Interview mit Prof. Van Ess nach dem 20. Parteitag der KP China „Problembekämpfung ist dafür zentrales Thema“
Global Review hatte die Ehre, ein Interview mit Prof. Dr. Van Ess, Sinologieprofessor an der LMU und Präsident der Max Weber Stiftung, über China, die KP Chinas , vor allem nach dem 20. Parteitag zu führen.
Global Review: Prof. Van Ess, wie beurteilen Sie den 20. Parteitag, bei dem Xi Jinping zum dritten Mal als Vorsitzender gewählt wurde? Was blieb gleich, was gab es Neues, was Aussergewöhnliches? Sei es bei Minderheitenfragen, Taiwan, Südchineischem Meer, chinesischen Traum, Rejunevation und Wiedergeburt Chinas, Wirtschaftspolitik, Bevölkerungspolitik, Covidpolitik, Aussen- und Sicherheitspolitik? Alles beim Alten mit Ausnahme der nun absoluten Stellung Xis?
Professor Van Ess: Nach außen betrachtet tatsächlich nicht viel Neues. Der chinesische Traum scheint mir in den Hintergrund gerückt, Problembekämpfung ist dafür zentrales Thema.
Global Review: Früher wurde das Politbüro und sein ständiger Ausschuss ja nach einem nicht ganz durchsichtige Proporz ausgewählt, bei denen dann einige Fraktionen herausstachen, sei es nun die sogenannte Shanghai Gang mit Jiang Zemin und Hu Jintao als prominentesten Repräsentanten und Hu Jintao für die Youth League. Einige Beobachter behaupten, dass dies nun nicht mehr der Fall sei, sondern nur noch eine Xi- Clique alles in den Händen habe und alle anderen herausgedrängt. Was ist davon zu halten? Inwieweit spielen da alte Parteiveteranen wie Deng Xiaoping, Jiang Zemin, Hu Jintao auch noch nach ihrem Abtritt im Hintergrund mit?
Professor Van Ess: Neulich sprach ich mit einem chinesischen Kollegen, der meinte, er selber könne auch nicht viel zu der neuen Konstellation sagen. Er meinte, diese Ideen bezüglich der Kommunistischen Jugendliga und der sogenannten Prinzlinge seien interessant, sie stammten aber zumeist von Analysten, die in den USA leben. Als 2012 Xi Jinping an die Macht kam, galt er als „Prinzling“, weil sein Vater eben ein alter Kampfgefährte von Deng Xiaoping war. Das traf aber auch auf seinen Konkurrenten Bo Xilai zu, so dass klar ist, dass die Frontlinien nicht so einfach zwischen unterschiedlichen Organisationen innerhalb der Partei verlaufen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass Xi Jinping die Stellung seiner eigenen Parteigänger gestärkt hat.
Deng Xiaoping hat bekanntermaßen die Politik der 80er Jahre bestimmt, obwohl er „nur noch“ Vorsitzender der Militärkommission war, und auch während der ersten Jahre der Jiang Zemin-Ära war sein Einfluss deutlich spürbar. Jiang Zemin hat die Formel von den „Drei Repräsentationen“ entworfen, die auch zur Zeit Hu Jintao’s weitergepflegt wurde. Der Bruch zwischen Hu und Xi ist tatsächlich offenbar ein härterer, auch wenn das erst in der zweiten Amtsperiode von Xi Jinping richtig sichtbar wurde. Damals eskalierte natürlich, provoziert durch die Trumpsche Wende in der China-Politik, auch der Gegensatz zwischen den USA und China, so dass man in China lange dachte, der Bruch mit der Vergangenheit habe eher mit der Außenpolitik der USA zu tun als mit Xi Jinping selbst. Ein wichtiger Grund dafür, dass Hu Jintao unter Xi Jinping nicht im selben Maß im Hintergrund wirken konnte, wie seine Vorgänger, dürfte die Tatsache sein, dass es unter ihm zu sozialen Verwerfungen und wirtschaftlichen Problemen, wie der Immobilienblase kam, deren Folgen erst die Nachfolgeregierung so richtig zu spüren bekam.
