mit dem Westen versöhnen und am gemeinsamen Konzept eines gemeinsamen Raumes von Lissabon bis Wladiwostok arbeiten.

Global Review: In einem früheren Gespräch äusserten Sie, dass Lawrow mit Baerbock den Eklat suchen würde, sollte sie zu dreist auftreten und dann das Gespräch ostenativ  nach 3 Minute abbrechen würde. Nun aber ist das beim Baerbocktreffen mit Lawrow nicht eingetreten. Hat Baerbock den richtigen Ton getroffen? Viele Kommentatoren meinten lobend, sie habe die aussenpolitische Feuerprobe mit Russland bestanden, während etwa der Burda.nahe Focus sie kritisierte, was sie alles nicht explizit gesagt und verschwiegen habe, ihr vorwirft, dass sie ihrem Credo Dialog und Stärke nicht nachgekommen sei, ihr Appeasement vorgeworfen wird im Stile der Brandtschen Entspannungspolitik und„Dialog und Druck“ im Stile von Helmut Schmidts mittels NATO-Nachstungsbeschluss gefordert wird. Zeitgleich fordert ein offener Brandbrief von 73 Osteuropaexperten, den „deutschen Sonderweg zu verlassen“, den die Autoren seit Brandt, Kohl, Schröder, Merkel und nun der Ampelkoalition als gegeben sehen. Auffällig ist, dass die Unterzeichner vor allem Experten bei Osteuropainstituten oder der Grünennahen Heinrich- Böll- oder FDP-nahen Friedrich Naumannstiftung sind. General a. D Domröse wiederholte nun zur Zusammensetzung noch den Vorwurf, der dem zuvorigen offenen Brief „Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfng der Beziehung zu Russland“ gemacht wurde, dass da ausser General a. D Naumann und einem ehemals hochrangigen Botschafter da keine Prominenz zu verzeichnen sei:, ähnliches bei dem Ostexpertenbrief: „Interessant ist, dass die „Spitzenleute“ nicht dabei sind.. Quasi Dschungelcamp für B-Promis, um etwas Aufmerksamkeit zu erzielen.“Wie beurteilen Sie die Bedeutung dieser offnenen Briefe und Apelle?

Dr. Rahr: Bundesaussenministerin Baerbock hat vor ihrem Russland-Besuch erstaunlich viel Kreide gefressen. Ich habe gehört, sie sei vor ihrer Reise nicht durch ihre grünen Berater aus der Liberalen Moderne, sondern durch Spezialisten aus dem Kanzleramt gebrieft worden. Den Russen hat imponiert, dass Baerbock dem Grab des Unbekannten Soldaten neben der Kremlmauer die Ehre erwiesen hat. Noch mehr imponiert hat ihr Satz, dass Deutschland auch weiterhin von Gaslieferungen aus Russland abhängig sei. Im Moskau interpretiert man das als Zuspruch für die Nord Stream und atmet erleichtert auf. Dass Baerbock, anders als Habeck, keine Kriegswaffen an die Ukraine liefern will, gefällt Moskau. Dass einige deutsche Medien und die Unterzeichner der Russland-kritischen Brandbriefe mit Baerbock hadern, kann dem Kreml egal sein. Die Aufrufe für oder gegen Russland nimmt man in Russland wahr, doch der Kreml setzt in seiner Deutschlandpolitik allein auf Bundeskanzler Scholz, so wie man früher allein auf Kohl, Schröder und Merkel gesetzt hat. Von Deutschland erhofft sich Russland mehr Verständnis für russische Sicherheitsinteressen. Man glaubt, dass Deutschland unter Scholz zur alten Ostpolitik zurückfinden wird und auch Druck auf die Ukraine ausüben wird bei der Erfüllung der Vereinbarungen von Minsk was den Friedensprozess in der Ostukraine angeht. Was die einzelnen Appelle in Deutschland angeht, so sieht Moskau sie als eine krampfhafte Selbstprofilierung unterbelichteter „Experten“, die ihre Eitelkeiten bedienen wollen. Sie können sicher sein, dass ich in Russland betone, dass diese Appelle Schreie aus der Zivilgesellschaft sind, und deshalb ernst genommen werden müssen.

