Russland verstehen: Wie sich die Russen als Weltmacht behaupten wollen

Russland verstehen: Wie sich die Russen als Weltmacht behaupten wollen

Gastautor: Adam Tooze und demnächst vielleicht ein Interview mit ihm.

Während die Nato aktuell zusammenrückt, um sich den Spannungen an der russischen Grenze zur Ukraine zu widmen, und die Zeitungen sich mit Anklagen über Putins Aggressionsabsichten überschlagen, halte ich es für sinnvoll, den Rahmen und die Überschneidungen von Geopolitik und Wirtschaft sowie den Aufstieg Russlands als globale Macht und Herausforderer zu analysieren. Dieser Rahmen besteht aus drei Grundaussagen. 

Erstens: Auch wenn es verlockend ist, Putins Regime als Überbleibsel einer anderen Ära oder als Vorbote einer neuen Welle des Autoritarismus abzutun, so hat Russland doch ein Gewicht in der Welt, vor dem wir unsere Augen nicht verschließen sollten. Globales Wachstum und globale Integration haben es dem Kreml ermöglicht, beträchtliche Macht auf globaler Ebene zu gewinnen. Die Raffinesse der russischen Waffentechnik und ihre Cyber-Kapazitäten zeugen vom technologischen Potenzial der russischen Wirtschaft im weiteren Sinne. Das Geld dafür kommt aus der weltweiten Nachfrage nach russischem Öl und Gas. Und Putins Regime hat sich dies zunutze gemacht. Russland als Petrostaat zu bezeichnen, ist zu kurz gegriffen. Aber wenn man sich dieser Vereinfachung hingibt, muss man anerkennen, dass Russland ein strategisch wichtiger Petrostaat ist, der eher mit den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Saudi-Arabien vergleichbar ist als mit dem Irak oder Algerien.

Russland ist ein strategischer Petrostaat, und das im doppelten Sinne. Russland ist ein viel zu großer Teil der globalen Energiemärkte geworden, als dass Sanktionen gegen russische Energielieferungen nach iranischem Vorbild möglich wären. Auf Russland entfallen etwa 40 Prozent der europäischen Gasimporte. Umfassende Sanktionen würden die globalen Energiemärkte zu sehr destabilisieren, und das würde in erheblichem Maße auf die Vereinigten Staaten zurückschlagen. Darüber hinaus hat Moskau im Gegensatz zu anderen großen Öl- und Gasexporteuren bewiesen, dass es in der Lage ist, einen beträchtlichen Teil seiner Erlöse auf Basis fossiler Brennstoffe zu generieren. In der Allianz mit den Oligarchen hat der Kreml das Sagen und einen Deal ausgehandelt, der dem Staat strategische Ressourcen und dem Großteil der Bevölkerung Stabilität und einen akzeptablen Lebensstandard sichert. Nach dem gewaltigen Anstieg der Ungleichheit in den 1990er Jahren hat sich die soziale Struktur Russlands den WID-er-Daten zufolge weitgehend stabilisiert.

Putins Regime hat dies mit einer konservativen Finanz- und Geldpolitik erreicht. Gegenwärtig ist der russische Haushalt bei einem Ölpreis von nur 44 Dollar ausgeglichen, was die Anhäufung beträchtlicher Reserven ermöglicht. Wenn man eine einzige Variable sucht, die Russlands Position als strategischer Petrostaat zusammenfasst, dann ist es Russlands Devisenreserve (siehe Grafik 1).

Source: Trading Economics

Mit 400 bis 600 Milliarden Dollar gehören die russischen Devisen zu den größten Geldreserven der Welt, nach China, Japan und der Schweiz. Dies gibt Putin seine strategische Handlungsfreiheit. Entscheidend ist, dass diese Devisen das Regime in die Lage versetzen, Wirtschaftssanktionen standzuhalten. Sie geben Russland die Möglichkeit, den Rubel zu stabilisieren, und können dafür genutzt werden, um Währungsungleichgewichte in den Bilanzen des Privatsektors auszugleichen. So groß die Devisenreserven einer Regierung auch sein mögen, so wenig helfen sie, wenn ein Staat private Schulden in Fremdwährungen anhäuft. Russlands private Dollar-Verbindlichkeiten wurden 2008 und 2014 schmerzlich aufgedeckt, sind aber seitdem umstrukturiert und zurückgefahren worden (siehe Grafik 2).

