Interview mit einem der Ex-Putinberater Dr. Alexander Rahr:“Der Ukraine-Krieg ist nur ein Mosaikstein eines viel größeren Konfliktes, in den in den 202Oer Jahren die gesamte Welt hineingerissen werden könnte“

Interview mit einem der Ex-Putinberater Dr. Alexander Rahr:“Der Ukraine-Krieg ist nur ein Mosaikstein eines viel größeren Konfliktes, in den in den 202Oer Jahren die gesamte Welt hineingerissen werden könnte“

Global Review hatte erneut die Ehre, ein Interview mit Dr. Alexander Rahr, Russland-Experte, Politikwissenschaftler, Mitglied des Valdai-Clubs und ein ehemaliger Putin-Berater und Berater von Gazprom für die EU, über die Ukrainekrieg und damit verbundene Themen zu führen. Alexander Rahr ist Honorarprofessor am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen und Business School. Er studierte an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, arbeitete von 1980-1994 für das Forschungsinstitut für Freies Europa, das Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Er war Berater der RAND Corporation, USA. Von 1994 bis 2012 leitete er das Russisch-Eurasische Zentrum bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Anschließend beriet er die Wintershall Holding und später Gazprom Brüssel in europäischen Angelegenheiten. Darüber hinaus war er häufig als Gesprächspartner bei Putin zu Gast. Seit 2012 wat er Programmdirektor des Deutsch-Russischen Forums. Er war Mitglied des inzwischen aufgelösten Petersburger Dialogs, des Valdai-Clubs, des Yalta European Strategy Network und Autor mehrerer Bücher über Russland.

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Dr. Rahr bei einem Treffen mit Putin

Dr. Rahrs Ruf hat jedoch seit der russischen Krim-Invasion gelitten, wie ein Youtube-Video einer ukrainischen Propagandaorganisation Underdog Ukrainians (Logo: Pitbull mit Stahlhelm und einem Knochen im Maul) deutlich macht.

Global Review: Herr Rahr, wir hatten ja im ersten Interview mit Ihnen die Frage gestellt, ob Putins Ziele und die der USA förderlich oder gegensätzlich für die europäische Friedensordnung seien und wir haben auch schon aufgrund der Grundkonstellation des Konflikt einen Krieg befürchtet. Wir beide hofften damals noch auf eine gegenseitige Entspannung, wenn man beide Interessen ausgleicht, vielleicht auch mit etwas weniger imperialen Gebärden und umgekehrt regime change- Werteliberalismus. Aber die jetzige Entwicklung zeigt ja, dass es dazu nicht kam- trotz unserer Bemühungen. Hier nochmals zitiert die erste Frage aus unserem ersten Interview mit Ihnen:

 „Global Review: Herr Rahr, in seiner Bundestagsrede 2001 umriss Putin neben der Schaffung einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok auch sehr grundsätzlich seine Vorstellungen von dem Verhältnis der EU zu Russland: „

Niemand bezweifelt den grossen Wert Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa einen Ruf als mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Bodenschätzen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotentialen Russlands vereinigen wird.“

Das klingt danach, als ob Putin damit rechnete, dass sich die EU mittel- und langfristig aus der NATO lösen und mit Russland eine europäische Sicherheitsarchitektur, vielleicht einen eurasischen Block gründen könnte, vor dem Brzezinski in seinem Buch „Chessboard“ ausdrücklich warnte. Gorbatschow hatte die Idee eines „gemeinsamen europäischen Hauses“, die Linkspartei befürwortete eine „europäische Sicherheitsordnung“, AfD- Vorsitzender Gauland berief sich auf Bismarcks Russlandpolitik, befürwortete zwar noch eine deutsche NATO-Mitgliedschaft, aber nur mit dem besonderen Ziel, mit Russland zu einer europäischen Friedensordnung und -Sicherheitsarchitektur zu kommen. Wie realistisch sind diese Vorschläge und werden sie von den USA, der NATO und den Transatlantikern nicht als Bedrohung gesehen, die vielleicht sogar in einem Krieg münden könnte?“

