Realisten oder Russlandfalken? Weitergehende Sanktionsforderungen im Westen

Realisten oder Russlandfalken? Weitergehende Sanktionsforderungen im Westen

Bisher war die westliche Diskussion auf wirtschaftliche Sanktionen mit Schwerpunkt auf Swift und N 2 samt Waffenlieferungen an die Ukraine begrenzt. Die Truppenverlegungen der NATO–Staaten nach Osteuropa gelten schon als normal. Wobei nun Präsident Macron auch erstmals offen eine sehr weitreichende militärpolitische Sanktion zur Sprache bringt, die bisher eher in westlichen Insiderkreisen diskutiert wurde. Die Kündigung der NATO-Russland- Grundakte von 1997, die Militärbasen der NATO und grössere , permanente und langfristige Truppenstationierungen der NATO in den postsowjetischen Staaten ausschloss.

„Macron stellt NATO-Russland-Grundakte infrage

Der französische Präsident Emmanuel Macron nähert sich Polen an und ebnet einer gemeinsamen EU-Position den Weg. Putin dürfe man nicht nachgeben, heißt es aus Paris.

Eine „perfekte Übereinstimmung der französischen und deutschen Positionen“ hat Präsident Emmanuel Macron nach einem Telefonat mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Samstagnachmittag festgestellt. In dem Kommuniqué des Elysée-Palastes schwang eine gewisse Erleichterung mit, dass Scholz an diesem Montag in Kiew und am Dienstag in Moskau keine diplomatische Initiative anstrebt, die über das Mantra einer „Deeskalation“ hinaus geht. Paris erwarte von dem Besuch des Bundeskanzlers, dass Präsident Putin„klarere Signale“ als vor einer Woche gebe, so der Elysée-Palast.

Macron macht sich nach einem neuerlichen Telefonat mit Putin, das eine Stunde und vierzig Minuten währte, nicht mehr viel Illusionen über die verbleibenden Verhandlungsspielräume. Macron habe Putin eine „sehr klare Botschaft“ übermittelt, heißt es im Elysée. Moskau müsse mit einer „robusten, koordinierten und einheitlichen Antwort“ rechnen, sollte es zu einer militärischen Offensive auf dem staatlichen Hoheitsgebiet der Ukraine kommen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dem er hinterher Bericht erstattete, dankte Macron für „den persönlichen Einsatz“.

Vorsitz der Battle Group in Rumänien

Im Elysée spricht man im Falle eines russischen Angriffs von „harten Wirtschaftssanktionen“, aber auch offen über eine Revision der NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997. Polen dringt seit Langem darauf, die Grundakte nicht mehr als Grundlage anzusehen, da die Besetzung der Krim-Halbinsel einen klaren Verstoß gegen die Vereinbarung darstellt. Bislang hatten Paris und Berlin immer davor zurückgeschreckt, eine völkerrechtliche Vereinbarung de facto aufzukündigen. Doch beim jüngsten Gipfel des Weimarer Dreiecks in Berlin wurde mit dem polnischen Präsidenten eine neue Position erarbeitet. Wie es im Elysée heißt, ist die Stationierung von Raketensystemen und NATO-Truppen und schwerem Gerät an der Ostflanke in Arbeit, sollte Russland die Souveränität der Ukraine verletzen und „einen Korridor“ von Belarus nach Kaliningrad bedrohen.

Diese Pläne gehen weit über die in der NATO diskutierte Ausweitung der „enhanced forward presence“ (EFP) nach Rumänien und Bulgarien hinaus. Frankreich hat bereits zugesagt, bis zu 1000 Soldaten entsenden zu wollen. Im Elysée wurde jetzt bestätigt, dass Frankreich bereit ist, den Vorsitz der Battle Group in Rumänien zu übernehmen. Frankreich lieferte in der Zeit zwischen 2014 und 2020 mit einem Volumen von 1631 Millionen Euro die meisten Waffen an die Ukraine, noch vor Polen mit einem Exportvolumen von 657,5 Millionen Euro. 2021 hat Großbritannien laut den Jahresberichten über die Ausfuhr von Militärgütern und Militärtechnologie der EU Frankreich den Rang des wichtigsten europäischen Waffenlieferanten für die Ukraine abgelaufen.