Source: Statista

Nach Angaben der russischen Zentralbank stieg die nominale Auslandsverschuldung von Banken und Nicht-Finanzunternehmen (Auslandsverschuldung von Unternehmen) im zweiten Quartal 2021 um 6 Mrd. US-Dollar auf 394 Mrd. US-Dollar (ca. 25% des BIP), was problemlos durch die Devisenreserven gedeckt ist. Dieses starke finanzielle Gleichgewicht bedeutet, dass Putins Russland keine umfassende finanzielle und politische Krise erleben wird, wie sie den Staat 1998 erschütterte. Es war auch kein Zufall, dass Putin, als diese Devisenreserven 2008 ihren ersten Höchststand erreichten, seine Entschlossenheit zum Ausdruck brachte, die Zeit des geopolitischen Rückzugs Russlands zu beenden. Dies ist das zweite Schlüsselelement meiner Diagnose.

Putin hat seine Position in seiner aufsehenerregenden Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007, in der er seine umfassende Kritik an der westlichen Macht und Russlands Ablehnung einer weiteren Nato-Osterweiterung darlegte, unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.

Heute beherrscht Chinas fundamentale Opposition gegen die amerikanische Hegemonie, die sich in der Weltwirtschaft artikuliert, die globale Szene. Aber der erste, der die Tatsache aufzeigte, dass globales Wachstum nicht zu Harmonie und Konvergenz, sondern zu Konflikten und Widersprüchen führen kann, war Putin in den Jahren 2007 bis 2008.

Putins Haltung ruft im Westen Empörung hervor. Seine Perspektive, dass sich Russland mit allen Mitteln autonom behaupten will, offenbart die Eitelkeit der Ordnung nach dem Kalten Krieg, die davon ausging, dass die Grenzen zwischen den verschiedenen Formen der Macht – der harten, weichen und finanziellen Macht – von den westlichen Mächten, den Vereinigten Staaten und der EU, zu ihren eigenen Bedingungen und nach ihren eigenen Vorlieben gezogen werden würden. Der Westen selbst hat schon immer eine ganze Mischung aus Strategien – finanzieller Druck, sanfte Macht und militärische Gewalt – eingesetzt, um seine Ziele zu erreichen. Die Herausforderung und harte Haltung durch Russland hat dazu geführt, dass die Karten neu gemischt werden und neue Strategien aus diplomatischer Überzeugungskraft, sanfter Macht, finanzieller und schließlich militärischer Drohung zum Einsatz kommen. Dass dies ausgerechnet jetzt in Europa geschieht, macht den Skandal noch größer.

Der dritte wesentliche Punkt ist, dass die Folgen dieses Wiedererstarkens der russischen Macht davon abhängen, wo man sich befindet und wie man auf die Herausforderung vorbereitet ist.

In Osteuropa entscheidet sich die Frage darüber, wie Russlands Nachbarn, seien es ehemalige Sowjetrepubliken oder ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes, die erschütternden wirtschaftlichen und sozialen Schocks der 1990er-Jahre bewältigt haben. In dieser Hinsicht befinden sich Polen und die baltischen Staaten an einem gemeinsamen Ende des Spektrums. Sie haben sich von der Krise der 1990er Jahre erholt, verfügen über relativ gut funktionierende postkommunistische Staatswesen und wurden in frühen Erweiterungswellen in die Nato und die EU aufgenommen. Die Ukraine befindet sich in jeder Hinsicht am anderen Ende des Spektrums.

Was die Ukraine zum Objekt russischer Interessen macht, ist nicht nur ihre geografische Lage, sondern auch die Spaltung innerhalb der ukrainischen Politik, der Zustand ihrer Elite und das wirtschaftliche Versagen des Landes. Das Ende der Sowjetunion mag der Ukraine die Unabhängigkeit gebracht haben. Für die ukrainische Gesellschaft insgesamt war die Autonomie jedoch eine wirtschaftliche Katastrophe. Wie Russland erlitt auch die Ukraine in den 1990er Jahren einen verheerenden ökonomischen Schock. Das Pro-Kopf-BIP in konstanten KKP-Werten halbierte sich zwischen 1990 und 1996. Danach erholte sich das Bruttosozialprodukt bis 2007 auf 80 Prozent des Niveaus von 1990 und stagniert seither (siehe Grafik 3).

Source: World Bank

Die Erfahrungen der Ukraine stehen in krassem Gegensatz zu denen der Russischen Föderation, die seit der Krise von 1998 einen viel nachhaltigeren Aufschwung erlebt hat. Sie steht auch in schmerzhaftem Kontrast zum Wachstumskurs der ukrainischen Nachbarländern Türkei und Polen. Die Zahlen zum Pro-Kopf-BIP zeichnen ein Bild schmerzhafter Stagnation in der Ukraine. Darüber hinaus hat die Schwäche der Ukraine das Land anfällig für wiederholte Devisen- und Finanzkrisen gemacht, was sich am deutlichsten an der unregelmäßigen Abwertung der Griwna gegenüber dem Dollar und dem Euro ablesen lässt. In den späten 1990er Jahren kam es zu weiteren größeren Finanzkrisen, auch im Jahr 2008 und nochmal in den Jahren 2014 bis 2015. Seit 2015 schwankt die Griwna. Da die Währung abgewertet wurde, sind die Schwankungen prozentual gesehen nun geringer. Aber die Ukraine ist weiterhin ein fragiles Element im Geflecht des IWF (siehe Grafik 4).