Wir fragten Sie weiter, ob eine NATO- Erweiterung um die Ukraine, Georgien und Belarus wirklich eine militärische Bedrohung für Moskau war, da der Einmarsch des ersten NATO-Soldaten aufs russische Territorium ja wohl mit einer umgehenden und massiven nuklearen russischen Reaktion beantwortet werden würde. Geht es im Kern nicht darum, welches Russland man haben will: Eine nukleare Atommacht, die vielleicht demokratisch oder auch keine Demokratie ist, aber keine anderen Staaten angreifen würde, vielleicht sich auch neutral in der sinoamerikanischen Auseinandersetzung zurückhalten würde, statt wie Putin und XI auf eine multipolare Welt zu setzen. In dieser multipolaren Welt wollen Russland und China die USA aus Europa und dem Indo-Pazifik/Asien Raum herausdrängen und eine neue Weltordnung unter ihrem Gusto schaffen. Ben Hodges glaubt, dass die Krim 2024 zurückerobert werden wird, der Donbas andienen Ukraine zurückgeht und dann Putin fällt. Der US-General hat die US-Erwartungen bezüglich Russlands uns so geschildert:

„RUSSIA SHOULD LEARN TO LIVE WITHIN ITS OWN BORDERS IAW THE UN CHARTER AND RESPECT THE BORDERS OF OTHER NATIONS.  HOLDING RUSSIA ACCOUNTABLE FOR ITS WAR CRIMES AND OTHER VIOLATIONS AGAINST THE INTERNATIONAL RULES-BASED ORDER. I THINK THE WEST IS GOING TO LOOK MUCH MORE STRATEGICALLY TOWARDS THE GREATER BLACK SEA REGION…THE US JUST PASSED A LAW REQUIRING IT TO DEVELOP A STRATEGY FOR THE REGION…AND THAT WOULD INCLUDE UKRAINE OF COURSE.  I WANT TO SEE UKRAINE JOIN NATO, AND THE EU, BUT THE PRIORITY SHOULD BE FOR THE US TO STRENGTHEN OUR BILATERAL RELATIONSHIP WITH UKRAINE, TO NORMALIZE IT, IN TERMS OF TRADE, DIPLOMACY, ECONOMIC INVESTMENT ETC…NOT JUST MILITARY.  I’M NOT IN FAVOR OF A NEW IRON CURTAIN…I’M IN FAVOR OF ALL OF US FULFILLING OUR OBLIGATIONS UNDER INTERNATIONAL LAW AND TREATIES AND PROTOCOLS.  AND I’M IN FAVOR OF ALL FREE NATIONS MAKING THEIR OWN DECISIONS ABOUT THEIR FUTURE VS THE BIG COUNTRIES MAKING THOSE DECISIONS FOR THEM.”

Jetzt die Frage an Sie: Unter Putin ist das Gesagte wohl nicht annehmbar, aber was halten Sie von diesen Forderungen? Könnte es ein Russland geben, dass sich aus dem sinoamerikanischen Konflikt quasi raushält, neue Beziehungen zu Europa aufbaut und wer könnte das machen? Ist ein Russland denkbar, das den Ukrainekrieg beendet, auch Reparationen bezahlt, vielleicht auch in einem gemeinsamen Wiederaufbauprogramm, und danach Zeichen des guten Willens setzt und einfach mal von seinen imperialen Ambitionen absieht?