Global Review: Welches waren die wesentlichen Merkmale und politischen Massnahmen von Deng, Jiang, Hu und nun Xi im Vergleich. Ist das eine kontinuierliche graduelle Entwicklung Chinas zur Weltmacht in geplanten Entwicklungsphasen oder ist das mehr angesichts des internationalen Umfelds improvisiert?
Professor Van Ess: Deng Xiaoping und seine beiden Nachfolger Jiang und Hu standen für die Liberalisierung im wirtschaftlichen Bereich, was die Produktivkräfte entfesselte, aber eben schon unter Jiang Zemin zu einer Spreizung der Wohlstandsschere führte. Am Ende der Regierungszeit Hu Jintaos war sie weit offen. Das sehe ich als den Hauptgrund dafür, dass Xi Jinping einen harten antiwestlichen Kurs und eine Kampagne zur marxistischen Re-Ideologisierung eingeführt hat, was es zuvor so nicht gab. Einerseits ist dies also eine Reaktion auf das internationale Umfeld (Handelskrieg der Regierungen Trump und Biden, die sich in dieser Frage erstaunlich einig sind), andererseits auf innenpolitische Entwicklungen.
Global Review: Dengs Maximen waren: Egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse“ „Einige müssen erst reich werden, damit alle reich werden können“ „Die zunehmende Stärke verdecken und nicht offen zur Schau zeigen“. Ihm wird eher ein nihilistischer, wertefreier Pragmatismus nachgesagt. Xi hingegen gilt inzwischen vielen Chinaexperten und Chinakritikern angesichts der Null Covidstrategie, Security Trumps Economy, Wolfskriegerrhetorik und aggressivem Auftreten gegenüber anderen asiatischen Ländern in Südchinesischem Meer, Ostchinesischem Meer, Indien und gegenüber Taiwan, zudem im Bündnis mit Putin- Russland und dem Ziel einer multipolaren Welt als Ideologe. Wie beurteilen Sie dies und auch die These von China als systemischen Gegner?
Professor Van Ess: Ich glaube nicht, dass diese These fundiert ist. Die Politik Xi Jinpings dient der Absicherung der Macht der Kommunistischen Partei in China, nicht aggressiveren außenpolitischen Zielen, als sie frühere Polititer der KP Ch vertreten hätten. Im südchinesischen Meer gibt es zwar Streit mit einigen Nachbarländern um einzelne Inseln, aber eigentlich geht es darum, dass die USA nach dem Zweiten Weltkrieg zu der Macht aufgestiegen sind, die die uneingeschränkte Kontrolle über den Pazifik ausgeübt hat. Diese Kontrolle ist in der Tat durch den wirtschaftlichen Aufstieg der VR China bedroht. Das gefällt den USA natürlich nicht, und auch nicht den Japanern, die vor China die wirtschaftliche Vormacht im asiatisch-pazifischen Raum gewesen sind.
Ein Beispiel für die geopolitische, nicht systemische Natur des Konflikts ist Okinawa. Dies ist eine amerikanische Militärbasis, die zwar bei den Bewohnern nicht sonderlich beliebt ist, aber gleichzeitig territoriale Ansprüche Japans absichert, die historisch nicht fundiert sind – sie sind ein Resultat des Kolonialismus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Hier prallen also unterschiedliche Sichtweisen aufeinander, die allerdings nicht so leicht mit dem Gerede vom „systemischen Gegner“ aus der Welt zu schaffen sind. Auch die anderen Konflikte sind geopolitisch bedingt, nicht systemisch, was bedeutet, dass auch andere Kräfte in China als die KP die Sichtweise der KP vertreten würden.
Was hinter der Null-Covid-Strategie wirklich steckt, ist sehr schwer zu beurteilen. Einerseits hat sie sicherlich wirklich damit zu tun, dass die KP große Angst davor hat, dass Covid das Potential haben könnte, sie aus dem Sattel zu heben, andererseits könnte man manchmal den Eindruck haben, dass Null-Covid auch betrieben wird, um zu experimentieren, wie gut China ohne die Welt auskommen kann, ohne dass etwas schief geht.
