Ukrainekrieg: Der ewige Russe, der ewige Ami, begrenzte Atomkriege und die neue NATO-Strategie

Ukrainekrieg: Der ewige Russe, der ewige Ami, begrenzte Atomkriege und die neue NATO-Strategie

Der ewige russische Bär

Momentan kommt es in Mode, spätestens seit dem taz-Artikel die Ziele und die Aktionen der USA und NATO als für nicht ursächlich für den Ukrainekrieg zu halten. Zum einen machen dies einige Leute an der Person Putins fest, seinem Charakter mit dem Psychoprofil des jungen Strassenrowdys, der Gewalt schon früh lernte und von der Erinnerung an eine Ratte, die in die Enge getrieben wurde und angriff, nachhaltig beeinflusst sei, zumal er diese Erfahrung selbst machte, als er als KGB-Agent in Dresden damals von ostdeutschen Demonstranten 1989 , die die KGB-Zentrale stürmen wollten, selbst wie eine Ratte in die Enge getrieben wurde. Dass Putin sich durch die NATO-Osterweiterung und angebliche Einkreisungsstrategie der USA nun wie eine Ratte in die Enge getrieben fühle, sei dieser traumatischen Paranoia, ja gegebenenfalls noch einer KGB-Berufsparanoia geschuldet, zumal die USA und die NATO Russland ja aufgrund russischer Atomwaffen nichts Böses wolle oder gar könne. Andere Deutungen sind weniger individual-psychologisch sondern , dass die Russen und Russland schon immer einen missionarischen Grossmachtsanspruch hatten, der sich nie geändert habe und ändern könne, wie auch schon Kissinger in seinem Buch „Diplomacy“ von einer „imperialen Tradition Russlands“und „russischem Neoimperialismus“ warnte. Also egal, was die USA, die NATO und der Westen tun oder auch an Konzessionen mache, die Unmöglichkeit eines Kompromisses liege quasi in der historischen Genstruktur des ewigen Russen. Liest sich ähnlich wie Mearsheimers Verhalten von Grossmächten, die nun einmal so reagierten und agierten, wie dies Grossmächte nun einmal generell tun würden, wobei Kotkin dies nur auf Russland beschränkt, dem ein falsches Grossmachtdenken und eine Hybris vorgeworfen wird, welche zudem auf Selbstüberschätzung der eigenen Machtresourcen historisch schon immer gegeben sei.en So deutet dies auch Stephen Kotkin in einem Artikel der Foreign Affairs:

„Großmachtdenken als russisches Dilemma

Die kriegerische Ukraine-Politik von Russlands Staatschef Wladimir Putin wird von Experten auch als Versäumnis des Westens im Umgang mit Russland in den Jahren nach 1991 gesehen. Dem widerspricht einer der profundesten Russland-Kenner, der US-Historiker und Stalin-Biograf Stephen Kotkin. Russland habe historisch immer schon das Problem gehabt, einen Großmachtanspruch zu stellen, ohne ihn, mit Ausnahmen, erfüllen zu können, so Kotkin in einem langen Analyseinterview mit dem „New Yorker“.

Kotkin widerspricht in seinen Statements gegenüber dem „New Yorker“ stark den Positionen seiner Kollegen George Kennan und auch dem Doyen für internationale Beziehungen, John Mearsheimer. Beide hatten für die momentane Ukraine-Krise auch die NATO-Osterweiterung bzw. die Rolle der USA im Umgang mit Russland der letzten beiden Jahrzehnte als einen treibenden Faktor hinter der aktuellen Krise benannt. Die Behauptung, hätte sich die NATO mit ihrer Osterweiterung anders verhalten, hätte Russland auch anders reagiert, entbehre für ihn einer historischen Grundlage.(…)

„Das Russland, das wir heute sehen, ist das Russland, das es immer schon gegeben hat“, so Kotkin. Es gäbe ein historisches Muster für die Positionierung Russlands im Verbund mit den anderen Großmächten, und diese Positionierung sei durch die Geschichte immer schon von einem Großmachtanspruch getragen worden, den man aber schon im 19. Jahrhundert etwa nicht habe erfüllen können. „Was wir heute in Russland haben, ist ja keine Überraschung. Es sind historische Muster, die wir immer schon kennen“, so Kotkin: „Russland hatte einen Autokraten, es hatte Militarismus. Und es hatte ein tiefsitzendes Misstrauen gegen Fremde und vor allem gegen den Westen“, so Kotkin mit Verweis auf die russische Kultur des 19. Jahrhunderts.