Source: Wikipedia

Russische Nationalisten lehnen den Anspruch der Ukraine auf Staatlichkeit ab? Das ist Propaganda. Was jedoch stimmt, ist, dass die ukrainische Elite keine Formel gefunden hat, um die materielle Grundlage für die Legitimität des Landes zu schaffen, d. h. ein Mindestmaß an Stabilität und nachhaltigem Wirtschaftswachstum. Die wirtschaftliche Frustration verschärft die Spaltung zwischen Regionen, Sprachgruppen und Interessen. Seit der Unabhängigkeit haben die Oligarchen und Superreichen eine unheilvolle Rolle in der ukrainischen Politik gespielt.

Präsident Zelensky erklärte nach seiner ersten Begegnung mit Putin bei den Gesprächen in Paris im Dezember 2019: „Die Ukraine ist ein unabhängiger, demokratischer Staat, dessen Entwicklungsvektor ausschließlich vom ukrainischen Volk bestimmt wird.“ Während dieser Satz sicherlich Gültigkeit hat, sollten wir uns aber auch die grundlegenden wirtschaftlichen Fakten des Landes und seine Möglichkeiten vor Augen halten. Offensichtlich beharrt Zelensky auf der Souveränität der Ukraine gegenüber einem übermächtigen Russland. Aber wenn Souveränität darin besteht, einen Entwicklungsvektor zu bestimmen – was eine gute Definition zu sein scheint –, was kann man dann über die Souveränität der Ukraine sagen? Bestenfalls könnte man sagen, dass die Ukraine verzweifelt versucht, ein mehrheitsfähiges Entwicklungsmodell zu finden.

Diese verzweifelte Suche wurde durch die zunehmenden geopolitischen Spannungen, die durch Putins Rede im Jahr 2007 angekündigt wurden, und durch den Finanzschock von 2008 noch dringlicher. Aber sie wurde auch gefährlicher.

Die grundlegenden Optionen, die vor 2014 diskutiert wurden, waren die Annäherung an Russland, die Annäherung an die EU beziehungsweise Nato oder eine Neutralität gegenüber beiden Seiten. In den 1990er und frühen 2000er Jahren wurde die Balance zwischen beiden Optionen bevorzugt. Doch Mitte der 2000er Jahre, im Gefolge der Revolutionen in Georgien und der Ukraine, als sowohl Polens Wohlstand als auch Russlands Ambitionen immer deutlicher zutage traten, begannen die Richtungen klarer zu werden.

Im Jahr 2008 versuchte die Bush-Regierung, die Richtungsfrage für die Ukraine zu entscheiden. Sie ermutigte sowohl Georgien als auch die Ukraine, die Nato-Mitgliedschaft anzustreben, und überredete die anderen Nato-Mitglieder auf der Nato-Konferenz in Bukarest im April 2008, ihnen die Mitgliedschaft zu versprechen. Damit bestätigten sich die schlimmsten Befürchtungen Russlands. Seitdem ist die Politik der Ukraine durch die Tragweite dieser Entscheidung zerrissen. Die schlimmsten Folgen haben sich in Georgien gezeigt. Nach dem Nato-Gipfel in Bukarest kam die ehrgeizige georgische Führung unter Präsident Micheil Saakaschwili zu dem Schluss, dass Georgien die noch offenen Fragen bezüglich der abtrünnigen Region Südossetien lösen müsse, um die Nato-Mitgliedschaft zu beschleunigen. Die georgische Regierung dachte, dass sie von Washington grünes Licht erhalten hatte. Im August 2008, nur wenige Wochen vor der Lehman-Krise, sandte Moskau mit seiner massiven militärischen Reaktion auf die georgische Offensive in Südossetien eine klare und entschiedene Botschaft. Die Botschaft hieß: „Versucht nicht, die Bukarester Verpflichtungen der Nato zu erfüllen.“

Doch damit nicht genug: Die Wirtschafts- und Finanzkrise in den USA und in Europa machte jeden weiteren Schritt in diese Richtung unmöglich. Im Jahr 2008 musste die Ukraine sich an den IWF wenden. Wegen ihrer Abhängigkeit von schwerindustriellen Exporten war sie eine der Volkswirtschaften, die von dem Schock von 2008 am stärksten betroffen waren.