Global Review: Bei der Beurteilung der Zukunft Chinas gibt es ja die eher optimistische Fraktion, die meint China werde weiterhin wachsen, trotz einiger Rückschläge auch diese meistern, trotz Aufrüstung kein Interesse an einem Krieg haben, zumal auch keine Eile bezüglich der Vereinigung mit Taiwan haben. Die Zeithorizonte, die China als Weltmacht sehen samt Wiedervereinigung visieren da eher symbolische Jahre wie 2035 oder 2049 an. Die Peak Power- Theoretiker sind der Ansicht, dass China seinen Macht- und Witrschaftskraftzenith bald überschritten habe und aufgrund ideologischer, ökologischer, ökonomischer, feindlicher internationaler und demographischer Rahmenbedingungen bald absteigen, wie auch seine Bevölkerung schnell überaltern werde und bis 2050 sich auf 750 Millionen halbieren werde, , kein junger attraktiver Konsummarkt mehr sein würde, Fachkräftemangel bekommen niedrigere Wachstumsraten haben werde, ja vielleicht auch aufgrund des Klimawandels die Nordostebene mit ihre landwirtschaftlichen Anbauflächen und 400 Millionen Einwohnern unbewohnbar würde mit einhergehender Massenmigration innerhalb Chinas. Da die KP China und Xi dies wüssten, versuchten sie nun dies aussenpolitisch und nationalistisch zu kompensieren, was ein aggressiveres Verhalten und auch einen möglichen baldigen Taiwankrieg bedeuten würde, bevor sich für China das historische „window of opportunity schliesse. Was halte sie von der Peak Power- Theorie?
Professor Van Ess: Ich glaube auch nicht an die Peak-Power-Theorie. Auch Korea und Taiwan haben keinen Gipfel ihres Wachstums erreicht. Tatsächlich gibt es zwei Faktoren, die für die Entwicklung Chinas gefährlich sind. Der erste ist die Demographie, die hauptsächlich bedeutet, dass China keine Billigprodukte mehr fertigen kann. Das ist allerdings ein schon sehr lange anhaltender Trend, dem Korea und Taiwan genauso ausgesetzt gewesen sind. Für Japan gilt natürlich dasselbe. Dort hat es allerdings Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts einen „Gipfel“ gegeben, der mit der Immobilienblase zusammenhing. Ich schätze, dass der Kampf gegen die chinesische Immobilienblase, die unter Hu Jintao aufgepumpt wurde, genau deshalb im Fokus der chinesischen Politik steht. Die Frage, wie gut man da eine sanfte Landung hinbekommt, ist von großer Bedeutung für das Land. Der amerikanische Handelskrieg gegen China ist der zweite Faktor. Der – militärisch begründete – amerikanische Versuch, China von der Fähigkeit abzuschneiden, selbstständig hochwertige Industriegüter herzustellen, ist ein Riesenproblem für die Wirtschaft des Landes. Besonders der Chip-Sektor sorgt da ja für Schlagzeilen. Auch hier fragt sich, wie die Sache ausgehen wird. Das hat aber nichts mit einem natürlichen „Gipfel“ zu tun, sondern mit einem von der gegnerischen Seite angenommenen und zum Teil auch provozierten Gipfel. Die Frage ist, ob die amerikanische Strategie aufgehen wird. Natürlich kann der Schuss nach hinten losgehen, wenn die Chinesen genügend gut ausgebildete Fachkräfte haben, die aufgrund einer zunehmenden Asiatenfeindlichkeit in den USA der VR China loyal sind. Die Informatik-Abteilungen in vielen amerikanischen Universitäten sind ja fest in chinesischer Hand.
Das Klimaargument ist mir zu spekulativ. Ich habe schon in den 80er Jahren davon gehört, man überlege, die Hauptstadt von Peking nach Nanjing zu verlagern, da es im Norden kein Grundwasser mehr gebe. Das ist nie eingetreten, und ich würde solche Szenarien lieber den Anhängern der Letzten Generation überlassen.
Global Review: Andere Experten sind der Ansicht, dass China gerade wegen dieser Probleme versuche mittels der Neuen Seidenstrasse, Freihandelsabkommen wie RCEP eventuelle Wachstumsverluste zu kompensieren und neue Wachstumsmärkte zu schaffen, die seine Wirtschaftskraft trotz genannter negativer Faktoren zumindestens zu erhalten und somit auch lösen zu können? Doch China ist von der internationalen Kreislaufwirtschaft unter Deng nun zwur sogenannten dualen Kreislaufwitrschaft unter Xi übergegangen und auch in eine quasi- Kriegswirtschaft und einem „protracted war“ (Xi Jinping) angesichts des sinoamerikanischen Konflikts? Kann dieses Konzept, falls es denn eines ist, aufgehen?