Die gesamte Grundakte stehe im Fall einer derartigen Aggression zur Disposition, heißt es in diplomatischen Kreisen in Paris. In der Grundakte verpflichtet sich die NATO gegenüber Moskau, dass auf dem Staatsgebiet der neuen NATO-Mitglieder keine nennenswerten militärischen Einrichtungen geschaffen werden. Die Atommacht Frankreich verfolgt seit Langem mit großer Beunruhigung, dass Russland in Kaliningrad taktische Boden-Boden-Raketen vom Typ „Iskander“ stationiert hat, die mit konventionellen und atomaren Gefechtsköpfen bestückt werden können.

Im diplomatischen Dienst ist die Skepsis gegenüber Moskau besonders groß. Dies war einer der Gründe, warum Macron Ende August 2019 auf den „deep state“ schimpfte, der seine Annäherungsbemühungen an Moskau behindere. Aus dem gescheiterten „Reset“-Versuch hat Macron gelernt. Aus dem Elysée hieß es, Macron habe bei seinem Besuch im Kreml Putin als wesentlich härter und unnachgiebiger als im Sommer 2019 empfunden. Putin habe Macron im Telefonat am Samstag abermals versichert, es sei kein Angriff auf die Ukraine geplant. In Paris wird betont, einen „Blankoscheck“ für Putin werde es nicht geben.“

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/paris-fuer-raketensysteme-an-die-nato-ostflanke-17802536.html

Nikolaus Blume, der mal bei Springer und dann wieder beim Spiegel kommentiert äusserte auch die Idee, dass der Westen mal den Spieß umdrehe. Nicht warten, ob Putin in der Ukraine einmarschieren, sondern selbst aktiv mit Sanktionen und dem Ende von SWIFT und N2 drohen, fall er nicht seine Truppen an der Grenze abzieht, also agieren und nicht immer reagieren.

In der ZEIT fordert nun Mathias Naß ,  dass man weitere Sanktionen verhängt, auch wenn Russland nicht in die Ukraine einmarschiert. Allein schon die Androhung von Gewalt sei Nötigung, Bruch des Völkerrechts und müsse abgestraft werden ,da dies sonst zum Dauerzustand würde und sich wiederholen werde.

„Fünf vor acht / Russland: Putins politische und moralische Zumutung

Eine Kolumne von Matthias Naß

Selbst wenn Russlands Präsident seine Truppen nicht in die Ukraine einmarschieren lässt: Er hat Grenzen überschritten. Die Sanktionen gegen ihn sollten umgesetzt werden.

16. Februar 2022

Wenn Wladimir Putins Truppen am heutigen Mittwoch also nicht, wie von den amerikanischen Geheimdiensten vorhergesagt, in der Ukraine einmarschieren – ist dann alles wieder gut? Wenn sie auch in den nächsten Tagen nicht, wenn sie überhaupt nicht einmarschieren, sondern von der ukrainischen Grenze in ihre Kasernen zurückkehren? Ist dann alles wieder gut?

Nein, nichts ist dann gut. Zwar gibt es im Völkerrecht nicht den Tatbestand der Nötigung. Aber es gilt das Prinzip des allgemeinen Gewaltverbots, verankert in Artikel zwei, Abschnitt vier der UN-Charta. Unter dieses Gewaltverbot fällt nicht nur die Anwendung, sondern schon die Androhung von Gewalt. Otto Luchterhandt, emeritierter Professor für Völkerrecht an der Universität Hamburg, kommt in einer noch unveröffentlichten Analyse zu dem Schluss: „Die Androhung der Anwendung militärischer Gewalt, das heißt die Einkreisung der Ukraine durch die Streitkräfte Russlands, verletzt das Völkerrecht.“

Wenn Russland also durch seine Androhung von Gewalt das Völkerrecht gebrochen hat, dann sollten Europäer und Amerikaner die vorbereiteten Sanktionen nicht einfach in der Schublade verschwinden lassen.

Zum business as usual zurückzukehren?