Alexander Rahr: Ich bedanke mich für die erneute Möglichkeit, mit Global Review ein interessantes und vor allem strategisches Gespräch zu führen. Eingangs distanziere ich mich eindeutig von dem Krieg in der Ukraine:  er ist schrecklich, es sterben Tausende von Soldaten, viele junge Menschen im besten Lebensalter. Der Ukraine-Konflikt hätte auf diplomatischer Ebene, über das Minsker Abkommen, gelöst werden sollen. Putin hätte beharrlicher Diplomatie betreuen sollen, aber auch den Westen trifft eine Mitschuld. Er hätte nach der Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor 15 Jahren auf russische Sicherheitsbedenken bzw. Interessen stärker eingehen müssen. Eine gemeinsame Friedensordnung in Europa war im Bereich des Möglichen, sie wurde verschlafen. Doch wie hätte man völlig unterschiedliche Interessen unter einen Hut bringen können?  Was verlangte Russland: ein Mitspracherecht in der europäischen Sicherheitsarchitektur, als Großmacht im Konzert europäischer Mächte. Was verlangte der Westen? Dass Russland auf seine Grossmachtambitionen für immer verzichtete; die Verhinderung eines neuen russischen Imperiums im Osten Europas wurde zum Hauptbestandteil der europäischen Sicherheitsordnung. Jetzt suchen beide Seiten den Konflikt über Gewalt zu lösen. Russland versucht Europa zu spalten und bekämpft den liberalen Wertekanon Europas. Der Westen sieht nur ein Ziel: die Kapitulation Russlands. Die ukrainischen und russischen Soldaten an der Front sind größtenteils nicht mehr in der Sowjetunion geboren, müssen aber – das betrifft die Russen – für die gewaltsame Wiederauferstehung des 1991 untergegangenen Imperiums sterben. Und niemand fragt die einfachen Ukrainer, ob sie wirklich bereit sind, für Territorien, in denen eine Bevölkerung mit einer pro-russischen Mentalität lebte, tatsächlich mit aller Gewalt wieder dem ukrainischen Staat einverleibt werden sollten. Niemand, den ich kenne, hat wohl diesen fürchterlichen Krieg vorhergesagt. Jetzt, ein Jahr danach, denke ich, dass die Entscheidung in die Ukraine einzufallen, einzig und alleine im Charakterzug des russischen Präsidenten zu suchen ist. Er fühlte sich vom Westen abgewiesen, er sah Russland als Großmacht durch den Westen ständig gedemütigt, er überschätze aber die wirtschaftliche und militärische Macht seines Reiches. Aber ich bin hier, um ihre Anfragen zu beantworten und nicht über das Geschehene zu lamentieren. Und ihre Fragen haben es in sich. Falls Putin nach 2024 an der Macht bleibt, rechne ich mit einem länger andauernden neuen Kalten Krieg. Neurussland in der Ostukraine und das Azowsche Meer werden zu einem neuen Nordkorea, von der Außenwelt abgeriegelt, aber von Russland wieder wirtschaftlich aufgebaut. Vergessen wir nicht: in dieser besagten Region lagern 40 Prozent der gesamten ukrainischen Bodenschätze. Schon deshalb wird Russland dieses Territorium nicht mehr hergeben. Die Ukraine wird zu einem Protektorat der EU werden. Die Ukraine wird Teil des Westens, schneller als die Westbalkanstaaten. Das wird Europa eine Unmenge an Geld kosten, aber das ist der Weg, wie die Ukraine für den wohl endgültigen Verlust der Krim und des Donbas kompensiert werden kann. Vielleicht wird die Ukraine mit der Zeit zu einem Südkorea. Brüssel wird einen Marschal-Plan für die Ukraine aufsetzen, westliche Unternehmen werden den ukrainischen Markt besiedeln. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft, 70 Jahre seiner Tätigkeit auf Russland fokussiert, wird sich der Belange des ukrainischen Wiederaufbaus widmen. Brüssel muss allerdings dafür sorgen, dass die Ukraine sich nach dem Krieg reformiert, liberalisiert und demokratisiert, vor allem, was das Rechtssystem und die alte Oligarchenherrschaft betrifft. Aus heutiger Sicht sehe ich in diesem fürchterlichen Konflikt, der die Zeitenwende eingeläutet hat, nur zwei Gewinner: die USA und China, die ihren Einfluss in der Weltordnung ausbauen konnten. Russland, die EU, der Mittlere Osten, Afrika – das sind alles momentan die Verlierer, weil sie als Folge des Konflikts, wirtschaftlich geschwächt werden. Russland verliert Europa als traditionellen Modernisierungspartner, Europa wird die eigene Rohstoffarmut – und Abhängigkeit schmerzlich zu spüren bekommen, in der arabischen Welt und Afrika wird es durch das Ende der Globalisierung und der Schaffung neuer egoistischer „Regionaler Wirtschaftsblocks“ zu größeren Krisen kommen. Von dort werden massenweise Arbeitslose, hungernde Menschen nach Norden flüchten. Aber drehen wir mal den Spieß um. Spielen wir eine andere Option durch. Stellen wir uns vor, im Kreml gewinnen pragmatische Kräfte die Oberhand über die Nationalisten. Man wird sagen: wir dürfen Europa niemals verlieren, denn Russland ist ein unverrückbarer Teil Europas. Allein die Energieinfrastruktur nach Westen hat Russland Milliarden gekostet, sie darf nicht einfach über Nacht entsorgt werden. Die Ostseepipelines müssen wieder hergestellt werden. Moskau wird anfangen, China zu misstrauen, weil Peking seine ureigene Agenda fährt, versprochene Investitionen in Russland nicht tätigt, Öl und Gas für Dumpingpreise ortet und wenig Rücksicht auf die globalen russischen Interessen nimmt, wie es Putin eingangs erhofft hatte. Man wird der Wirtschaftsglobalisierung, von der Russland nach der Wende 1991 profitiert hat, indem es in den internationalen Handel eingebunden wurde, nachweinen. Man wird es immer schwerer finden, unter dem Sanktionsdruck des Westens zu leben. Die jüngere Generation gebildeter Russen will sich weiter als Weltbürger betrachten, wie in den vergangenen 20 Jahren, wo man überall auf der Welt hinfahren, heiraten und studieren konnte. Warum sollen künftige Russen in einer Art Nordkorea leben wollen? Ich bin sicher, auch in Russland, nicht nur bei uns im Westen, hoffen viele Menschen auf ein baldiges Ende des Krieges. Obwohl man in Russland auch eine breite patriotisch-nationalistische Grundstimmung beobachten kann, gepaart mit der Zustimmung für Putin und den Krieg in der Ukraine. 