Professor van Ess: Natürlich war die Neue Seidenstraße ein großes Infrastrukturprojekt, mit dem China sich einerseits Einfluss sichern wollte, andererseits aber auch die Wirtschaft in den beteiligten Ländern ankurbeln, damit diese ein Markt für chinesische Produkte und umgekehrt China ein Markt für diese Länder werden könnte. Davon erhoffte man sich Wachstum. Die Geschichte mit der quasi-Kriegswirtschaft halte ich für überzogen.
Global Review: Wie beurteilen Sie Chinas Rolle im Ukrainekrieg und sein Bündnis mit Russland? Ist Russland noch ein Partner auf Augenhöhe oder nach seinen Niedelragen in der Ukraine und Kherson inzwischen nicht ein Partner auf Hühneraugenhöhe? Zwar liefert es noch keine Waffen und hat sich auch gegen einen Einsatz von Nuklearwaffen ausgesprochen, aber ansonsten betont es immer wieder das eiserne Festhalten an dieser Achse? Einige wenige Experten wie etwa John Mearsheimer glaubten ja einige Zeit, dass China aus Sicht Russlands zu mächtig werde, es auch den Fernen Osten Russlands durch Chinabedroht sehe und dieses dann Richtung Westen oder zumindestens bei dem westlichen Konflikt mit China zu einer Neutralität bewegt werden könnte. Letzteres erhoffen sich nun wiederum einige westliche Experten von China, ja gar eine Vermittlerrolle i Ukrainekonflikt. Wie realistisch ist das. Vertreter der Systemtheorie halten dies ja aufgrund des autoritären Charakter beider Regime für ausgeschlossen.
Professor van Ess: Die Auffassung Mearsheimers hat wahrscheinlich der Politik Trumps zugrundegelegen, der eine Annäherung der USA an Russland und dieses aus der Verbindung mit China lösen wollte. Beide Länder haben eine lange gemeinsame Grenze. An dieser keine Probleme zu haben, ist für beide Länder extrem vorteilhaft. Insofern glaube ich, dass die Stimmen in Russland, die Angst vor Chinas Aufstieg haben (diese gibt es natürlich), nicht politikbestimmend sind. Weder die Ukraine noch die USA würden China als Vermittler im Ukraine-Konflikt akzeptieren, insofern bin ich nicht sehr optimistisch, was so eine Rolle anginge.
Global Review: Gibt es denn nach dem Xi-Biden-Treffen in Bali und der Wahlniederlage der DDP in Taiwan nun die Chance oder Anzeichen einer gewissen Entspannung zwischen den USA und China? Wie beurteilen Sie die Zeit vor und nach dem G20- Treffen, auch in Hinblick auf die Koreafrage, wo es ja nun wieder zu neuen Spannungen kommt, dieses sogar ICBMs testen wll, während die USA behaupten, dass China seine ICBMzahl auf 400 verdoppelt habe und bis 2030 auf 1000 erhöhen wolle, was die strategische nukleare Abschreckung und das Machtgleichgewicht gefährde.
Professor Van Ess: Es ist ja gut, dass Xi und Biden endlich mit einander gesprochen haben. Wie sehr das die Politik in beiden Ländern ändert, ist die Frage, aber die Demokraten in den USA müssen wirtschaftliche Erfolge erzielen, um bei die nächsten Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Das geht mit China besser als gegen es, auch wenn man mit harter Rhetorik gegen China natürlich innenpolitisch zu punkten versuchen kann.
Die Wahlniederlage der DPP ist ja in der westlichen Welt sogleich wortreich dem lokalpolitischen Charakter zugeschrieben worden, damit auch ja niemand auf die Idee kommen könnte, dass viele Taiwanesen nicht begeistert von der Unabhängigkeitsrhetorik ihrer Präsidentin sind. Der Besuch Pelosis auf Taiwan Anfang August dürfte Tsai Ing-wen massiv geschadet haben, denn nach meiner Einschätzung setzen die meisten Taiwanesen auf Koexistenz mit der VR China und sind für Provokationen nicht zu haben. Das Wahlergebnis könnte man also durchaus ein Signal zu einer gewissen Entspannung sein.