Putin hat einen ganzen Kontinent in Furcht und Schrecken versetzt und mit kriegerischer Gewalt bedroht. Er hat mit seinem Truppenaufmarsch versucht, die Ukraine und die Nato zu erpressen. Er hat mit der Welt seine Vergewaltigungsfantasien geteilt: „Ob’s dir gefällt oder nicht, du wirst dich fügen müssen, meine Schöne„, sagte Putin im Gespräch mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron.  Dies galt der Ukraine für den Fall, dass die Regierung in Kiew die Minsker Vereinbarungen über die Zukunft der Ostukraine nicht so umsetzt, wie Putin sich das vorstellt. Sein Handeln ist eine einzige politische und moralische Zumutung.

Aber sehr viele Menschen, die ein Interesse daran haben, werden sagen: Natürlich ist jetzt alles wieder gut. Putin hat doch im Gespräch mit Olaf Scholz auf Dialog gesetzt. Er will über vertrauensbildende Maßnahmen reden. Und die ersten Einheiten ziehen von der Grenze ab. Es sei Zeit, so werden viele argumentieren, zum business as usual zurückkehren.

(…)

Sollten die Sanktionen, die der Westen für den Fall einer Invasion geplant hat, wirklich nur bei Übertreten der ukrainischen Grenze in Kraft treten? Hat Putin nicht schon längst die Grenzen des zivilisierten Umgangs zwischen den Nationen überschritten?

Ja, das hat er. Und deshalb sollten die Sanktionspläne – natürlich nicht in vollem Umfang, aber in gebührendem Maß – umgesetzt werden. Wladimir Putin hat mitten im tiefsten Frieden, von niemandem bedroht, allein von seiner Paranoia getrieben, Europa an den Rand des Krieges gebracht.  

Soll er dafür, dass er möglicherweise die „Schlinge um den Hals der Ukraine“ löst, wie es Frank-Walter Steinmeier gefordert hat, belohnt werden? Man legt keinem Menschen und keinem Land eine Schlinge um den Hals. Selbst wenn man sie am Ende nicht zuzieht, bleibt der angedrohte Erstickungstod eine niederträchtige Tat.

Falls Putin die Schlinge aber doch noch zuzieht? Falls er seiner Streitmacht gegen seine jetzigen Bekundungen den Befehl zum Angriff erteilt? Dann gilt das Gesagte ohnehin und bedarf keiner weiteren Begründung.

Eine Rückkehr zur Tagesordnung jedenfalls kann es nicht geben. Deshalb sollte durch Nord Stream 2 so bald kein Gas strömen. Und weil sich der Truppenaufmarsch jederzeit wiederholen kann, ist es richtig, dass im Osten Europas künftig mehr Nato-Soldaten stehen als zuvor. Im Übrigen wird es der Abschreckung nützen, wenn die Ukraine über eine gut ausgerüstete Armee verfügt, die ihr Land besser verteidigen kann als heute. Putin hat selten klug und im Interesse Russlands gehandelt. Gerade deshalb bleibt er gefährlich.

https://www.zeit.de/politik/2022-02/wladimir-putin-russland-aussenpolitik-ukraine

Nu fehlt nur noch eine Applebaum-Kolumne in der ZEIT, aber Anne Applebaum tobt sich gerade in The Atlantic aus und befürwortet allgemein  eine aktive Konfrontationspolitik des Westens, der das Tempo bestimme, weitere Sanktionen und Aufrüstung, sowie keinerlei Appeasement, sowie bei Ihrem Auftritt im ZDF bei Maybrit Illner eine weitere NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Es sei schon der Fehler der Deutschen und Franzosen gewesen 2008 nach dem NATO-Gipfel in Bulgarien ein Veto für eine Aufnahme Georgiens und der Ukraine eingelegt zu haben und damit erst Putins Expansionismus und Aggression ermöglicht zu haben.

“Why the West’s Diplomacy With Russia Keeps Failing

American and European leaders’ profound lack of imagination has brought the world to the brink of war.

„Tragically, the Western leaders and diplomats who are right now trying to stave off a Russian invasion of Ukraine still think they live in a world where rules matter, where diplomatic protocol is useful, where polite speech is valued. All of them think that when they go to Russia, they are talking to people whose minds can be changed by argument or debate. They think the Russian elite cares about things like its “reputation.” It does not.

In fact, when talking to the new breed of autocrats, whether in Russia, China, Venezuela, or Iran, we are now dealing with something very different: people who aren’t interested in treaties and documents, people who only respect hard power. Russia is in violation of the Budapest Memorandum, signed in 1994, guaranteeing Ukrainian security. Do you ever hear Putin talk about that? Of course not. He isn’t concerned about his untrustworthy reputation either: Lying keeps opponents on their toes. Nor does Lavrov mind if he is hated, because hatred gives him an aura of power.