Wären die baltischen Staaten nicht in der NATO, würden sie sich im selben Überlebenskampf finden wie die Ukraine, ist sich Kotkin sicher. 2016 hatte Kotkin einen Artikel in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ geschrieben, der die russischen Großmachtambitionen über ein halbes Jahrtausend in den Blick nimmt. Es habe Ausnahmemomente gegeben in der russischen Geschichte, als Peter der Große auf den Thron gekommen sei, Zar Alexander I. Napoleon besiegt habe oder Stalin Hitler – „doch sonst ist Russland eigentlich eine stets schwache Großmacht geblieben“

https://orf.at/stories/3253796/?utm_source=pocket-newtab-global-de-DE

Dsss vielleicht die USA ein Problem mit ihrem Grossmachts- und Weltmachtsanspruch haben könnten, steht gar nicht zur Debatte. Inzwischen wird nun auch die ganze Entspannungs- und Ostpolitik Willy Brandts, Egon Bahrs, Kennedys, Kissingers und Nixons Detente als daher schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt dargestellt.

„Russland löscht mit Ukraine-Krieg einstige Erfolge der Entspannungspolitik aus. Und nun?

Sozialdemokratie Lange Zeit hat die Entspannungspolitik der SPD das Verhältnis zu Russland geprägt. Heute stellt sich die Frage, ob die an Entspannung Interessierten zu viel auf Willy Brandt und seinen Berater Egon Bahr gehört haben, oder eher zu wenig“

https://www.freitag.de/autoren/daniela-dahn/ukraine-krieg-das-verhaeltnis-zu-putins-russland-muss-ueberdacht-werden

Die Antwort von Putin- und Moskautreuen Kräften kommt darauf umgehend, wie ein Beitrag der marginalen Deutschen Kommunistischen Partei / DKP) klarmacht, die plötzlich konservative Autoren von Mearsheimer, Dohnany, Willy Wimmer, den Scholl-Latournachfolder als Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft Michael Lüders, STRATFOR-Friedmann und Mac Kinder als Kronzeugen auftreten lässt und den USA wiederum unterstellt, Hauptziel ihrer Aussenpolitik sei es immer gewesen, eine Trennung zwischen Deutschland und Russland herzustellen, um das Entstehen einer eurasischen Macht im Herzland zu verhindern, wie dies auch schon Brzezinski in seinem Buch Chessboard Ende der 90er Jahre unter Berufung auf Mac Kinders formulierte: Der ewige Ami, der die Deutschen und Russen auseinandertreibt.

„Die langfristige US-Strategie in Europa und die Bundesrepublik

An der Spitze der Kriegstreiber

Arnold Schölzel UZ vom 18. März 2022 Verschiedene eher konservative Autoren haben in den vergangenen Jahren immer wieder auf das langfristige Interesse der USA aufmerksam gemacht, keine Kooperation zwischen Russland und Westeuropa, speziell Deutschland, zuzulassen. Am bekanntesten wurde wahrscheinlich eine Rede, die der US-Politikwissenschaftler George Friedman 2015 in Chicago hielt. Friedman hatte 1996 die private Nachrichtendienstgesellschaft „Stratfor“ gegründet. Ein zentraler Satz aus seiner Rede, in der er den Putsch von 2014 in der Ukraine kommentierte und die auf YouTube mit deutscher Übersetzung steht, lautete: „Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse war sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt.“

Hierzulande waren es Autoren wie der frühere parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium Willy Wimmer (CDU) und der Publizist Michael Lüders, als Vorsitzender der Deutsch-Arabischen Gesellschaft Nachfolger von Peter Scholl-Latour, die auf diese Grundlinie der US-Außenpolitik aufmerksam machten. Wimmer gab 2019 eine Geburtsschrift der genannten Strategie auf Deutsch heraus: Die Rede des britischen Geographen Halford John Mackinder, die dieser unter dem Titel „Der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte“ 1904 vor der Royal Geographical Society in London gehalten hatte: Es dürfe nie zu einer kompakten Landmacht im „Herzland“ Eurasiens kommen.

Am massivsten macht gegenwärtig der rechte Sozialdemokrat und Vertraute Angela Merkels, Klaus von Dohnanyi, auf diese US-Position aufmerksam. Die grundlegende These seines im Januar erschienenen Buchs „Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und internationale Politik in Zeiten globaler Umbrüche“ lautet: Die Interessen der USA in Bezug auf die Beziehungen der Europäer zu Russland waren seit den Zeiten von Präsident Theodore Roosevelt (1901 bis 1909), dem großen Vorbild Donald Trumps, den europäischen entgegengesetzt. Roosevelt habe die Monroe-Doktrin auf die sich Anfang des 20. Jahrhunderts ausbildende Weltmachtposition der USA ausgedehnt. Es gebe daher seit Ende des 19. Jahrhunderts „eine imperialistische Grundlinie US-amerikanischer Außenpolitik“. Hintergrund für Roosevelt sei die wachsende Stärke des Deutschen Reiches gegenüber dem schwächelnden britischen Empire gewesen. Er sei zu der Auffassung gelangt, „dass Deutschlands Einstellung gegenüber uns (es) zur einzigen Macht werden lässt, die mit irgendeiner vermutlichen Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit mit uns zusammenstoßen könnte“. Roosevelt sei daher ab 1914 konsequent für einen Kriegseintritt der USA gewesen, während US-Präsident Woodrow Wilson noch zögerte.