Global Review: Die Frage ist auch: Eine europäische oder weltpolitische Friedensordnung mit oder ohne Russland. Und welchem Russland. Es gibt da im wesentlichen zwei Fraktionen: Die einen sagen, dass Russland noch sich zum Besseren entwickeln könne und dann auch Teil einer neuen europäischen Friedensordnung oder gar Weltordnung werden konne. Die anderen sagen, der russische wertefreie und undemokratische Autoritarismus und Imperialismus ist eine Konstante in den russischen Eliten und auch Grossteilen der Bevölkerung, unausrottbar, nicht wandelbar, zumal man den Imperialismus ja schon in den 90ern versuchte zu zähmen – ohne Erfolg. Selbst ein Henry Kissinger sprach immer vom imperialen Russland, obgleich er ja jetzt in dem Ukrainekrieg eine sehr entgegenkommende Position einnimmt. Aber hat Russland dieses imperiale Quasigen, das nicht ausgerottet werden könne, da keine US- Besatzungs- und Reeeductaionmacht dies wie bei den Deutschen nach 1945 einleiten könnte, sondern wir ein neues Weimar, vielleicht erst mit einer brüchigen Demokratie und dann wieder imperialistischer und autoritärer Ausrichtung sehen werden. Von daher die Logik: No second try, no second Jelzin, Nawalny und Khodorkowsky oder auch jegliche andere Option hoffnungslos oder nur ein kurzes absehbares Intermezzo wie Jelzin und neues Weimar, daher  braucht man eine europäische Friedensordnung und auch Weltordnung ohne Russland, Isolation und militärische Abschreckung aufgrund dieser angenommenen Unverbesserlichkeit. Wie sehen Sie das, zumal Sie ja auch meinten, der russische Wertekonservatismus sei dem Werteliberalismus des Westens entgegengesetzt und man solle sich auf realpolitische Interessen einigen? Aber was würde das konkret bedeuten?

