Wäre eine Neutralität wie Österreich eine Option für die Ukraine?

Wäre eine Neutralität wie Österreich eine Option für die Ukraine?

Autor: Walter Schwimmer

In der aktuellen Debatte zwischen Russland und dem sogenannten Westen sieht, hört und liest man viel von Konfrontation, Aggression, Provokation, Eskalation, Truppenverstärkung, Sanktionen wie nie zuvor und so weiter. Sogar das Wort „Krieg“ taucht in diesem Zusammenhang auf. Von Deeskalation und Beschwichtigung ist wenig zu hören. Natürlich kaut man in den diversen offiziellen Verlautbarungen immer wieder die Floskel „Hoffnung auf eine diplomatische Lösung“. Aber was ist die „diplomatische Lösung“? Die Verfasser dieser Äußerungen schweigen hierzu in der Regel. Es scheint sogar, dass die meisten Verantwortlichen nicht wirklich daran interessiert sind, eine Lösung zu finden. Russland fordert zumindest deutlich Garantien für ein Ende der Nato-Osterweiterung, wohl wissend, dass es diese nicht erhalten wird. Für die NATO ist die Entscheidung eines Landes, die Mitgliedschaft zu beantragen, eine Frage des Prinzips, der Souveränität und des Völkerrechts, die von der Allianz nicht geleugnet werden kann. Aber in der Agenda 2030 der NATO ist eine Erweiterung nicht vorgesehen (da die NATO offensichtlich die Reife möglicher Beitrittskandidaten nicht sieht). Andererseits würde die Möglichkeit eines NATO-Beitritts von Georgien und der Ukraine die Streitkräfte des Militärbündnisses zu Tausenden weiteren Meilen gemeinsamer Grenzen mit Russland bringen, in einer Region, die unter 25 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs gelitten hat. Die Russen nennen es den Großen Vaterländischen Krieg, der 1941 von feindlichen Streitkräften begann, die bereits an den sowjetischen Grenzen standen. Erinnerungen und Traumata von 1941 sind tief in der russischen Seele verwurzelt.

 Der „Westen“ hat kein solches Narrativ. Dafür müssen andere Mythen herhalten. Z.B. ein dämonisierter Präsident, dessen angeblich größter Traum die Wiederherstellung der Sowjetunion ist und der damit der Aggressor schlechthin ist und daher kein Vorwurf nachgewiesen werden muss. Natürlich hat die Annexion der Krim internationales Recht verletzt. Die Unterstützung gewaltbereiter Separatisten im Donbass verstößt gegen die Souveränität der Ukraine und damit gegen internationale Abkommen. Der kurze Krieg mit Georgien wurde nicht von Russland begonnen und brachte einige Dörfer in Südossetien unter russische Kontrolle. Wenn all dies (und nur das) die Ergebnisse der Wiederherstellung der Sowjetunion in 21 Putin-Jahren sind, ist der angebliche große Traum dahingeschmolzen, bevor er sich herauskristallisiert hat. (Die Unterstützung international nicht anerkannter separatistischer Einheiten in Moldawien und Georgien begann, als die Sowjetunion zusammenbrach, lange bevor Putin Präsident wurde. Selbst zusammen mit den Gebieten des „eingefrorenen Konflikts“ gibt es keine „Novyy Sovetskiy Soyuz“, keine „Neue Sowjetunion“.

Trotzdem sieht die „diplomatische Lösung“ mit all dem im Hinterkopf aus wie ein gordischer Knoten. Wer wird ihn lösen? Im Zentrum des Konflikts steht weder Russland noch der sogenannte Westen, NATO, USA, Europäische Union. Es ist an der Zeit, die Lippenbekenntnisse zur Souveränität der Ukraine und ihrem Recht auf Selbstbestimmung ernst zu nehmen. Die Lösung ukrainischer Konflikte und Probleme liegt auf ukrainischem Boden. Die Europäische Union und Russland können als aufrichtige und verantwortungsbewusste Nachbarn der Ukraine in diesem schwierigen Prozess helfen und sie unterstützen. Die NATO ist gemäß ihren Grundprinzipien der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten, der Vertrauensbildung und der Konfliktprävention verpflichtet, die Konfliktlösung langfristig durch vertrauensbildende Maßnahmen unterstützen kann.