2013 versuchte Kiew verzweifelt, den IWF, die EU und Russland gegeneinander auszuspielen, um einen Deal zu erzielen. Das Ergebnis war ein Bieterkrieg zwischen der EU und Russland um den Einfluss auf die ukrainische Wirtschaft, bei dem der Gewinner alles bekommen sollte. Das korrupte Regime von Janukowitsch ließ die Bevölkerung zunächst glauben, dass sich das Land der EU annähern würde. Dann schwenkte es angesichts der knauserigen europäischen Finanzbedingungen und eines weitaus lukrativeren Angebots aus Moskau abrupt wieder auf Russland ein. Das löste die Maidan-Revolution aus. Da der Westen die Revolution anerkannte, war Janukowitsch nicht bereit, sich zu stellen und zu kämpfen. Vor vollendete Tatsachen gestellt, beschloss Russland zu retten, was zu retten war. 2014 annektierte das Land die Krim und intervenierte, um separatistische Republiken in der östlichen Donbass-Region zu schaffen.

An dieser Stelle setzt die aktuelle Medienberichterstattung in der Regel ein: „Russische Aggression gegen die souveräne Ukraine im Jahr 2014“, und vergisst dabei die Vorgeschichte der ganzen Situation.

In dem verzweifelten Bemühen, das Regime in Kiew zu halten, instrumentalisierte der Westen den IWF unter Christine Lagarde, um Kiew finanzielle Unterstützung zu gewähren. Doch weder die EU noch die USA hatten die Absicht, die Ukraine ausreichend zu unterstützen, damit das Land den Krieg im Osten gewinnen konnte. Stattdessen zog sich die Obama-Regierung zurück und überließ die Ukraine-Krise Frankreich und Deutschland. In den sogenannten Verhandlungen im Normandie-Format – während des Konflikts in der Eurozone mit der neuen Syriza-Regierung in Athen und der anschwellenden Flüchtlingskrise – schleusten Berlin und Paris die Ukraine 2015 in das Minsk-II-Abkommen hinein. Nach Jahren der Entfremdung (man erinnere sich an Snowden 2013) war dies ein Moment der wiederhergestellten deutsch-amerikanischen Harmonie.

Das Minsker Abkommen von 2015 ist der Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Krise. Die ursprüngliche Vereinbarung spiegelte die massive militärische Überlegenheit Russlands gegenüber der Ukraine wider, aber auch das russische Widerstreben, eine Eskalation bis hin zu einer Invasion zu betreiben. Das Abkommen stellte Russland zufrieden, weil es eine dezentralisierte Ukraine mit Sprachrechten für Russischsprachige garantierte. Nach Ansicht Moskaus reichte dies aus, um zu verhindern, dass die Ukraine in die westliche Einflusssphäre gerät. Sollten keine Fortschritte bei der Umsetzung der Vereinbarung erzielt werden, würde die Ukraine in einem Zustand des eingefrorenen Konflikts verharren. Der anhaltende Konflikt würde die Unterstützung durch den IWF zwar nicht stoppen, aber er würde die Ukraine als Kandidat für eine engere Integration in die EU oder die Nato ausschließen. Zugleich war das Abkommen ein schmerzhaftes Provisorium und zutiefst unbefriedigend für den zunehmend nationalistischen Ton der Kiewer Politik. Moskau hatte sich als Unterstützer der Donbass-Region erwiesen und musste sich auf ein Leben unter anhaltenden Sanktionen der USA und der EU einstellen.

Seit 2019 geht es um die Lösung des festgefahrenen Minsker Abkommens. Mit Trump im Weißen Haus und einer zunehmenden Besorgnis gegenüber China wollte Frankreich nicht auf dem Status quo beharren. Eine unabhängige französisch-europäische Diplomatie gegenüber Russland ist seit den Tagen von De Gaulle eine Fantasie geblieben. Deutschland hat seine wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland ungeachtet der Ukraine-Krise fortgesetzt, vor allem im Energiesektor. Die Vereinbarung zwischen Gazprom, Royal Dutch Shell, E.ON, OMV und Engie zum Bau von Nordstream 2 wurde im Sommer 2015 unterzeichnet. Obwohl das Projekt auf Eis gelegt wurde, wurden die deutschen Genehmigungen im Januar 2018 erteilt, die Bauarbeiten auf der deutschen Seite begannen im Mai desselben Jahres.