Alexander Rahr: Jahrelang werde ich in Deutschland als Putin-Versteher verschrien, weil, ich die innere Sachlage in Russland nüchtern und realpolitisch zu erklären versuchte. Man lud mich in Talkshows ein, nicht damit ich die russische Sichtweise propagiere, sondern sie erkläre und verständlich beschreibe. Ich habe immer wissenschaftlich fundiert argumentiert, doch heute will man das alles nicht hören. Eines steht für mich fest: der Westen kann Russland von außen nicht verändern, auch nicht bezwingen. Eine Niederschlagung Russlands durch den Westen, wie die Niederlage Deutschlands 1945, die übrigens ohne den Sieg der Sowjetunion über Hitler nicht möglich gewesen wäre, ist unrealistisch. Die Veränderungen in Russland können nur durch das russische Volk erfolgen. Putin hat es heute allerdings geschafft, das russische Volk für seinen Krieg einzunehmen. Über die Hälfte der Russen unterstützt den Krieg, nicht etwa, weil es ukrainisches Territorium erobern möchte, sondern aus dem Glauben heraus, dass sich der kollektive Westen gegen Russland verschworen hat und sich Russland wehren muss. Für viele Russen ist der Krieg kein Angriffskrieg, sondern genau umgekehrt. Die Russen sind außer sich, dass gerade Deutschland, das 1941 Russland überfallen hat, Panzer an die Ukraine liefert, die russische Soldaten töten. Im Kreml sagt man, Deutschland, das eine besondere historische Verantwortung gegenüber Russland besitzt, hätte sich in der Ukraine heraushalten sollen. Dass Russland die Ukraine überfallen hat und die ukrainische Bevölkerung seit einem Jahr bombardiert, wird in Russland kaum so gesehen. Die ukrainische Führung habe die russischen Minderheiten im Osten jahrelang unterdrückt, heißt es, und müsse nun zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem gehören die Ostgebiete der Ukraine historisch zu Russland; die eigentliche Ukraine Istaufkommen den Westteil des Landes beschränkt. Der Westen habe den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 initiiert und müsse dafür ebenfalls zur Rechenschaft gezogen werden. Die russischen Eliten sind euphorisch, dass durch den Krieg endlich die Schmach des verlorenen Imperiums ausradiert werden kann. Die Ukraine, so heißt es, sei russisches Einflussgebiet immer gewesen und der Westen habe dort nichts zu suchen. Sie sehen – der Konflikt ist real, unerbittlich, unlösbar. Einer wird verlieren müssen – entweder Russland oder der Westen. Jede der beiden Seiten ist heute vom eigenen Sieg überzeugt. Um konkret auf ihre vielen zusätzlichen Fragen zu antworten: ja, der Westen wird sich wohl mit Russland arrangieren müssen, welches eine eigene Einflusszone für Sicherheit in einer europäischen Sicherheitsarchitektur beanspruchen wird. Oder der Westen wird Grosse Summen für eine Isolation Russlands, für eine Eindämmung und für Aufrüstung gegen Russland ausgeben müssen. Ein Europa gegen Russland – was heißt das konkret?  Werden wir alle im permanenten Kriegszustand leben? Die europäischen Bevölkerungen werden dadurch in Mitleidenschaft gezogen, kaum einer wagt heute zu sagen, wie teuer ein neuer Kalter Krieg werden kann. Moskau hofft, dass sich Europa im Sinne Russlands ändern wird, dass die Staaten Europas zur nationalen Eigenstaatlichkeit zurückfinden und die Dominanz der USA abschütteln. Allerdings wird das ein Europa werden, wo starke Staaten wieder über schwache herrschen. Diesen historischen Rückschritt wird sich Europa nicht leisten können. Bleibt die Frage, was wird dann aus Russland: kann es die ewige Konfrontation, ja Eskalation mit dem Westen überhaupt überstehen? Richtet sich da Russland nicht finanziell zu Grunde?  In Moskau sieht man sich an der Seite des Guten gegen das Böse. Der Ukraine-Krieg wird bald zum dritten Vaterländischen „heiligen“ Krieg erkoren. Den diabolischen Postmodernismus des Westens würden die europäischen Völker irgendwann einmal abstreifen, sagt man in Russland, und zu den wahren abendländisch-christlichen Werten zurückkehren. Die europäischen Eliten denken entgegengesetzt, wie Sie es als Interviewer formuliert haben: Russland muss in der Ukraine besiegt werden, damit es aufhört, Europa Schaden zuzufügen. Ich muss mich wiederholen. Die europäischen Eliten sind bereit, dafür einen längeren Krieg mit Russland – bis zur Kapitulation und einem Regime Change in Moskau – in Kauf zu nehmen. Das ist die nüchterne Sachlage, ich hoffe, ich war kurzweilig. 