Die nordkoreanischen Raketen waren natürlich auch eine Antwort auf die amerikanisch-koreanischen Manöver. Wer wen provoziert, ist in der nordöstlichen Hemisphäre für einen militärpolitischen Laien wie mich nur schwer zu beurteilen. Auch in den USA gibt es natürlich ein Stimmengewirr, das nicht leicht aufzulösen ist. Ich würde annehmen, dass der Hinweis auf die ICBM aus der Ecke des amerikanischen Militärs kommt, das hofft, dass Biden die Containment-Strategie mit harten wirtschaftlichen Maßnahmen gegen China fortsetzt.
Global Review: Die deutsche Regierung hatte ja schon eine Indo-Pazifikstrategie verabschiedet, die Blaupause für die EU- Indo-Pazifikstrategie wure. Hauptgedanke ist Diversifizierung weg von China und Freihandelsabkommen mit der ASEAN und anderen asiatischen Staaten und sicherheitspolitisch engere Kopperation im Indopazifik. Die Beteiligung Chinas am Hamburger Hafen und der Scholzbesuch führten ja schon zu einer heftigen Debatte und Tauziehen bezüglich der China- Strategie der Bundesregierung, die Baerbock und Habeck 2023 vorstellen wollen. Scholz erster Besuch in Asien ging ja nach Japan, dann erst nach China und dann zusammen mit Habeck in die ASEANtsaaten. Die neue Devise heißt nicht. Decoupling, sondern nur noch, dass man sich von China nicht noch stärker abhängig machen will, sondern diversifizieren. „China plus“ wurde als neue Formel ausgegeben. Zugleich wurde jetzt aber bekannt, dass die Mitarbeiter Habecks im Wirtschaftsministerium bei der Chinastrategie von einer Annexion Taiwans bis spätestens 2027 ausgehen du sich dementsprechend orientieren wollen. Was erwarten sie von einer neuen Chinastrategie der Bundesregierung und wie beurteilen wollen sie den Scholzbesuch, der ja sogar von Biden gelobt wurde?
Professor van Ess: Die Frage ist, wer diese China-Strategie maßgeblich schreibt bzw. wer sich durchsetzt. Der erste Entwurf ist durchgestochen worden, manche sagen, von den Grünen, die damit Scholz nach seiner China-Reise ärgern wollten. Die Grünen (unter tatkräftiger Mithilfe der FDP) streuen natürlich auch die Schreckensszenarien bezüglich Taiwan, um damit die SPD unter Druck zu setzen. Natürlich wissen auch die Spezialisten der Grünen nicht mehr als andere Menschen darüber, wann die VR China versuchen könnte, Taiwan zu annektieren – und ob sie das gegenwärtig überhaupt vorhat. Bisher bin ich immer davon ausgegangen, dass sowohl die VR China als auch Taiwan am Status Quo interessiert sind, weil alles andere beiden Seiten schaden würde. Natürlich kann ich mich da täuschen. Aber Habecks Mitarbeiter können sich auch täuschen – diese Wahrscheinlichkeit ist sogar nicht ganz klein. Sie werden sich nicht wundern, wenn ich jetzt sage, dass mein Respekt vor Scholz deutlich gewachsen ist, nachdem er diese Reise angetreten hat.