Ein Ausweg aus der Sackgasse im Donbass erfordert nunmehr Zugeständnisse von beiden Seiten. Russland müsste zumindest eine unabhängige Überwachung der Wahlen und den Aufbau von Institutionen in dem von ihm kontrollierten Teil des Donbass zulassen. Die Ukraine und Russland müssten sich auf ein Endziel einigen. Um die russischen Bedenken auszuräumen, sah Minsk ein hohes Maß an Autonomie für die östlichen Regionen vor. Kiew ist höchstens bereit, der Eingliederung des Donbass in die allgemeine Struktur der Föderation zuzustimmen, was Russland nicht annähernd weit genug geht. Darüber hinaus betrachten ukrainische Nationalisten nach jahrelangem Kampf jeden Schritt zur tatsächlichen Umsetzung des Minsker Abkommens in einer Form, die für Moskau akzeptabel wäre, als einen Akt des Verrats.

Wenn dies also der Hintergrund für die ausweglose Situation in der Ukraine ist, versuche ich nun herauszufinden, wie die aktuelle Eskalation entstand, die dazu geführt hat, dass seit dem Frühjahr 2021 innerhalb von nur zwölf Monaten so große Kriegsängste aufkamen.

Militäranalysten sagen, dass Russland seit geraumer Zeit Kapazitäten aufbaue und es nur eine Frage der Zeit sei, bis sich das Land entschließe, sein Militär auch einzusetzen. Gelegentlich wird behauptet, dass Putin aus innenpolitischen Gründen die aktuelle Kriegsangst brauche. Die Annexion der Krim im Jahr 2014 verschaffte ihm einen enormen Popularitätsschub. Der hat sich inzwischen verflüchtigt. Die Umfragedaten deuten darauf hin, dass die russische Bevölkerung keinen neuen Krieg begrüßen würde, schon gar keinen gegen die Ukraine.

Es stimmt, dass Russlands Wirtschaft seit 2014 nicht mehr so glänzend dasteht. Putins Regime kann nicht mehr mit der frohen Botschaft aufwarten, dass sich der Wohlstand erhöht. Im Jahr 2018 setzte es das Renteneintrittsalter herauf, was die Moral weiter untergrub. Wie Analysten des Carnegie-Zentrums feststellten, ist der Sozialvertrag aus der Putin-Ära – „Ihr sorgt für uns und lasst unsere Sozialleistungen nach sowjetischem Vorbild laufen, und wir werden für euch stimmen und uns nicht für eure Diebstähle und Bestechungen interessieren“ – nicht mehr gültig. Bei den Wahlen zum russischen Parlament im Herbst hat die alte kommunistische Partei an Stärke gewonnen. Aber auch das ist kaum ein Grund für die plötzliche Eskalation der militärischen Spannungen auf dem derzeitigen Niveau. Die zwingendere Logik resultiert aus den Spannungen, die sich aus dem Minsker Kompromiss ergeben, den geopolitischen Bedenken Russlands gegenüber der Haltung der USA und Putins eigener politischer Uhr.

Innerhalb des Kremls ist Putins eigener Zeitplan entscheidend. Im Jahr 2024 steht er vor der Entscheidung, weiter an der Macht zu bleiben oder seinen endgültigen Rückzug vorzubereiten. Russland könnte sich aus der Ukraine-Frage zurückziehen. Aber Putin ist zu sehr in die Sache verstrickt. Er will eine Lösung finden. Das heißt nicht, die Ukraine zu annektieren. Es bedeutet, das zu erreichen, worum es im Kampf zwischen 2007 und 2015 ging, nämlich der westlichen Expansion einen Riegel vorzuschieben. Dies soll sowohl durch die Konsolidierung eines russischen Vetos in der ukrainischen Politik als auch durch die Vermittlung der Botschaft an den Westen, keine weitere Expansion zu versuchen, erreicht werden. Wenn Putin das Jahr 2024 im Sinn hat, dann überschneidet sich dieses Datum mit der Amtszeit der Präsidentschaft Bidens. Daher muss es für den Kreml eine Priorität sein, die Bedingungen für die Beziehungen zwischen Russland und den USA in dieser Frage so früh wie möglich festzulegen. Die Biden-Administration hat eindeutig signalisiert, dass ihre Priorität China ist und dass sie bereit ist, einen politischen Preis für den Rückzug von ihren bisher wichtigen strategischen Positionen (wie Afghanistan) zu zahlen, um vielleicht andere Türen zu öffnen – wie etwa die in die Ukraine.