Global Review: Gehen wir mal die Optionen durch: Zum einen ist da die Hoffnung, dass ein Kudrin oder ein Dmitri Patruschew, Sohn des Chefs der Silowiki, an die Macht kommen. Sogenannte Vertreter des Resource Empire wie Sie oder Patruschew mittels seiner Funktionen bei Gazprombank und Agrobank genannt werden könnten. Aber würde dies die westlichen Forderungen nach einem Bruch mit dem Resource Empire und der Silowikiherrschaft genügen, oder nicht als vorgeschobenes ziviles Feigenblatt gesehen werden? Nawalny scheint bisher nur die Korruption anzuprangern und sich immer noch an dem desaströsen Wirtschaftsprogram der Jelzinzeit zu orientieren und hat nichts anderes bisher verlauten lassen. Khodorkowsky ist für eine mehr zentralstaatliche Lösung, die aber die von Karaganov erhofften Ost- und ländlichen Gebietsgewinne aufgibt, mehr urbanisiert und auch keine Industrialisierung ala China will, sondern ein „leapfroggen“, das Russland aus einem rückständigen Resource Empire wie Ruanda in eine Hightech- Nation und IT-Gesellschaft springen lässt. Insgesamt keine glorreichen Ausblicke für Russland – scheinbar welche Option man auch nimmt. Welche Optionen gibt es noch und welche würden Sie empfehlen oder für andenkbar halten?

Alexander Rahr: Russland wird stets ein Energie- und Ressourcen-Imperium bleiben, seit Iwan dem Schrecklichen beliefert Russland Europa mit Rohstoffen. Das dauert jetzt schon 500 Jahre und wird sich kaum ändern. Es sei denn, der Westen zerstört alle diese Handelsverbindungen und sucht sich neue Rohstofflieferanten in den USA, Kanada und Australien. Russland wird aber deswegen nicht arm werden, es wird seine Energieträger und Bodenschätze nach Asien verkaufen. Die geoökonomische Zeitenwende wird real, die Welt ordnet sich neu, Asien und Europa werden zu Konkurrenten, die europäischen Abhängigkeiten von Amerika nehmen zu, USA und EU errichten eine Freihandelszone, Demokratien kämpfen gegen autoritäre Staaten. Das ist die Welt von morgen. Das russische Staatswesen ist heute allerdings stabil. Die Sanktionen schaden Russland vorerst wenig. Die Silowiki bauen den Ordnungsstaat auf und bestimmen die Innenpolitik. Aber die Regierung bleibt unter der Kontrolle der Wirtschaftsliberalen, die gegen eine protektionistische Wirtschaft sind. Gemeinsam versuchen sie den Umbau von einem rückständigen Ressouce-Imperium zu einem fortschrittlichen alles selbst produzierenden Land in kürzester Zeit zu bewerkstelligen. Russland will die Sanktionen des Westens dazu nutzen, eine Eigenproduktion aufzubauen. Leicht wird dieses Ziel nicht zu erreichen sein, angesichts der grassierenden Korruption in den obersten Etagen der Wirtschaft. Aber hat Russland eine andere Wahl? Es könnte höchstens zur Tankstelle Chinas werden. Um seine Wirtschaft zu modernisieren, benötig Russland humanes Kapital, Eigeninitiative seines Mittelstandes, den radikalen Abbau von Bürokratie und ausländische Investitionen samt Kapital. Werden Chinesen, Inder, Türken und Araber helfen? Mit den jetzt an der Macht befindlichen Oligarchen und Silowiki wird dieses Unterfangen nicht gelingen. Eine Umschaltung auf Kriegswirtschaft kann kurzzeitige Erfolge bringen, ist langfristig aber Gift für die Marktwirtschaft. Eine Rückkehr zum Kommunismus und Planwirtschaft sehe ich in Russland nicht. Ich setze übrigens große Stücke auf den jetzigen Premier Mischustin, auf die jungen Gouverneure in den vielen Provinzen. Ernste Bewerber für künftige Machtpositionen sind der oben genannte Landwirtschaftsminister Dmitri Patruschew und der Gouverneur von Tula, Alexei Djumin. Beide stehen Putin nahe und werden die Leitung der Silowiki-Fraktion übernehmen. Wir werden sicherlich im Laufe des ausführlichen Interviews auf diese Personen zurückkommen. 