Global Review: Nun scheint zum Handelsstreit und den Sanktionen gegen Russland und China sich auch noch ein Handelsstreit zwischen den USA und der EU anzubahnen aufgrund Bidens riesigem Inflationsbekämpfungspakets, dem nun auch ein Buy European Act samt Wiederentdeckung von Industriepolitik samt einhergehender staatlicher Investitionen als Gegenreaktion folgen soll. Macron verwendet recht drastische Worte bei seinem US- Besuch bei Biden.Er nannte, die US-Subventionen „super aggressiv“ ,zudem sie den Westen spalten würden. Er hatte die NATO ja auch schon Mal als „hirntot“ bezeichnet, bei AUKUS den französischen Botschafter in den USA zwischenzeitlich abgezogen. Davon war jetzt nichts mehr zu merken, aber scheinbar will er Druck machen. In Deutschland beginnt jetzt nach CETA wieder die Diskussion um Freihandelsabkommen mit den USA und dem Mercusor als Alternative zu RCEP, waswohl zur Diversifizierung und Wachstumsstrategie.gehüren dürfte , wobei das EU-ASEAN-Freihandelsabkommen und eines mit Indien noch nicht in Sicht sind, etwaige Vorhaben mit China vorerst auch eingefroren sind. Zumindestens würden bei CETA die internationalen Schiedsgerichte rausgenommen, um die Anti-TTIP-Gegner,die damals von Grünen, Gewerkschaften, SPD, Linker und NGOs immerhin eine Riesendemo von 250000Leuten zustandebrachten, zu besänftigen. Aber Kanada hat einen besseren Ruf, gilt nicht so als Raubtierkapitalismus als USA, zudem seit Trump. Glauben Sie, dass sich die Weltwirtschaft jetzt mehr in Handelsblöcke mit verstärktem Protektionismus gruppieren wird oder könnte es zu einer Revitalisierung des Freihandels und der Globalisierung kommen, wenngleich in angepasster Form?
Professor Van Ess : Auf jeden Fall gibt es sehr starke Kräfte, die diese Regruppierung in die alten Blöcke gerne vorantreiben würden. Die USA stehen dabei offenbar ganz vorne. Auch der Ukraine-Krieg führt ja dazu, dass wir nun genau das tun, was schon Donald Trump von uns wollte: Kauft Euer Gas in den USA ein und reiht Euch wieder besser in unseren Block ein, als diese eigenmächtigen Spielchen mit Russland und China zu treiben. Diese sind wirtschaftlich für Deutschland natürlich sinnvoll, die USA bleiben dabei aber außen vor. Die Frage ist aber, ob diese Politik wirklich funktionieren wird. Das Iphone wird zu 80 Prozent in China hergestellt. Dabei spielt die Firma Foxconn aus Taiwan und deren Produktionsstätten in Festlandchina eine entscheidende Rolle. Wollte man das alles wirklich entflechten, dann wird das ein extrem kostspieliger Prozess, für den man Inflation inkaufnehmen muss. Man mag den Versuch der USA, sich von TSMC in Phoenix eine eigene Chip-Produktion aufbauen zu lassen, bewundern, aber die Frage ist ja, ob so eine protektionistische Politik langfristig wirklich erfolgreich sein wird. Kann auch sein, dass man dafür in den USA die Steuern erhöhen muss; und das ist nicht beliebt.
Was TTIP angeht: Die Grünen sind jetzt an der Regierung, daher werden sie ihre alte Gegnerschaft zu TTIP sicherlich höchstens noch als Phantomschmerz ansehen. Sie werden solche Abkommen mit der „freien Welt“ sicherlich in Zukunft befürworten. Die Frage ist, wie langfristig die gegenwärtige „Zeitenwende“ tatsächlich ist, oder ob es nicht doch in zwei, drei Jahren, wenn der Ukraine-Krieg hoffentlich beendet oder eingefroren ist, herausstellen wird, dass die Konstruktion von politischen und wirtschaftlichen Blöcken doch niemandem so richtig dient.
Global Review: Die Grünen und die FDP betonen ja bei der Chinastrategie eher den systemischen Gegensatz und einen werteorientierten Ansatz. Wie sieht dies bei AFD, Linkspartei, CDU und CSU aus? Nehmen wir einmal an, es käme zu einer anderen Koalition, etwa schwarz-grün oder Jamaika oder schwarz-rot, würden sich da die Widersprüche bezüglich Chinastrategie nicht perpetuieren und in neuer Form auftreten?
Professor Van Ess: Nach meiner Wahrnehmung sind sowohl die CDU (weniger die CSU) als auch die AFD verhältnismäßig nah an den Positionen von Grünen und FDP, die Linkspartei natürlich nicht, aber die zählt im Moment auch nicht. Ich würde annehmen, dass die CDU unter Merz, der sich ja ein Atlantiker gibt, versuchen würde, in punkto China einen Schulterschluss mit Grünen und FDP herzustellen. Allerdings könnte ich mir auch vorstellen, dass sie damit ordentlich Ärger mit ihrem Wirtschaftsflügel bekäme.