Hinzu kommt die interne Dynamik in der Ukraine. Die westlichen Medien neigen dazu, die Kommentare Russlands zur Ukraine als rein instrumentelles Gerede zu behandeln. Was aber, wenn wir ernst nehmen, was die Russen sagen? Mit Blick auf die Ukraine befürchten sie so etwas wie das georgische Szenario. Ein überambitioniertes oder verzweifeltes nationalistisches Regime in Kiew versucht (durch das westliche Gerede über die Nato-Mitgliedschaft ermutigt), sich den Donbass mit Gewalt wieder einzuverleiben. Darauf müsste Moskau mit massiver Gewalt reagieren. Besser wäre es, das Problem zu Moskaus Bedingungen zu lösen. Etwa indem man das enorme militärische Ungleichgewicht zwischen Russland und der Ukraine deutlich macht und die USA zwingt, sich auf den diplomatischen Prozess einzulassen, indem man Berlin und Paris ausmanövriert. 2018 erklärte Putin öffentlich, dass ein ukrainischer Versuch, Territorium in der Donbass-Region gewaltsam zurückzugewinnen, eine militärische Antwort nach sich ziehen würde.

Die Wahl von Volodymyr Zelensky im Jahr 2019 wurde als möglicher Anfang einer solchen Einverleibung gesehen. Er trat als Friedenskandidat an. Er kehrte zu den Verhandlungen im Normandie-Format zurück, und Russland schränkte die gewaltsamen Zusammenstöße im Donbass ein. Doch Zelenskys Popularität ist zusammengebrochen. Wie alle seine Vorgänger steht er vor der Wahl, sich mit der russischsprachigen Opposition im Osten des Landes oder den im Westen der Ukraine verwurzelten Nationalisten zu verbrüdern. Wie alle seine Vorgänger versucht er, den Wählern etwas zu bieten, während er gleichzeitig mit dem IWF verhandelt. Die wirtschaftliche Lage der Ukraine ist nach wie vor miserabel. Die Spaltungen innerhalb der ukrainischen Politik sind nach wie vor extrem, und die Nationalisten gießen Öl ins Feuer. Im März 2020 traf Zelenskys Stabschef Andryi Jermak mit Putins Kontaktmann Dmitrij Kosak zusammen und vereinbarte einen Beirat, in dem ukrainische Beamte den Friedensprozess mit Vertretern der von Russland unterstützten Separatistenregierungen erörtern sollten. Nach seiner Rückkehr nach Kiew wurde Jermak von den ukrainischen Sicherheitsdiensten strafrechtlich belangt und im Parlament des Hochverrats beschuldigt. Dies bestätigte Moskaus Ansicht, dass nationalistische Eiferer in der Ukraine das Sagen haben.

Unterdessen brodelt die Nato-Ukraine-Frage weiter. Anfang Dezember 2019 verabschiedete das ukrainische Parlament eine Resolution „über vorrangige Schritte zur Gewährleistung der euro-atlantischen Integration der Ukraine und zum Erwerb der Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Nato“. Dabei handelte es sich nicht nur um einen Appell der ukrainischen Seite. Laut Wladimir Frolow vom Moskauer Carnegie-Zentrum war die strategische Geduld Moskaus mit der Regierung Zelensky im Juni 2020 endgültig am Ende, als die Nato beschloss, der Ukraine den Status eines „Enhanced Opportunities Partner“ zu verleihen. Dies wurde von einem Vertreter von Zelenskys Partei wie folgt begrüßt.

Lisa Yasko, ukrainische Abgeordnete, Partei der Diener des Volkes: „Die Entscheidung der Nato, der Ukraine den Status eines ‚Enhanced Opportunities Partner‘ zu verleihen, ist eine großartige Nachricht. Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und dem Nato-Bündnis ist von größter strategischer Bedeutung für die regionale und globale Sicherheit. Der EOP-Status eröffnet uns neue Möglichkeiten in der Ukraine, in Brüssel und in der ganzen Welt. Insbesondere eröffnet er neue Möglichkeiten für den weiteren Austausch von Informationen und nachrichtendienstlichen Erkenntnissen, die gegenseitige Ausbildung und die Beteiligung des ukrainischen Militärs an Nato-Missionen. Gleichzeitig ist es wichtig zu betonen, dass unsere Forderung nach einem Aktionsplan für die Nato-Mitgliedschaft weiterhin gültig ist. In diesem Sinne setzt die Ukraine die Reformen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich fort. Dazu gehört bis 2020 auch die Reform der militärischen Dienstgrade entsprechend den Nato-Standards. Präsident Zelensky hat außerdem einen Gesetzentwurf zur Reform des Sicherheitsdienstes vorgelegt. Dies spiegelt unser anhaltendes Engagement für eine stärkere euro-atlantische Integration wider. Im Sommer 2020 war in Kiew die Rede davon, den Status eines wichtigen Nicht-Nato-Verbündeten zu erlangen, wodurch praktisch alle Beschränkungen für die militärische Zusammenarbeit mit den Amerikanern aufgehoben würden.“

Das ist wahrscheinlich die größte russische Sorge in diesem Moment.