Dohnanyi illustriert dies mit einer Episode, die sich Ende der 70-er Jahre zutrug. Er leitete damals als Staatsminister im Auswärtigen Amt von BRD-Seite eine NATO-Übung, die mit einem Angriff „aus dem sowjetischen Osten“ begann. Im Rahmen des Planspiels hätten die USA ohne Information an ihn „kleinere ‚taktische‘ nukleare Sprengsätze über Deutschland abgeworfen“. Er sei überrascht gewesen, „dass ein solcher Eingriff in die souveränen Rechte der Bundesrepublik ohne Abstimmung erfolgen konnte“, und habe an Bundeskanzler Helmut Schmidt geschrieben. Bei einem Treffen wenig später habe der bemerkt, „ihm sei diese Strategie der NATO bekannt, und er werde, soweit kriegsähnliche Entwicklungen in Europa erkennbar würden, Deutschland für neutral erklären“.

An dieser Konstellation, schreibt Dohnanyi, habe sich nichts geändert. Das stimmt seit dem 27. Februar nicht mehr. Der heutige SPD-Kanzler hat die Bundesrepublik angesichts kriegerischer Entwicklungen in Europa nicht für neutral erklärt, sondern stellt sich sogar an die Spitze der Kriegstreiber. Die Rechnung der USA mit dem deutschen Imperialismus ist wieder aufgegangen“.

Jedenfalls empfehlen wir 2 Artikel aus den Ruhrbaronen. Der erste nimmt gedanklich eine mögliche Änderung der NATO-Strategie vorweg, in der die USA und die NATO nicht mehr berechenbar sein sollen für Putin, er deren Reaktionen nicht mehr einschätzen kann und daher selbst Angst bekommt und nicht mehr die Offensive hat.

„Putin muss das Kaninchen werden, das auf die Schlange starrt

21. März 2022 | Von Stefan Laurin

Niemand weiß, wie lang der Krieg, Putins gegen die Ukraine gegen begonnen hat, dauern wird. Auch wenn sich die Kampfhandlungen in der Ukraine festlaufen und die Fronten erstarren bedeutet dass noch lange nicht die endgültige Niederlage Russlands. Putin kämpft in diesem Krieg um die Wiederherstellung des russischen Imperiums. Verliert er, stehen seine Chancen schlecht, zu überleben. Und auch der heute schon eher imaginäre Status Russlands als Weltmacht wäre endgültig dahin.

Putin begann mit dem Kaukasuskrieg 2008 eine Kette von Auseinandersetzungen die über die Besetzung der Krim 2014 bis heute anhält. Auch wenn es zu einem Waffenstillstand in der Ukraine kommen sollte, bedeutet das nicht zwangsläufig das Ende des Krieges. Es kann auch nur eine Pause sein, in der Russland seine Armee neu aufstellt und seine Wirtschaft auf Kriegsproduktion umstellt. Putin spielt “All In”, für ihn geht es nur noch um Sieg oder Niederlage.

Putin hat sich für diesen Krieg entschieden. Er setzte seine Hyperschallraketen ein und droht mit Atomwaffen. Der Westen reagiert: Er liefert Waffen, erklärt aber in keinem Fall in der Ukraine einzugreifen. Nur wenn Putin einen NATO-Staat angreift, soll es eine militärische Antwort geben.

Damit begeben sich die NATO und er Westen vollkommen in die Hand Russlands. Russland bestimmt den weiteren Verlauf des Krieges und kann das Handeln der NATO bislang gut einschätzen. Es gilt, Putin, seinem Militär und den Russen diese Sicherheit zu nehmen. Wir müssen die Unsicherheit auf der Seite des Feindes, und nichts anderes ist Russland zurzeit, erhöhen. Der Westen darf nicht kalkulierbar sein. Wann und wie wir eingreifen, muss für Putin unklar sein. Es ist gut, dass immer mehr Truppen an der Grenze des Bündnisses zu Russland stationiert werden. Aber der Westen muss klar machen, dass er auch bereit ist, sie einzusetzen. Und zwar dann, wann er es für richtig hält. Zum Beispiel wenn die Zerstörung ganze Städte und der Massenmord an Zivilisten weitergeht. Oder wenn Putins Angriffe zu nah an unsere Grenzen kommen. Oder er chemische- oder Atomwaffen einsetzt. Er darf nicht wissen, wann der Westen zuschlägt und wenn, wie er es tun wird. Putin muss das Kaninchen werden, das auf die Schlange starrt. Wir müssen die Schlange sein, jederzeit bereit zuzuschlagen.