Global Review: Inwieweit ist der Westen denn eigentlich einig? Scholz hat jetzt bei seinem Treffen mit NATO-Generalsekretär Stoltenberg auch Sanktionen gegen Nord Stream 2 nicht mher ausgeschlossen, womit er nu auf einer Linie mit den Grünen zu sein scheint. Gleichzeitig aber äussert der neue CDU- Vorsitzende und ehemalige Blackrockangestellte Friedrich Merz, dass er SWIFT-Sanktionen gegen Russland ablehne, da dies die internationalen Finanzmärkte in ernsthafte Turbulenzen stürzen könne. US-Prädident Biden, meinte sogar, dass man auf eine kleine Invasion Russlands in der Ukraine nicht reagieren müsse, worauf er nach heftiger Kritik wieder zurückruderte.

Dr. Rahr: Die Uneinigkeit des Westens hat Russland einkalkuliert. Man sieht den Westen in einer akuten Schwächephase. Das transatlantische Verhältnis sei von Trump irreparabel beschädigt worden: USA und EU seien wirtschaftliche Konkurrenten. Moskau ist nicht entgangen, dass im Werte-Streit zwischen Brüssel und den Mittelosteuropäern Sanktionen gegen EU-Mitglieder verhängt wurden. Die deutsche „grüne Umwelt- und Klima-Perestroika“ sieht Russland durch die aufkommende Energiekrise als gescheitert an. Manch einer in Moskau sieht die Eurasische Union auf dem Vormarsch, auch militärisch, wie in Kasachstan; die EU hingegen auf dem Rückzug und vor grossen unlösbaren Herausforderungen, wie beispielsweise die Migrationskrise. Mit Biden, Scholz und Macron wird man sich einigen, sie sind kompromissfähig und nicht dogmatisch..die angriffslustigen liberalen Medien werden ignoriert. 

Global Review: Die deutsche Zeitung Freitag ist der Ansicht, dass sowohl Biden wie Putin in den Bleiebtheitswerten bei irher Bevölkerung abgesackt seien und beide einen außenpolitischen Erfolge gebrauchen könnten. Da wohl keine Zustimmung zu den Sicherheitsgarantien seitens der USA und der NATO zu erzielen sind, schlägt Genral a. D Domroese vor, dass beide Seiten die Gespräche auf Rüstungskontrolle und auch CBMs (Continental Based Missiles) vorantreiben sollten. Der Freitagautor Wolfgang Michal schlägt eine neue Entspannungspolitik vor, bei der Baerbock und die Grünen Nordstream 2 ökologisch umdeuten und Russland eine Modenrisierungspartnerschaft in spe vorschlägt für die Lieferung grünen Wasserstoffs nach Europea, Deutschaond und auch den USA:

„Weitermachen, wo Willy Brandt aufgehört hat

Ukraine-Konflikt Die neue Außenministerin Annalena Baerbock täte gut daran, im Umgang mit Russland an die Entspannungspolitik des Altkanzlers anzuknüpfen. Helfen könnte dabei ausgerechnet eine ökologische Umdeutung von Nord Stream 2

Wolfgang Michal | Ausgabe 03/2022 123

Die „plötzliche“ Konfrontation zwischen den USA und Russland – fast acht Jahre nach der „Einfrierung“ des Konflikts in der Ostukraine und auf der Krim – mag viele überrascht haben. Denn bislang konnte das Schlimmste immer verhindert werden. Die OSZE-Beobachtermission hangelte sich von Waffenstillstand zu Waffenstillstandsverletzung und die Außenpolitiker der EU erinnerten immer mal wieder pflichtschuldig an die Minsker Vereinbarung, die es strikt einzuhalten gelte. Erst im Frühjahr 2021 verschärfte sich die Lage: Russische Manöver, amerikanische Waffenlieferungen und das Gesuch der Ukraine, den Beitrittsprozess des Landes zur NATO zu beschleunigen, führten zur Eskalation. Seither wird gewarnt und gedroht und von roten Linien gesprochen, die niemand übertreten dürfe. Sonst gibt es – Krieg?

Die Präsidenten Russlands und der USA demonstrieren Stärke, weil es innenpolitisch gerade nicht so gut läuft. Die Bürger beider Staaten sind unzufrieden. Die russische Wirtschaft stagniert seit 2014, der Strukturwandel bleibt aus, die Sparpolitik Wladimir Putins trifft breite Bevölkerungsschichten. Dazu kommen die Auswirkungen der Corona-Pandemie und die Geldentwertung.