Aber wie könnte die Ukraine das Gesetz des Handelns durchsetzen, wieder zum Meister des Spiels werden und das Subjekt und nicht das Objekt in den Händen der Großmächte sein? Gibt es Beispiele, denen die Ukraine folgen könnte? Österreich befand sich bis zum Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs in einer ähnlichen geopolitischen Situation, die noch schlimmer war, als sich im Kalten Krieg zwei ideologische Lager gegenüberstanden. Österreich war an dieser Konfrontation nicht beteiligt. Mit der Wiedererlangung seiner Souveränität im Jahr 1955 durch den Staatsvertrag verabschiedete das österreichische Parlament verfassungsrechtlich die dauernde Neutralität des Landes und verpflichtete sich damit, sich von Militärbündnissen zu enthalten und keine fremden Truppen auf seinem Territorium zuzulassen.

Natürlich ist es kein Geheimnis, dass Österreich die Option der Neutralität gewählt hat, um den Staatsvertrag zu bekommen und seine Souveränität wiederzuerlangen. Um zu betonen, dass es dennoch die autonome Wahl Österreichs und seiner Bürger war, wurde an dem Tag, an dem Österreich von fremden Soldaten befreit wurde, das Verfassungsgesetz über die dauernde Neutralität verabschiedet. Es war keine schlechte Wahl, ganz im Gegenteil. Die Neutralität half Österreich, seine eigene Rolle in der internationalen Gemeinschaft zu finden, seine Wirtschaft erfolgreich zu entwickeln und war kein Hindernis, Mitglied der Europäischen Union zu werden.

Obwohl die Situation der Ukraine nicht ganz dieselbe ist wie die Österreichs, gibt es Ähnlichkeiten. Wie das Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg braucht die Ukraine Stabilität und freundschaftliche Beziehungen zu ihren Nachbarn. Die sogenannte Ukraine-Krise wird vorbei sein, wenn Konflikte und Streitigkeiten, die in nachbarschaftlichen und ethnischen Problemen verwurzelt sind, gelöst sind. Natürlich gibt es heiße Themen. Am schwierigsten ist natürlich der Fall der Krim. Völkerrechtliche Prinzipien wie die territoriale Integrität und das Selbstbestimmungsrecht scheinen einander unversöhnlich zu widersprechen. Aber internationales Recht – und insbesondere internationales Recht – ist nicht schwarz und weiß und lässt Raum für flexible Lösungen. Teil des Krim-Streits (und seiner Lösung) sind historische und ethnische Bindungen, das „Geschenk“ Chruschtschows an die Ukraine, die Abkommen zwischen Russland und der Ukraine über die Teilung der Schwarzmeerflotte und der Pakt von Charkiw. Das sieht wirklich nach einem gordischen Knoten aus, der mit äußerster Sensibilität gelöst werden muss. Unabhängig vom derzeitigen Zustand der Krim ist ein Abkommen zwischen Russland und der Ukraine für eine zukünftige friedliche Nachbarschaft der beiden Länder unerlässlich. Aber das ist eine Aufgabe der beiden Staaten und nicht die Spielwiese „interessierter“ Dritter.