https://www.ruhrbarone.de/putin-muss-das-kaninchen-werden-das-auf-die-schlange-starrt/206805#more-206805

Die Stimmen werden lauter, dass man mit der ganzen Ostpolitik aufräumen müsse und zu Reagans Totrüsten und COMECON-Liste zurückmüsste samt der Doktrin der „begrenzten Atomkriege“ ala Colin S. Gray ( vergleiche SZ-Artikel „Der kleine Atomtod“) und die Russen einschüchtern mit Atomkriegsdrohungen, zumal das ja in den 80ern erfolgreich war.. Fürsprecher eines solchen Kurswechsels der NATO sind unter anderem die Ex-US- und NATOgeneräle Ben Hodges und Philip Breedlove.

Ein zweiter Artikel handelt über die Atomwaffenstrategie verschiedener Staaten, auch Russland, das durch seine Doktrin des „Escalate to de-escalate“ weltweit einzigartig dastände.

„Wie Putin lernte die Bombe zu lieben

19. März 2022 | Von Robert Herr

Würde Putin wirklich Atomwaffen einsetzen? Robert Herr wirft einen Blick in die Zeitgeschichte und versucht eine Antwort auf diese Frage zu finden.

Als Historiker neige ich dazu, bei der Beantwortung von konkreten Fragen des aktuellen politischen Weltgeschehens und dem Handeln der Akteure dieses Weltgeschehens in die Vergangenheit – gern auch die nähere – zu schauen. Meist sieht man im Nachhinein sehr deutlich, das bestimmte Entwicklungen sich schon sehr früh abgezeichnet haben, Akteure aus ihren Vorstellungen, Motivationen und Zielen keinen Hehl gemacht haben, man nur hätte zuhören oder nachlesen müssen. “Hindsight is 20/20”, wie der Amerikaner sagt, im Rückblick liegt die Sehkraft immer bei 100 Prozent.

Natürlich hindert einen niemand daran, das schon vor dem Eintreffen solcher Ereignisse zu tun. Die Frage des aktuellen politischen Weltgeschehens, die in Diskussionen und Hintergrundgesprächen derzeit häufig gestellt wird, ist folgende: Würde Putin wirklich Atomwaffen einsetzen?

Über die Nukleardoktrin verschiedener Staaten, also die Regeln, die sich verschiedene Staaten selbst für den Einsatz von Atomwaffen geben, gibt es viel Forschungsliteratur. Letzten Endes ist aber auch immer klar: Papier ist Papier, Entscheidungen werden von Menschen getroffen. Manche Staaten wie China und Indien schließen den Ersteinsatz von Atomwaffen komplett aus, wollen sie also nur einsetzen, wenn sie auch mit solchen angegriffen werden. Andere Staaten halten sich das offen. Den Ersteinsatz von taktischen Atomwaffen, also kleineren Atomwaffen, die nicht dazu dienen sollen, einen feindlichen Staat komplett auszulöschen, sondern den eigenen Truppen in einem Konflikt einen taktischen Vorteil zu verschaffen, schließen fast alle nuklear bewaffneten Staaten aus, weil sie entweder gar keine haben oder wie die USA ein derart großes konventionelles Potenzial haben, dass sie gar keine einsetzen müssen. Es gibt eine Ausnahme. Russland.

In der russischen Nukleardoktrin gibt es ein Konzept, das in den vergangenen 25 Jahren immer weiter ausgebaut wurde und in der wissenschaftlichen Literatur als “Escalate to de-escalate” also “Eskalieren um zu Deeskalieren” bezeichnet wird. Dahinter steckt die Strategie, einen bestehenden militärischen Konflikt (auch mit Gegnern, die selbst gar keine Atomwaffen haben), den Russland mit konventionellen Mitteln nicht gewinnen kann, durch den Einsatz taktischer Atomwaffen zu entscheiden und gleichzeitig durch die damit gezeigte Bereitschaft zum Einsatz von Atomwaffen, andere Staaten von einem Eingreifen abzuschrecken.

Aber wie weiter oben schon geschrieben, Papier ist letzten Endes Papier, Entscheidungen werden von Menschen getroffen. Wie Menschen denken, die letzten Endes die Entscheidung treffen, ist mindestens genauso wichtig.