Global Review: Etliche Medien sahen ja nun bei den Coronaprotesten das Potential eines regime changes, Sturzes Xi oder gar gleich der KP China? Wie beurteilen sie die Massenproteste und glauben sie es gibt im Westen noch Kreise, die auf einen Regime change setzen nach den Erfahrungen des Arabischen Frühling und des Tiananmen 1989? Oder geht es mehr um Containment oder Coopetition?
Professor van Ess: Die KP hat nun offenbar erst einmal etwas Druck aus dem Kessel abgelassen. Insofern denke ich nicht, dass in China ein Regimewechsel ansteht. Eventuell könnte Xi stürzen (und ich gehe auch davon nicht aus), aber das hieße nicht, dass die KP stürzt. Es gibt bestimmt Kräfte im Westen, die auf Regime Wechsel setzen. Ob das aber gut für uns wäre, ist die andere Frage. Sollte es in China wirtschaftlich massiv bergabgehen – und das könnte das Ergebnis eines Regime-Changes sein –, dann gäbe es die nächste große Flüchtlingswelle.
Global Review: Was erwarten Sie mittelfristig bei der US-amerikanischen Chinapolitik. Wird es zu einer Entspannung kommen oder sich der Konflikt noch steigern, sei es unter Biden oder einem wiedergewählten Trump oder Ron De Santis oder Mike Pompeo oder anderem US- Republiknischen Präsidenten? Was glauben Sie müsste China tun, um mit den USA wieder zu einer Art friedlichen Koexistenz zu kommen?
Professor Van Ess: Ich sehe in dieser Frage keine großen Unterschiede zwischen den einzelnen Politikern, die Sie da aufzählen. Ich denke, dass die Demokraten unter Biden bis Ende 2023 nicht weiter an der Schraube drehen werden (wobei die schon ganz schön stramm angezogen ist), dann ab 2024 aber rhetorisch für den Präsidentschaftswahlkampf aufgerüstet werden wird. China könnte natürlich Bekenntnisse zum Status Quo mit Taiwan abgeben. Das würde bestimmt helfen. Außerdem müsste es versuchen, die Handelsbilanzüberschüsse mit den USA zu reduzieren und dies auch lautstark verkünden.
Global Review: Mal abgesehen vom Zeitpunkt einer möglichen Eroberung Taiwans, so werden doch vor allem militärische Optionen durchgespielt, die Stärke der VBA unterschiedlich eingeschätzt, die Art der möglichen Kriegsführung von Seeblockade bis zum Pazifikkrieg, die vorhandene oder nicht vorhandene Zahl von Amphibienfahrzeugen, Logistik, Raketen. Kriegsschiffen, Rüstungstechnologie, Vergleiche mit dem US- Militär, ja umgekehrt hatte der chinesische Militärstratege Chen Guodong auch mal in Global Review seine Eroberungsphantasien von Taiwan erörtert, die in Bomber- Harris- und Douhet-mässigen Kurzstreckenraketenterrorattacken auf Taiwan mündeten, die den Verteidigungswillen der Taiwanesen brechen würde und sie zum Einlenken und Kapitulation zwingen werde. Dennoch bleibt ein unkt ziemlich unterbeleuchtet: Dass die KP China mittels ihrer Einheitsfront und Infiltierung der taiwanesischen Gesellschaft, Militärs und Geheimdienste eine Art innere 5. Kolonne schafft, die wie bei Sun Tze in der „Kunst des Krieges“ als Einsatz von 8 Tyoen von Spionen auf eine Eroberung nicht von aussen, sondern von innen ohne Krieg abzielt—vielleicht mit etwas Druck von aussen, um dann mittels Spionen und Sympathisanten eine Kapitulation von innen zu bewirken oder wie es zigmal in der chinesischen Geschichte vorgekommen ist, dass innere Subversionskräfte das Stadttor dem Feind selbst geöffnet haben. Der Gesetzesentwurf der DDP für Todesstrafe bei Militärspionage und Säuberung des taiwanesischen Geheimdienstes und Militärs von chinesischen Spionen ist ja Ausdruck dessen, zumal sich ein ehemaliger KMTnaher Militär aufgeregt habe, dass es innerhalb der KMT und deren Sympathisanten im Militär offen Diskussionen gebe, ob man einen Krieg mit Taiwan und den 1992er Konsens noch wolle oder lieber sich mit China unter dessen Bedingungen vereinigen und kapitulieren solle, bevor es zu einem Krieg käme. Interessanterweise hat US- Generalstabschef Milley auch behauptet, dass er mit seinen chinesischen Kollegen beim Amtsantritt Trumps in Kontakt stand und diesen versichert habe, dass er im dem Fall, dass Trump in einem letzten Verzweiflungsakt noch einen sinoamerikanischen Krieg anzetteln wolle, dessen Befehle nicht ausführen würde. Für wie wahrscheinlich halten sie es, dass die KP China diese Sun Tze-Variante nutzen könnte und wie loyal und geschlossen ist denn inm Falle eines sinoamerikanischen Kriegs oder dessen Verhinderung dann taiwanesische Militär, KMT und US- Militär noch? Könnte die Wiedervereinigung vielleicht mittels der Spionage doch noch friedlich und ohne Krieg stattfinden?