Global Review: Ist die russische Opposition und Exilopposition überhaupt bereit, ein demokratisches und stabiles Russland zu organiseren, da sie sich ja bisher nur auf die Parole „Putin weg!“ oder bestenfalls „Keinen Wagner oder Kadyrow“ einigen kann, aber bisher noch keine Vision Russland 2030 als eigenes Programm hervorgebracht hat. Hier noch dazu unsere GR- Idee einer Vision 2030 Russland

.https://www.global-review.info/2022/05/18/vision-russia-2030/ 

Was halten Sie davon?

Alexander Rahr: In der genannten Global Review Analyse steht das Wesentliche drin. Ich selbst bin bekanntlich in anti-bolschewistischen russischen Emigrantenkreisen in Frankfurt und München aufgewachsen, habe selbst beim US-Sender Radio Liberty gearbeitet. Ich kannte und kenne die verschiedenen Ebenen der russischen Diaspora nicht nur vom Hörensagen. Die Emigration war stets vereint in der Ablehnung des Regimes in Moskau. Was aber die Programmatik für künftige Politik betraf, gab es stets Riesenunterschiede. Heute steht die Exilopposition für das Ende des Putin- Regimes, aber eine Organisation, wie die der Bolschewiken im Exil vor 1917 oder der Weissgardisten in Westeuropa im Kalten Krieg sehe ich weit und breit nicht. Zunächst sind die Exilrussen untereinander in der Machtfrage heillos zerstritten. Wer von ihnen soll künftig Präsident werden – Nawalny, Chodorkowski, einer der flüchtigen Oligarchen? Es gibt unter den heutigen Exilrussen viele gute Publizisten, Künstler, Wissenschaftler – aber keinen außergewöhnlichen strategischen Kopf. Mich überrascht das keineswegs, denn diese Entwicklung erinnert mich zu sehr an die Ohnmacht der vorangegangenen Exilrussen. Alle sind aufeinander neidisch, es herrscht ein Jahrmarkt der Eitelkeiten, vor allem kämpft jeder für die eigene Finanzierung aus dem Westen. Die früheren Emigranten verteilten gerne Posten in einer imaginären künftigen Regierung, hatten aber kein Konzept und keine Vision für ihr Heimatland. Und Eines darf man nicht vergessen. In der breiten russischen Bevölkerung zählen Exilrussen, die vom Ausland Angriffe auf ihr Heimatland starten, als Verräter. General Wlassow, der sich im Zweiten Weltkrieg Hitler andienen wollte, war in den Augen der Russen so ein Verräter. 

Global Review: Könnte Trump einen „Deal“ mit Putin machen? Oder ein De Santis, Ted Cruz, oder anderer America First Republican?  Etwa in der Art: Du bekommst die Krim und den Donbass, keine NATO- Mitgliedschaft der Ukraine und Du distanzierst dich von XI Jinping und unserem sinoamerikanischen Konflikt. Würde Trump oder ein ähnlicher Republikanerpolitiker da Europa als sekundär ansehen, vor allem wenn diese ihre NATO Benchmarks nicht erfüllen und die USA nur noch auf den Asian Pivot setzen und den Europäern Putin-Russland überlassen bei der Gestaltung einer europäischen Nachkriegsordnung? Würde Putin auf solch einen „europäischen Zugewinn“ ein Bündnis mit Xi aufkündigen und sich in die US-Front eingliedern oder dadurch ermutigt sein, erst recht eine multipolare Weltordnung zu verfolgen, die China und Russland verbünden würde – und die neue Weltordnung entgegen dieser US-Erwartung noch forcieren?