Hier kommt eine an der Naval Postgraduate School, dem Postgradiertenkolleg der Naval Academy in den USA, eingereichte Doktorarbeit aus dem Jahr 2019 ins Spiel. Diese von Frank R. Kirbyson geschriebene und von Prof. Mikhail Tsypkin betreute Untersuchung habe ich in den letzten Tagen gelesen. Kirbyson untersucht neben den tatsächlichen militärischen Fähigkeiten, was in der Vergangenheit geübt wurde, auch sämtliche Äußerungen zum Einsatz von Atomwaffen, die von russischen Funktionären jemals getätigt wurden. Das ist alles informativ und lesenswert. Für mich als Historiker und jemanden, der auf der Suche nach diesen “Im Rückblick liegt die Sehkraft immer bei 100 Prozent”-Momenten ist, war jedoch der Teil seiner Arbeit am interessantesten, in dem Kirbyson die Veränderungen der russischen Nukleardoktrin im Wandel der Zeit minutiös nachgezeichnet hat.

Daraus konnte ich lernen, dass die russische Nukleardoktrin von 1993 die Strategie zum Ersteinsatz von taktischen Atomwaffen zur Entscheidung konventioneller Kriege noch nicht enthielt. Im Gegenteil, sie warnte sogar explizit davor. Diese Strategie zum Ersteinsatz von taktischen Atomwaffen fand erstmals in der Nukleardoktrin aus dem Jahr 2000 Erwähnung und wurde dann in den kommenden Jahren bis heute immer weiter ausgeweitet und verfestigt.

Woher kam aber dieser schwerwiegende Strategiewechsel in Bezug auf den Ersteinsatz von taktischen Atomwaffen? Die diesbezügliche Änderung der 1993er-Nukleardoktrin wurde im Jahr 1999 vom Sicherheitsrat der Russischen Föderation durchgeführt. Den Auftrag erteilt und die diesbezügliche Änderung maßgeblich vorangetrieben hat der erst kurz zuvor im selben Jahr im März ins Amt gekommene Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation. Ein gewisser Wladimir Wladimirowitsch Putin.

Der Mann also, der vor 23 Jahren, noch bevor er Ministerpräsident wurde, noch bevor er Präsident wurde, dafür sorgte, dass der mögliche Ersteinsatz von taktischen Nuklearwaffen in konventionellen Kriegen, in denen Russland in die Bredouille gerät, offizieller Teil der russischen Nukleardoktrin wird und diese Strategie in den Jahrzehnten danach immer weiter ausgeweitet und verfestigt hat, ist nun derjenige, der darüber entscheidet. Würde er das wirklich tun? Ich weiß es nicht. Aber die “Im Rückblick liegt die Sehkraft immer bei 100%”-Momente sind da. Der Mann war diesbezüglich in den vergangenen 23 Jahren konsistent und hat nie einen Hehl daraus gemacht.

Bestünde aber die Möglichkeit, die praktische Gelegenheit, mit einem taktischen Nuklearschlag den Krieg dramatisch zu beeinflussen? Ich denke ja. Die Ukraine ist vom Seehandel abgeschnitten, der Luftraum ist dicht. Fast alle Hilfe, welche die Ukraine bekommt, findet über den Landweg von Polen statt, über einige wenige Routen, die fast alle über Lwiw gehen. Man kann natürlich nicht ausschließen, dass auch einzelne verdeckte Versorgungsflüge gehen, aber auch die landen vermutlich am Flughafen Lwiw. Der ukrainische Generalstab hat dort die Zelte aufgeschlagen, ein Großteil der Fluchtbewegung nach Westen läuft über Lwiw ab, andere Wege raus gibt es kaum. Ein gut gezielter Einsatz einer taktischen Atomwaffe in der Umgebung von Lwiw, vielleicht am Flughafen, um neben der halben Stadt auch diesen und den südlichen Autobahnring in Mitleidenschaft zu ziehen wären katastrophal für die Ukraine.

Es gibt einen Mann mit Motiv, Mittel und Gelegenheit. Ich hoffe, es passiert nicht. Im Gegensatz zum Rückblick schaut man im Vorblick immer in den Nebel und manchmal ist der Schatten, den man im Nebel sieht, kein angreifender Mörder, sondern einfach nur ein Briefkasten.

Aber traue ich ihm das zu?