Das Carnegie-Team unter Dmitri Trenin glaubt, dass dies ein entscheidender Wendepunkt war. Moskau hat sich jedoch nicht sofort auf einen Krieg eingestellt. In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 musste sich Russland mit zwei weiteren großen Krisen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft auseinandersetzen. Im August lösten die manipulierten Präsidentschaftswahlen in Belarus einen beispiellosen Proteststurm aus. Im September 2020 brach der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan aus, wobei Aserbaidschan, unterstützt von der Türkei, einen großen Sieg erzielen konnte. Im November 2020 wurde unter der Vermittlung Moskaus ein fragiler Frieden geschlossen.

Beide Krisen hätten einem rücksichtslosen Regime in Moskau Gelegenheit zu einem dramatischen Eingreifen geben können. In beiden Fällen hat Moskau nicht hart durchgegriffen. Im Kaukasuskonflikt hat es eine ausgleichende Position eingenommen. In Belarus scheint das Ziel Moskaus vor allem defensiv zu sein, um zu verhindern, dass es zu einer Destabilisierung im Stil des Maidan kommt. Aber es hat Lukaschenko keine komplexe oder teure neue Integration mit Russland aufgezwungen. Das russisch-belarussische Integrationsabkommen vom November 2021 ist ein leerer Brief. Und Lukaschenko beginnt, seinen Rückzug vorzubereiten.

Das Hauptziel des Kremls ist die Aufrechterhaltung eines kontrollierten, pro-russischen Machtwechsels. Moskau will verhindern, dass Lukaschenko und die belarussische Elite auf der Suche nach neuen Verbündeten umherziehen und verrückte Pläne aushecken. Ein solches Verhalten könnte die innenpolitische Situation eskalieren lassen und die EU und die Vereinigten Staaten veranlassen, nach neuen Ansätzen zu suchen, die Belarus wieder in Richtung Westen lenken.

Was die Ukraine betrifft, wurde die entscheidende Eskalation durch Maßnahmen der Kiewer Seite für den Winter 2021 ausgelöst. Im Dezember erklärte der ukrainische Verteidigungsminister Andrii Taran, dass die Ukraine hoffe, auf dem kommenden Nato-Gipfel einen Aktionsplan für die Nato-Mitgliedschaft zu erhalten.

Dies erklärte er auf einem Briefing mit dem Titel „Verteidigungsaspekte der euro-atlantischen Integration der Ukraine: Schlüsselaspekte und Aufgaben für die Zukunft“, wie auf der Website des ukrainischen Verteidigungsministeriums zu lesen ist. „Bitte teilen Sie Ihren Hauptstädten mit, dass wir auf Ihre volle politische und militärische Unterstützung für eine solche Entscheidung [der Ukraine den Membership Action Plan zu gewähren] auf dem nächsten Nato-Gipfel im Jahr 2021 zählen. Dies wäre ein praktischer Schritt und eine Demonstration des Engagements für die Beschlüsse des Bukarester Gipfels von 2008“, sagte Taran vor den Botschaftern und Militärattachés der Nato-Mitgliedstaaten sowie den Vertretern des Nato-Büros in der Ukraine.

Ihm zufolge ist der Kurs der Ukraine auf eine Vollmitgliedschaft in der Nato heute in der ukrainischen Verfassung verankert, und der rasche Erhalt des Aktionsplans für die Nato-Mitgliedschaft ist ein Ziel, das in der kürzlich verabschiedeten nationalen Sicherheitsstrategie der Ukraine festgelegt wurde. Taran wies darauf hin, dass die Ukraine in den letzten sieben Jahren nicht nur ihre eigene Unabhängigkeit, sondern auch die Sicherheit und Stabilität Europas entschlossen verteidigt habe und als starker Vorposten an der Ostflanke der Nato fungiere. „Wir glauben, dass der Beitritt der Ukraine und Georgiens zum Bündnis die richtige Entscheidung für die Nato wäre. Unsere Länder haben viele Gemeinsamkeiten. Es handelt sich um postsowjetische Republiken, also um Länder, die von der russischen Aggression betroffen sind. Aus unserer Sicht wird die mögliche Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens in der Nato erhebliche Auswirkungen auf die euro-atlantische Sicherheit und Stabilität haben, insbesondere in der Schwarzmeerregion“, sagte Taran.

Im Februar 2021 kündigten die ukrainischen Behörden unerwartet strenge Sanktionen gegen prorussische Politiker und Medien an. Am 2. Februar schaltete Zelensky drei prorussische Fernsehsender ab und beschuldigte deren Eigentümer, die Separatisten im Donbass zu finanzieren. Am 19. Februar folgten Sanktionen gegen ukrainische und russische Einzelpersonen und Unternehmen wegen gleicher Vorwürfe. Am dramatischsten war, dass Kiew gegen Viktor Medwedtschuk vorging, der in den letzten Jahren Putins einziger Gesprächspartner in der ukrainischen Politik war und eine wichtige Vermittlerrolle einnimmt. Angesichts der starken Unterstützung für seine pro-russische Partei war Medwedtschuk auch politisch ein ernsthafter Herausforderer für Zelensky.