Ähnlich in den USA: Die Transformation der Altindustrien wird gebremst, die Reallöhne sinken wegen steigender Preise, bald sind eine Million US-Amerikaner an Corona gestorben. Die Zustimmung zu Joe Biden ist von 55 auf 39 Prozent gefallen.

Putin und Biden brauchen also dringend Erfolge. Das Kriegsgerassel soll die abtrünnigen Patrioten wieder hinter ihren Präsidenten versammeln. Es ist absurdes Retro-Theater: Großmachtgehabe wie im 19. Jahrhundert. Kann Annalena Baerbock, die neue Klima-Außenministerin, in dieser antiquierten Aufführung alter Männer eine wichtige Rolle spielen? Darf sie überhaupt mitspielen? Keine Sorge: Sie wird. Und sie wird mehr bewirken als ihr Vorgänger Heiko Maas.

Die neue Bundesregierung möchte an die sozialliberale Entspannungspolitik Willy Brandts anknüpfen: „Mehr Friedenspolitik wagen“. 50 Jahre nach dem Nobelpreis und dem Erdgas-Röhrengeschäft mit der Sowjetunion wäre das die richtige Antwort. Aber kann die Regierung dort anknüpfen, wo Willy Brandt aufgehört hat?

Damals war die öffentliche Meinung für Entspannung. Liberale Medien kämpften dafür, Intellektuelle unterstützten sie. Heute dominieren Scharfmacher, die wertebasierte mit waffenbasierter Politik verwechseln. Entspannungsanhänger haben es da schwer. Man muss nur zur Kenntnis nehmen, was sich SPD-Politiker an Appeasement-Vorwürfen anhören müssen, wenn sie fordern, den Ukraine-Konflikt nicht mit der Gazprom-Pipeline zu vermengen. Deren Inbetriebnahme sehen sie als vertrauensbildende Maßnahme, so wie im Jahr 1970 Willy Brandt das Erdgas-Röhrengeschäft.

Nord Stream 2 könnte der Auftakt sein für die große ökologische Transformation: Denn Russland will mit seinen riesigen Energiekapazitäten Wasserstoff für die europäische Wirtschaft produzieren und durch Nord Stream verschicken. Mit technischer Hilfe könnte es auch grüner Wasserstoff sein.

Wären Biden und Putin für diesen „Wandel durch Annäherung“ zu gewinnen? Warum nicht. Trotz aller „harten“ Sanktionen kaufen die USA heute mehr russisches Öl denn je. Künftig eben Wasserstoff. Die Terminals dafür werden gerade gebaut. Angesichts solcher Herausforderungen ist Krieg wegen der NATO purer Anachronismus.

https://www.freitag.de/autoren/wolfgangmichal/weitermachen-wo-willy-brandt-aufgehoert-hat

Was halten Sie von diesen Vorschlägen? Würden Sie aber mittel- und langfristig Putins Forderungen nach Sicherheitsgarantien ersetzen können oder der Konflikt nur etwas zeitlich aufgeschoben werden?

Dr. Rahr: Eine Entspannungspolitik, wenngleich im neuen grünen Kleid, kann fruchten. Baerbock hat verstanden, dass ein internationaler Klima-und Umweltschutz nur gemeinsam mit dem grössten Land Europas, nämlich Russland vonstatten gegen kann..wenn Deutschland es möchte, kann Russland über die beiden Nord Stream Pipelines auch Blauen Wasserstoff nach Europa schicken. Dieses Geschäft könnte künftig genauso lukrativ werden, wie das Gas-Business. Russland will auch weiterhin Europa mit Rohstoffen versorgen, allerdings bekommen die Europäer als Kundschaft Russland jetzt grössere Konkurrenz von den Asiaten, die besonders gierig nach russischen Rohstoffen sind. Der „pivot“ nach Asien ist die grösste diplomatische Leistung Putins. Auf dem Valdai Forum (das von den deutschen Medien sträflich vernachlässigt wird), sagte er einmal, dass Russland sich in seiner Geschichte niemals mit Asien integriert hätte, weder sicherheitspolitisch, noch wirtschaftlich, nich ideologisch..Russland habe sich immer nur nach Europa hin orientiert, aber vom Westen jedes Mal eine Aggression bekommen. Jetzt würde Russland sich von Europa distanzieren und sich zum Co-Architekten einer asiatischen Weltordnung machen. Russische Experten sind sich sicher, dass Asien militärisch, wirtschaftlich und ideologisch (nationale statt liberale Werte) Europa bald überlegen sein wird. Und Putin will da sein Land auf der richtigen Seite verankern. Die USA und die EU werden von Handelsbeziehungen mit Asien immer abhängiger. In Asien entsteht unter Chinas Führung ein neues Weltfinanzsystem, das Bretton Woods ersetzen soll. Ein Krieg zwischen Russland und NATO wäre da in der Tat ein Anachronismus.