Professor Van Ess: Ich bin nicht wirklich kompetent, um auf diese Frage zu antworten, aber wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht recht an eine chinesische Unterwanderung Taiwans. Das funktioniert nicht. Es gibt auch in Taiwan zu viele Patrioten. Das interessante ist ja, dass die taiwanesische Wirtschaft eigentlich völlig abhängig vom Handel mit der VR China ist und der Wohlstand Taiwans auf dem Austausch mit China beruht, dass aber trotzdem die junge Generation auf Taiwan mit der VR China nichts zu tun haben möchte. Dieses Sentiment scheint mir so stark zu sein, dass ich glaube, dass Unterwanderungsversuche von chinesischer Seite aus zum Scheitern verurteilt sind, so paradox das auch scheinen mag.
Global Review: Wie bewerten Sie die Chinaberichterstattung in deutschen Medien. Während die FAZ noch eine eigene Chinakorrespondentin wie Friederike Böge hat, haben die Yippen Mediagruppe um den Münchner Merkur ihre Chinaberichterstattung weitgehend an deutsche Übersetzungen der US-Zeitschrift Foreign Policy und ChinaTable outgesourct, der Focus deutsche Übersetzungen von The Economist und einen Menschen namens „Chinaversteher“ etabliert. Bei ARD und ZDF scheint man auch keine prominenten Chinakorrespondenten zu haben, ARD Bildung Alpha hat Dr. Saskja Hieber als Ob bstitution, BILD und Springer wiederum ist sehr parteiisch, zumal sie ja damals auch Joshua Wong nach Berlin holten, um Hongkong zur neuen Frontstadt in einem Neuen Kalten Krieg mit China wie dazumal Berlin auszurufen. Wie empfinden Sie die Chinaberichterstattung, auf was sollte man beachten und was sollte man konsumieren, wenn man sich ein realistisches Chinabild machen will?
Professor Van Ess: Tja, das ist tatsächlich ein trauriges Kapitel. Echte China-Kompetenz gibt es in deutschen Zeitungen kaum, und dass sich der Focus einen China-Versteher leistet, der von China wirklich nichts zu verstehen scheint, sondern die Washingtoner Perspektive vertritt (er ist ja da bei einem Think-Tank angesiedelt), ist wirklich ein Armutszeugnis. Die NZZ hat immerhin mehr China-Berichterstattung, die allerdings auch recht voreingenommen berichtet. China Table mag für Personen, die sich nicht professionell mit China beschäftigen und die meisten Dinge auch anders mitbekommen, durchaus interessant sein. Ich denke, man sollte einfach die Zeitungen lesen, die einem auch sonst behagen. Da wird man die wichtigsten Nachrichten zu China irgendwie schon zu lesen bekommen. Dann muss man einfach die Werturteile des deutschen (und anderen westlichen Journalismus) abziehen und darf sich nicht von den Meinungen beeinflussen lassen, die zwischen den Zeilen immer stehen. Einfach nur die Nachrichten rezipieren und die Ideologie wegstreichen! Ich weiß, das ist nicht ganz einfach, aber das ist aus meiner Sicht die einzige Möglichkeit.