Ja.

https://www.ruhrbarone.de/wie-putin-lernte-die-bombe-zu-lieben/206776#more-206776

Und dann bleibt eben die Frage, was der Westen und die NATO dann zu tun gedenkt. Bisher würde sie sich auch dann raushalten, insofern nicht eine Änderung der NATO-Strategie back zu Reaganschen Evil Empire- Zeiten begrenzter Atomkriegsdrohungen und Unberechenbarkeit erfolgt, für die vielleicht sogar Trump die zuverlässig unberechenbarere Grösse sein könnte, da er Russland schon mit Atomschlägen „Fire and Fury“ drohen würde, aber zu einem Deal kommen möchte. Biden ist da vorhersehbarer. Im Juni wird die NATO ihren nächsten Gipfel abhalten. Vorarbeiten für eine neue NATO-Strategie 2030 wurden schon am 25. November 2020 mittels des Berichts “ “NATO 2030: United for a New Era” unter einer Reflektionsgruppe unter der Leitung des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers de Maizerre und des US-Diplomaten Dr. Wess Mitchell aufgrund eines Arbeitsauftrages von NATO-Generalsekretär Stltenberg geleistet. Es bleibt abzuwarten, ob es nun bei dem NATO-Gipfel 2022 zur Verabschiedung einer neuen NATO_Strategie und einer neuen Abschreckungsstrategie, vielleicht weg von einer „defensiven Abschreckung“ und flexible response zu einer „offensiven Abschreckung“ kommt, insofern dies bei den USA, Deutschland und Frankreich und anderen NATO-Mitgliedern überhaupt konsensfähig wäre und man da nicht noch mehr Zeit braucht und man weiteren Diskussionsbedarf hat.

https://dgap.org/en/events/reforming-nato-report-reflection-group

Russland unter Putin habe sich von der konventionellen Abschreckungsstrategie verabscheidet, weswegen die NATO demzufolge auch eine neue Abschreckungsstrategie brauche, zumal Russland begrenzte Atomkriege mittels taktischen Atomwaffen unterhalb der Schwelle eines internationalen Atomkriegs führen könne und wegen seiner „Escalate to de-escalate“-Doktrin auch beabsichtige:

„17.03.2022 Gefährliche Doktrin: Putin bricht die Regeln der nuklearen Abschreckung aus dem Kalten Krieg

Die russische Nuklearstrategie folgt nicht den Regeln der Abschreckung im Kalten Krieg. Das erhöht die Gefahr einer Eskalation.

Kann der russische Präsident Wladimir Putin im Alleingang einen nuklearen Erstschlag anordnen? »Die ehrliche Antwort ist: ›Wir wissen es nicht‹«, twitterte Pavel Podvig vom United Nations Institute for Disarmament Research Anfang März. »Eine kurze Antwort ist: ›Wahrscheinlich‹. Eine längere Antwort ist: ›Es ist kompliziert.‹«

Die Einschätzungen von Experten orientieren sich noch immer an den Erkenntnissen über die sowjetische Kommandostruktur, die seit Stalins Tod darauf ausgerichtet war, Alleingänge zu verhindern. Grundsätzlich bestehe diese Kommandostruktur noch, so Podvig, daher gebe es Einflussmöglichkeiten, doch habe wohl niemand eine Vetomacht gegen die Entscheidung des Präsidenten.

Bislang waren die russischen Drohungen sorgfältig inszenierte Propaganda. Am 5. März sagte Putin, die westlichen Sanktionen seien »einer Kriegshandlung ähnlich«. Zwei Tage später mahnte Marija Sacharowa, die Sprecherin des Außenministeriums, Waffenlieferungen an die Ukraine würden eine »katastrophale Entwicklung der ­Situation nicht nur in der Ukraine, sondern auch in den Nato-Ländern provozieren«, am 13. März griff Russland eine nur 20 Kilometer von der polnischen Grenze entfernte ukrainische Militäreinrichtung an. Die Angst vor dem Atomkrieg soll die westlichen Staaten von Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine abbringen.

Konkrete Vorbereitungen sind den Drohungen und der von Putin angeordneten »erhöhten Kampfbereitschaft« der Atomstreitkräfte bislang nicht gefolgt, andernfalls hätten die USA, dem Automatismus des Kalten Kriegs folgend, Gegenmaßnahmen ergriffen. Doch Putins Rhetorik ist ein Bruch mit den damals gültigen rules of engagement, kein KPdSU-Generalsekretär und kein US-Präsident hat jemals so leichtfertig mit Atomwaffen gedroht. Die Nato hält sich akribisch an die alten rules of engagement und agiert wie in den damaligen sogenannten Stellvertreterkriegen: Man versorgt die Ukraine mit Waffen, bleibt aber unterhalb der Schwelle einer Teilnahme von Nato-Soldaten an Kampfhandlungen.