Global Review: Im Westen und in Deutschland gab es ja immer russophile und russophobe Strömungen. Gerd Köhnen beschreibt dies in seinem Buch „Der Russlandkpmplex“ sehr ausführlich“. Viele deutsche Bildungsbürger sind Liebhaber der russischen Klassik, Literatur, Musik, wissen die Russen als gute MINT-Logiker und Schachspieler zuschätzen, umgekehrt dann wieder als brutalen Menschenschlag, als rückständig. Wobei etwa Marx im zaristischen Russland und feudalistischen China da eher den asiatischen Despotismus sah, Wittfogel mittels seiner hydraulischen Gesellschaftsmodell ebenso zentralistische Despotien, die dem Kommunismus und später nun dem Autoritarismus in die Hand spielte. Zwar sahen viele Linke im Westen die kommunistischen Revolutionen in Russland und China als Befreiung von gerade diesem asiatischen Despotismus, in der Industrialisierung unter Stalin und Sieg im 2. Weltkrieg über Nazideutschland eine historische Modernisierungs- und Ziviliationsmssion. Zudem als Gralsburg eines neuen Internationalismus und der proletarischen Weltrevolution. Gleichwohl meinte schon Tschiang Kaitschek, dass Stalin und die russischen Kommunisten nur rote Zaren mit neuem russischen Neoimperialismus seien, was er auch damit begründete, dass trotz Mao-Stalinpakt und COMECON und Warschauer Pakt Mao- China und Osteuropa nicht selbst als Bestandteil der Sowjetunion eingegliedert wurden, wie dies Trotzki erhoffte, sondern sich vor allem auf die Gebiete des alten Zarenreiches begrenzte. Die Russophobie und der Antislawismus im Westen und Deutschland nahm dann unter Hitler auch die rassistisch-liquidatorische Form des minderrassigen slawischen Untermenschen an, der zwar nicht wie die Juden im Holocaust massenmässig industriell umgebracht wurde, aber bei den Vernichtungsfeldzügen und bei der Behandlung als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter der Behandlung der Juden und Sinti und Roma kaum nachstand. Putin wie auch etwa Serbiens Präsident reden oft über die „russische Welt“, die „serbische Welt“, die russische oder „slawische Seele“, das Slawentum und einer slawischen Union als Kern einer Eurasischen Union. Inwieweit glauben Sie ist der Antislawismus und der Slawismus noch auf beiden Seiten noch präsent?

Dr. Rahr: Was ich an Global Review schätze, sind die tiefgreifenden Fragen. Die Fragen sind nicht, wie meist in den deutschen Medien, angriffslustig. Ich fühle mich bei Global Review nicht wie bei einem Verhör. Ja, über den Antislawismus und Slawismus in ihren neuen Ausprägungen muss gesprochen werden. Der Slawismus hat sich in den Jahrhunderten in Osteuropa nicht merklich verändert. Es ist eine Verkleidung des Nationalismus‘, sichtbar in Russland, Ukraine, Serbien aber auch Polen (das sein Slawentum zwar leugnet, aber tief im Innern slawisch denkt). In Russland gefällt mir persönlich die neue Symbiose zwischen Russland- bzw. Slawentum und Stalinismus nicht.  Dem Kommunismus hat die russische Gesellschaft entsagt – Marx und Lenin sind völlig unbedeutend geworden, die Oktoberrevolution ist längst vergessen. Statt Sozialismus herrscht in Russland Kapitalismus. Nicht vergessen ist aber der Sieg Stalins über Hitler – der das zuvor rückständige Russland zur Supermacht machte, zum Beherrscher von halb-Europa. Andere Völker fürchten sich vor dem neuen russischen Grossmachtnarrativ. Doch erlauben Sie mir auch zum Antislawismus Stellung zu nehmen. Er besteht in westlichen Gesellschaften, dort fühlt man sich den Slawen moralisch und zivilisatorisch weit überlegen. Das Gefälle West-Ost ist eine historische Tatsache. Zu Franzosen und Briten schauen Deutsche hinauf, Polen und Russen belehrt man ständig. Eine Verständigung und Aussöhnung zwischen Deutschland und Russland lässt auf sich warten. Doch was, wenn sie gar nicht gewollt ist? Mit Franzosen und Italienern baut Deutschland gerne am gemeinsamen europäischen Haus, wenn ein Slawe eintritt, rümpft man die Nase. In meinem letzten Buch „Anmaßung. Wie die Deutschen Russland verlieren“, stelle ich die heikle These auf, dass Deutsche den Russen den 8. Mai 1945 nicht verzeihen können. Vor dem Amerikaner und Briten hat der Deutsche mit Anstand kapituliert; vor dem russischen Barbar war das für das damalige Deutschland die schlimmste Schande. Kein Wunder, dass die Mainstreammedien mein Buch ignorieren. Ich würde mir wünschen, dass Deutsche und Russen über eine Annäherung im Petersburger Dialog die Probleme der Vergangenheit hinter sich bringen könnten.  