Das alles rief natürlich Moskaus Widerstand hervor. Als unmittelbare Reaktion ließ Moskau die separatistischen Kräfte im Donbass los, was zu einem Anstieg der Verletzungen der Waffenruhe führte. Aber diese Intensivierung der Kämpfe im Donbass war eine Sache, warum auch noch eine umfassende militärische Mobilisierung? Hier könnten militärisch-logistische Probleme eine Rolle spielen. Russland hat die Mittel. Aber es hatte auch das Motiv, Kiew nicht nur einzuschüchtern, sondern die Beziehungen zwischen Kiew und Washington zu testen. Anfang 2021 begannen Moskauer Quellen immer häufiger vom Michail-Sakaschwili-Syndrom zu sprechen. Würde Zelensky im Jahr 2021 im Donbass etwas Ähnliches versuchen in der Erwartung, amerikanische Unterstützung zu bekommen?

Der Kreml nimmt die ukrainische Politik nicht sehr ernst. Er ist der festen Überzeugung, dass die wirkliche Macht, die über Kiews Handeln entscheidet, Washington ist. Russland hatte von einer künftigen demokratischen Regierung nichts Gutes zu erwarten, und Biden hatte im Wahlkampf seine Entschlossenheit deutlich gemacht, eine harte Linie zu verfolgen. Der Anschlag auf Alexej Nawalny und seine Inhaftierung sorgten für zusätzliche Spannungen. Indem Moskau den militärischen Druck auf Kiew erhöhte, wollte es Bidens Standhaftigkeit testen und deutlich machen, dass Washington sich nicht darauf verlassen könne, dass Europa eine Lösung im Rahmen des Minsk-Prozesses herbeiführen würde, wenn die Situation in der Ukraine gelöst werden sollte.

Während der Krise wiederholte Kozak, der auch stellvertretender Stabschef des Kremls ist, im Wesentlichen die frühere Warnung von Wladimir Putin, dass eine ukrainische Offensive im Donbass das Ende der ukrainischen Staatlichkeit bedeuten würde. Und Washington reagierte. Während des gesamten Jahres 2021 hat die Regierung Biden auf dem schmalen Grat balanciert zwischen der Suche nach einer Zusammenarbeit mit Russland einerseits und einer harten Haltung gegenüber den als russisch empfundenen Provokationen andererseits. Angesichts der Tatsache, dass der Schwerpunkt der Regierung Biden eindeutig auf China liegt, ist es erstaunlich, wie viel Aufmerksamkeit Russland geschenkt wird. Von der anfänglichen Eskalation im Frühjahr, die durch Zelenskys Vorgehen gegen prorussische politische Kräfte ausgelöst wurde, über die Telefondiplomatie mit Biden, die im April zu einer Deeskalation führte, bis hin zum Juni-Gipfel in Genf, dem Sparring im Sommer und der erneuten Eskalation der Spannungen seit August können wir die Schritte zurückverfolgen, die im November wieder zu einer akuten Kriegsangst führten.

Auf russischer Seite könnte sich die Veröffentlichung der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie Russlands am 2. Juli 2021 längerfristig als bedeutendes Ereignis erweisen. Darin wird noch deutlicher als im Vorgängerdokument von 2015 eine neue und antagonistische Weltsicht dargelegt. Auf ukrainischer Seite kann man auf den Gipfel der Krim-Plattform verweisen, den Präsident Zelensky am 22. August in Kiew eröffnete, „um Druck auf Russland wegen der Annexion der Krim aufzubauen (…). An dem zweitägigen Gipfel nehmen Vertreter aus 46 Ländern und Blöcken teil, darunter Vertreter aller 30 Nato-Mitglieder. Die US-Delegation wird von der Energieministerin Jennifer M. Granholm geleitet.“

Die Struktur dieses Konflikts ist klar, ebenso wie die Wege, die zur Eskalation führten. Die Frage ist, ob er gelöst werden kann. Welchen Weg man auch immer vorschlägt, es wäre eine Katastrophe für die USA, wenn das Ergebnis der gegenwärtigen Krise eine militärische Eskalation oder eine Zunahme der Feindseligkeiten mit Russland wäre, die das Land weiter in Richtung China treiben würde. Der Putin-Xi-Gipfel ist bereits für die Olympischen Winterspiele im Februar geplant.

Kommentare sind geschlossen.