Diese Vorsicht trug der Nato viel Kritik ein, doch es wäre riskant, Putins Drohungen als Bluff abzutun. Russland hat sich auch in der Militärdoktrin von den rules of engagement des Kalten Kriegs verabschiedet. Diese gestatten den nuklearen Erstschlag, wenn, so die gleichlautenden Formulierungen aus den Jahren 2010, 2014 und 2020, eine existentielle Bedrohung des Staats vorliegt. Konkrete Einsatzszenarien sind geheim, doch gibt es Indizien dafür, dass die existentielle Bedrohung sehr großzügig ausgelegt wird. So sagte Nikolaj Patruschew, seit 2008 Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats, ein Jahr nach seiner Amtsübernahme: »Wir haben die Bedingungen für den Gebrauch nuklearer Waffen zur Abwehr einer Aggression mit konventionellen Kräften korrigiert, nicht nur in großflächigen, sondern auch regionalen oder sogar lokalen Kriegen.« Möglich sei auch ein »Präventivschlag« gegen einen »potentiellen Aggressor«.

In der US-Militärforschung wird diese Strategie als escalate to ­de-escalate bezeichnet – der einschüchternde Nuklearschlag soll den Feind zum Rückzug oder zur Kapitulation zwingen. Für einen Atomwaffeneinsatz unterhalb der Schwelle des interkontinentalen Kriegs ist Russland wesentlich besser gerüstet als die USA. Diese verfügen über 230, Russland über 1 000 bis 2 000 »nichtstrategische« Atomsprengköpfe, also solche mit kleinerer Sprengkraft.“

https://jungle.world/artikel/2022/11/gefaehrliche-doktrin

Jedenfalls ist die Diskussion um eine neue Militärstrategie und Abschreckungsstrategie schon in vollem Gange wie auch die Jungle Wolrd berichtet:

„17.03.2022

Die westlichen Staaten ziehen militärpolitische Konsequenzen aus dem Ukraine-Krieg

Aufgeschreckte Nato

Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat weltweit sicherheits- und militärpolitische Diskussionen ausgelöst. Dabei geht es weniger um das konkrete Geschehen auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz als vielmehr um weltpolitische Machtfragen.

Mit Russlands Invasion der Ukraine hat auch der schwelende Konflikt zwischen Russland und der Nato ein neues Niveau erreicht. Der russische Präsident Wladimir Putin ist entschlossen, eine weitere Ausdehnung der Nato nach Osten militärisch zu unterbinden, und stellte gleichzeitig Forderungen an die Nato, ihre Truppen aus allen 14, nach 1997 beigetretenen Staaten abzuziehen, darunter Polen und Ungarn.

Selbst direkte Kämpfe zwischen Russland und einem Nato-Mitgliedstaat, einschließlich der Gefahr des Einsatzes von Nuklearwaffen, scheinen mittlerweile im Bereich des Möglichen.

Als Reaktion auf den russischen Einmarsch verlegte die Nato Truppen nach Osteuropa, konkret ins Baltikum, nach Polen und nach Rumänien. Längerfristige Konsequenzen in Form eines militärstrategischen Umdenkens werden nun von US-amerikanischen und westeuropäischen Militärexperten diskutiert. Das beinhaltet nicht nur Erhöhungen der Rüstungshaushalte in allen wichtigen Nato-Mitgliedsländern, sondern betrifft auch die Ausrichtung des Militärs, letztlich also eher die Frage, in was diese Finanzmittel investiert werden sollen.

Drei Entwicklungen sind aus Sicht der westlichen Staaten langfristig zu ­bedenken: Auf weltpolitischer Ebene verschiebt der Aufstieg Chinas und dessen Konfrontation mit den USA die globalen Machtverhältnisse. Konzentrieren die USA langfristig ihre Kräfte im Pazifik, wirft das Fragen über das Verhältnis zur EU auf. In Reaktion auf die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in osteuropäischen Nato-Ländern hatte Russland in den vergangenen Jahren versucht, sein atomares Raketenarsenal zu modernisieren. Militärisch führt Putins implizite Drohung mit dessen Einsatz dazu, dass seine Gegner neu über die nukleare Abschreckung nachdenken müssen. Darüber hinaus verändert die Digitalisierung die Kriegführung. Der Einsatz von Drohnen und anderen unbemannten Waffensystemen und die Möglichkeit der sogenannten Cyberkriegführung, also digitaler Angriffe auf die informationstechnische Infrastruktur des Gegners, findet weit unterhalb der Schwelle eines nuklearen Schlagabtauschs statt.