Global Review: Zudem, wenn Putin an dieser slawischen Welt festhält, inwieweit kann er da über eine Regionalmacht hinauswachsen, inwieweit kann das überhaupt eurasisch werden? Oder setzt Putin da auf eine Art universalen „postliberalen Konservatismus“, der völkerübergreifend und international von Trump-USA über Xi- China, Erdogan-Türkei, Bolsonaro- Brasilien bis Orban-Ungarn eine gemeinsame internationale Wertegemeinschaft nichtliberaler, autoritärer Staaten zusammen schafft? Aber wäre dies nicht die Hoffnung auf eine Universalität eines postliberalen Wertekonservatismus, der die internationalen Interessen und Unterschiede der Länder verspicht, sei es kulturell, ökonomisch, politisch und geopolitisch und ebenso eine Art neuer internationaler Globalisierungsphantasie unter anderem Vorzeichen ist? Können Nationalisten eine Internationale der Nationalisten und eine neue Weltordnung schaffen oder nicht eher eine neue Weltunordnung? Und mag man zwar in Familienwerten und gegen Liberalismus und LGBTIQs Regenbogenfarben theoretisch geeint sein, so auch in allen anderen geopolitischen Fragen von wirklicher Bedeutung? Und wenn der Liberalismus mal ausgerottet ist, zerbricht dann auch die Einheit unter den dann autoritären Staaten?

Dr. Rahr: Die Welt steht vor einer Zäsur. Die Monopolstellung des Westens in der globalen Ordnung existiert nicht mehr. Der Westen schrumpft, noch nicht wirtschaftlich, aber politisch. Die liberale Idee ist kein Anker mehr der künftigen multipolaren Weltordnung. Bedeutet das ein Ende der Aufklärung, der Freiheit, des Individualismus? Mitnichten. Russland und China sind freier als sie jemals waren. Gleichzeitig muss man aber zugeben, dass die Freiheitsidee im Westen unter der Pandemie gelitten hat. Vielleicht hat die liberale Demokratie durch Corona irreparablen Schaden erlitten. Ich hoffe es jedenfalls nicht. Die neue multipolare Weltordnung wird zunächst einen Prozess von Chaos durchlaufen. Der Geburtsfehler dieser Ordnung ist der, dass wir den neuen notwendigen Multilateralismus nicht zusammen mit Russland, China, Indien und den islamischen Staaten errichten, sondern diese Pole der neuen Ordnung als Störfaktoren betrachten. Und Russland sowie China lassen sich die Arroganz des Westens nicht mehr gefallen – und greifen die westliche Ordnung genauso an, wie wir die ihrige. Systemkonkurrenz ist in der Geschichte nichts Schlimmes, solange sie nicht in Krieg ausartet. Ich glaube, den jetzigen Konflikt des Westens mit Russland sollte man aus dieser Perspektive sehen. Dazu gehört, dass wir die europäische Sicherheitsordnung jetzt korrigieren müssen, im Einvernehmen und nicht durch Krieg. Wenn wir das jetzt nicht tun, werden spätere Generationen unter einem neuen Kalten Krieg leiden. Russland ist nicht so schwach, wie wir im Westen denken. Ja, Russland überschätzt sich, aber es will keinen Krieg mit dem Westen. Lassen Sie mich zynisch, aber realpolitisch enden: wollen wir eine mögliche zeitgemässere Neuordnung der europäischen Sicherheit wegen der Ukraine aufs Spiel setzen?

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