Zweifellos wird eine ukrainische Neutralität nach österreichischem Vorbild hilfreich sein, um zu einer Einigung zu kommen. Eine Neutralitätsentscheidung muss von der Ukraine und ihren Bürgern getroffen werden und darf keinesfalls von außen aufgezwungen werden. Dasselbe gilt noch mehr für den Donbass und seine separatistischen Einheiten. Österreich hat ein Sonderregime zum Schutz und zur Förderung nationaler Minderheiten, das im Hinblick auf die große ethnische Russengemeinschaft kopiert und angewendet werden kann, übrigens nicht nur in den beiden separatistischen Bezirken. Und Österreich kann seine besonderen Erfahrungen mit der Autonomie für die österreichische Bevölkerung in der italienischen Provinz Südtirol einbringen. Die deutschsprachige Mehrheit Südtirols ist anteilig in der Verwaltung vertreten, hat eigene Kindergärten und Schulen. Die Provinz kann bis zu 90 % der Steuern unabhängig von Rom verwenden. Südtirol gilt als die wohlhabendste Provinz Italiens.

Hinzu kam ein weiterer wirtschaftlicher Aspekt. Gemeinsam mit der italienischsprachigen Provinz Trentino war Südtirol über Jahrhunderte bis 1918 Teil der Grafschaft Tirol des Habsburgerreiches und bildete einen gemeinsamen Wirtschaftsraum. Die wirtschaftlichen Beziehungen blieben auch nach der Trennung bestehen und sowohl Italien als auch Österreich waren daran interessiert, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu erleichtern. Als die beiden Länder nach dem Zweiten Weltkrieg einen Vertrag über die Autonomie Südtirols, das „Gruber-Degasperi-Abkommen“, schlossen, fügten sie ein „kleines Abkommen“, den „Accordino“, zur Erleichterung des Warenaustausches zwischen den österreichischen Bundesländern hinzu Tirol und Vorarlberg einerseits und der italienischen Region Trentino/Südtirol andererseits. Es war offensichtlich beabsichtigt, die wirtschaftlichen Nachteile der politischen Trennung von 1918 für die Bewohner zu mildern und traditionelle Handelsströme zu erhalten.

Es hat bis zum Beitritt Österreichs zur Europäischen Union zum Vorteil der ganzen Region funktioniert, wo es nicht mehr nötig war. Innerhalb der Europäischen Union setzten die betroffenen Stellen ihre Zusammenarbeit fort und gründeten sogar eine gemeinsame Vertretung in Brüssel. Da der Donbass und Südrussland bis 1991 zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum gehörten, ist die Situation recht ähnlich und ein ukrainisch-russisches Accordino, ein „nevelykyy dohovir/nebol’shoy kontrakt“, könnte zu einer fruchtbaren grenzüberschreitenden Zusammenarbeit führen und Spannungen abbauen. Alles in allem wird es kein einfacher Weg, aber einer, der sich zu gehen lohnt.

Die Nachbarn und insbesondere die Großen unter ihnen sollen der Ukraine helfen, aber sie nicht bevormunden. Russland und die Europäische Union werden benötigt, um bei der Wiederherstellung der östlichen Bezirke zu helfen. Österreich kann mit seiner Erfahrung aus 67 Jahren Neutralität, aber auch mit seiner historischen Verbundenheit insbesondere mit der Westukraine, die rund 150 Jahre zum Habsburgerreich gehörte, eine besondere Rolle spielen. Das heutige neutrale Österreich ohne imperiale Ambitionen wird ein verlässlicher vertrauensbildender Partner für die Ukraine sein. Ersetzen Sie also die kriegstreiberische Sprache der Konfrontation, Aggression, Provokation, Eskalation, Truppenverstärkung, Sanktionen, die so schwer wie nie zuvor sind, durch eine friedensstiftende Rede der Deeskalation, Abrüstung, Stabilität, Erholung. Der geografische Mittelpunkt Europas liegt in der Ukraine; Lass es das Zentrum des Friedens, der guten Nachbarschaft und der Versöhnung von Ost und West sein.

Über den Autor: Walter Schwimmer war von 1971 bis 1999 Mitglied des Österreichischen Nationalrates der Christlich-Demokratischen Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und von 1999 bis 2004 Generalsekretär des Europarates.

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