Their intentions are different from ours too. Putin’s goal is not a flourishing, peaceful, prosperous Russia, but a Russia where he remains in charge. Lavrov’s goal is to maintain his position in the murky world of the Russian elite and, of course, to keep his money. What we mean by “interests” and what they mean by “interests” are not the same. When they listen to our diplomats, they don’t hear anything that really threatens their position, their power, their personal fortunes.

Despite all of our talk, no one has ever seriously tried to end, rather than simply limit, Russian money laundering in the West, or Russian political or financial influence in the West. No one has taken seriously the idea that Germans should now make themselves independent of Russian gas, or that France should ban political parties that accept Russian money, or that the U.K. and the U.S. should stop Russian oligarchs from buying property in London or Miami. No one has suggested that the proper response to Putin’s information war on our political system would be an information war on his.

Now we are on the brink of what could be a catastrophic conflict. American, British, and European embassies in Ukraine are evacuating; citizens have been warned to leave. But this terrible moment represents not just a failure of diplomacy; it also reflects a failure of the Western imagination, a generation-long refusal, on the part of diplomats, politicians, journalists, and intellectuals, to understand what kind of state Russia was becoming and to prepare accordingly. We have refused to see the representatives of this state for what they are. We have refused to speak to them in a way that might have mattered. Now it might be too late”.

Anne Applebaum is a staff writer at The Atlantic, a fellow at the SNF Agora Institute at Johns Hopkins University, and the author of Twilight of Democracy: The Seductive Lure of Authoritarianism.

https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2022/02/lavrov-russia-diplomacy-ukraine/622075/

Desweiteren rechnet Japser von Altenbockum mit der deutschen Appeasementpolitik und der damaligen Friedensbewgung ab, deren Vertreter nun an leitende Stellen in Politik, Wirtschaft und Medien gekommen seien.

„Mit der Realität auf Kriegsfuß

Deutsche Friedenspolitik lebt vom „Nie wieder“. Noch nie aber wurde das Prinzip so pervertiert wie jetzt in der Ukraine-Krise.

Wenn es um den Dienst am Frieden geht, ist keine Vergangenheit vor den Deutschen sicher. Kein Mythos ist zu falsch, kein Widersinn zu groß, um nicht die historische Zwangsläufigkeit deutscher Friedenspolitik zu konstruieren. Diese Konstruktion ist der Strohhalm, an den sich die Generation der Friedensbewegung klammert, die es zwar kaum mehr gibt, deren Vertreter aber im Laufe der Jahre bis in höchste Ämter und Positionen gelangt sind.“

https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/ukraine-krise-friedenspolitik-und-die-verantwortung-der-linke-17810269.html

Im wesentlich sei der erste Mythos, dass es Willy Brandts Ostpolitik war, die den Untergang des Kommunismus bewirkt habe und der NATO-Doppelbeschuss nur die Eskalation geschürt hätte. In Wahrheit habe gerade Reagans und Helmut Schmidts Nachrüstungspolitik und Politik der Stärke Gorbatschow hervorgebracht, den Untergang des Kommunismus eingeleitet und den friedlichen Wandel erst möglich gemacht, auch wenn Altenbockum der Brandtschen Entspannungspolitik doch noch zugesteht, dass sie die Freiräume der östlichen Opposition gefördert habe, die dann unter Reagans Konfrontationskurs so stark wurden, dass sie einen regime change bewirkten. Der zweite Mythos sei, die falsche Instrumentalisierung der Vergangenheit und des Krieges des 3. Reich gegen Sowjetrussland, das einen Schuldkomplex hinterlassen habe, der von Moskau weidlich instrumentalisiert würde, zumal Putin sich als Opfer und nicht als Aggressor darzustellen, eine klassische Täter-Opferumkehr. Bei seiner berechtigten Kritik , bringt Alpenbockum aber keine konkreten Forderungen, wie er sich denn nun die neue Russlandpolitik konkret vorstellt oder gar selbst Vorschläge wie eine Neutralität der Ukraine, die in solchen Überlegungen gar nicht einmal in Erwägung gezogen wird.

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