Die Möglichkeit eines Atomkriegs steht in den westlichen Ländern derzeit im Mittelpunkt der Diskussionen. Dabei wird vor allem auf die aus dem Kalten Krieg bekannte Doktrin der Abschreckung zurückgegriffen, der zufolge ein realistisches Szenario der vollständigen Zerstörung aufrechtzuerhalten ist, das den Gegner vom Einsatz dieser Waffen abhalten soll. In diversen Veröffentlichungen diskutierten Politiker, Armeeangehörige und Sicherheitsexpertinnen in den vergangenen zwei Wochen darüber, wie eine modernisierte Politik der Abschreckung aussehen könne. Das dürfte eine wichtige Rolle auf dem Nato-Gipfel im Juni in Madrid spielen. Turnusgemäß soll auf diesem das Strategische Konzept der Nato erneuert werden, dies war zuletzt 2010 in Lissabon geschehen. Das Strategische Konzept ist das zentrale Dokument des Bündnisses und legt dessen strategische politische und militärische Leitlinien dar

Ein Thema des Gipfels dürfte auch die sogenannte strategische Autonomie der EU sein, womit gemeint ist, dass die EU-Staaten eigenständige militärische Kapazitäten aufbauen sollen. Vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte das in den vergangenen Jahren wiederholt gefordert, auch in Reaktion auf Äußerungen Donald Trumps, der in seiner Amtszeit als US-Präsident Schutzgarantien der USA für die Nato-Staaten in Frage zu stellen schien. Macron tat das nicht uneigennützig; die strategische Autonomie der EU würde die Stellung Frankreichs in dem Staatenverbund stark aufwerten, ist doch nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs Frankreich mit seiner Atomstreitmacht, der force de frappe, die einzige Nuklearmacht in der EU.

Unter anderem deswegen ist die Idee unter den EU-Mitgliedstaaten nicht unumstritten. Auch die Haltung der USA dazu ist zwiespältig. Einerseits würde eine strategische Autonomie der EU helfen, Kräfte freizusetzen, die die USA im Konflikt mit China benötigen. Andererseits könnte eine stärkere gemeinsame Aufrüstung der EU den Zugang von US-Unternehmen zum EU-Rüstungsmarkt erschweren. Auch bestünde im Konfliktfall die Gefahr des Ausschlusses der USA von der Nutzung ihrer strategisch wichtigen Basen in Europa. Der Krieg in der Ukraine erhöht sowohl in der EU als auch in den USA die Zustimmung zur Idee des Aufbaus eigener, auch nuklearer, militärischer Kapazitäten der EU. So forderte erst kürzlich die Nato-Expertin Stefanie Babst im Interview mit dem Berliner Inforadio eine Debatte dar­über ein, »ob wir in Europa eine eigene atomare Abschreckungsfähigkeit entwickeln können.« Über die Kontrolle und Ausgestaltung europäischer militärischer Strukturen herrscht allerdings keine Einigkeit. Denn die alten Konflikte unter den westlichen Ländern schwelen auch angesichts der russischen Aggression weiter. Vor diesem Hintergrund ist auch das Agieren Großbritanniens zu sehen. Kürzlich noch plante die Regierung Boris Johnsons unter dem Schlagwort »Global Britain« die sicherheitspolitische Abwendung von Kontinentaleuropa und die Hinwendung zum pazifischen Raum in Allianz mit den USA, asiatischen Staaten und Australien. Seit Anfang des Jahres ist das Land allerdings im Bündnis mit Polen und den baltischen Staaten der stärkste westeuropäische militärische Unterstützer der Ukraine. Im Februar versuchte Johnson sogar, mit Polen und der Ukraine ein ­eigenständiges Militärbündnis zu gründen. Der britische Anspruch, auch in Europa weiterhin sicherheitspolitisch präsent zu bleiben, richtet sich nicht nur gegen Russland, sondern stützt auch die osteuropäischen Nato-Partner als Gegengewicht gegen eine deutsche Dominanz in Europa. Dieser misstraut beispielsweise Polen zutiefst.

Das brachte der polnische Soziologe Sławomir Sierakowski kürzlich in ­einem von dem Think Tank Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) veröffentlichten Beitrag zum Ausdruck. Er begrüßte darin die Bereitschaft Deutschlands, seine Verteidigungsausgaben zu erhöhen, wies aber darauf hin, dass dies aus polnischer Sicht gemischte Gefühle erregt: »In Deutschland müssen nicht immer vernünftige und moderate Politiker regieren.« Deswegen müssten jetzt »Nato-Basen mit amerikanischen Soldaten« in Polen errichtet werden, und vor allem sei die europäische Integration zu verstärken, so dass Deutschland und Polen in einem »Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeit« miteinander verbunden sind und »sich nie gegeneinander wenden können.«

https://jungle.world/artikel/2022/11/aufgeschreckte-nato

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