Alexander Rahr: Ich würde die von Ihnen geschilderte hypothetische Entwicklung nicht völlig ausschließen. Dass Donald Trump, wenn er wieder 2024 an die Macht kommt, den Russen den Deal „Krim und Donbas gegen einen Verzicht auf die Unterstützung Chinas“ ernsthaft vorschlagen könnte, halte ich durchaus für realistisch. Oberstes Ziel der US-Politik bleibt doch die Verhinderung des globalen Aufstiegs Chinas. In China sehen die USA die größte Herausforderung für ihre weltweite Hegemonie sowie für die kommende Weltordnung. Die EU ist in den Augen der USA strategisch viel zu schwach, um China vom Westen her einzudämmen, wie es die Amerikaner mit aller Macht zu tun gedenken. Wenn Russland jedoch – wie in den 1990er Jahren von der damaligen Jelzin-Regierung angedacht – der NATO beitreten würde (unter einem pro-westlichen Präsidenten nach einem Machtwechsel im Kreml), würden die Amerikaner Russland als quasi-Verbündeten zum Bollwerk gegen China vom Norden her machen. Ob De Santis oder anderere Republikaner ähnlich wie Trump denken, weiß ich nicht, möglich wäre es. Sie sind zu allererst Realisten, keine Werte-Fanatiker, wie die Demokraten. Die USA werden so oder so im Jahre 2024 ermattet von der finanziellen Unterstützung der Ukraine sein. Es stimmt, dass die Biden Regierung in der aufopferungsvollen Unterstützung der Ukraine das „heilige Anliegen“ verfolgt, wie schon im 2. Weltkrieg und im Kalten Krieg, Europa vor einer russischen Tyrannei zu bewahren. Die USA verteidigen über die Stützung der Ukraine auch die westlichen liberalen Werte, Menschenrechte und Demokratie. Doch was, wenn durch innere Konflikte und soziale Probleme in den USA selbst, die amerikanische Bevölkerung von einer breiten Ukraine- Müdigkeit erfasst wird? Die Republikaner werden sich diese Stimmung zu eigen machen, um Biden zu Fall zu bringen. Ist das so unvorstellbar? Kann Amerika der Ukraine ewig unter die Arme greifen, will Amerika tatsächlich der Ukraine ernsthaft beistehen, wenn die Ukraine in einen Staatsbankrott (aufgrund der Kriegszerstörungen) hineinschlittert? Vermutlich ist die Ukraine „too big to fail“, aber gleichzeitig „too big to be rescued“. Nein, die USA werden die Verantwortung für die Reformen und den Wiederaufbau der Ukraine in die Hände der EU legen. Und von der EU fordern, dass Kiew ohne Umschweife  in die EU aufgenommen wird. Und noch etwas sollten wir bedenken: wenn Russland im Krieg in der Ukraine nicht mehr weiterkommt, in einen langen Stellungskampf gerät, der Jahre andauern könnte – und seinen Grossmachtstatus letztendlich verliert: würden die USA nicht erst recht ihr Interesse am geschwächten geopolitischen Rivalen Russland verlieren und sich den Sicherheitsproblemen in Asien zuwenden, sich auf die Gründung der AUKUS konzentrieren – statt eine NATO-Osterweiterung auf nicht-reformierte Länder des postsowjetischen Raumes durchzuboxen, die außer den Mittelosteuropäern niemand will? Was die USA aber auf jeden Anfall verhindern werden, ist ein Bündnis Deutschlands und Frankreichs mit einem nach-Putin-Russland, welches die amerikanische Stellung in Europa schwächen würde. Moskau, Paris und Berlin müssen Juniorpartner der Amerikaner sein – so lautet die geostrategische Formel in Washington. Ein autonomes Europa, das eigene Wege nach Moskau sucht, wäre für die USA ein Alptraum. Aus heutiger Sicht ist meine Analyse allerdings ein Hirngespinst. Putin will mit Xi Jinping die multipolare Welt schaffen, in der beide mit den USA auf Augenhöhe stehen sollen. 

Global Review: Aber was wenn Putin gar nicht abtritt und gestürzt wird, auch nicht den vom ukrainischen und britischen Geheimdienst lang propagierten Krebs und Tod hat, sondern weiterexistiert. Ja noch etliche Jahre. Kann man mit ihm zu einem Ergebnis kommen, dass seine Expansionsambitionen bezüglich der USA und Europas neutralisiert wird, seine Achse und Ziel einer multipolaren Welt gegen die USA mit Xi zertrümmert und ihn nur die eigene Macht erhalten lässt? Zumal er zwar seine Herrschaft durch die Verfassungsreform (wie Xi) verewigt hat, aber dann doch einen Nachfolger wählen könnte, wenn er glaubt, die russische Macht nicht mehr glaubwürdig verkörpern zu können. Selbst Putin  dürfte ja da nicht freiwillig den Wagnerchef und Kadyrow nehmen, sondern eher dann vielleicht wieder Medjedew, der mal im Westen als die liberale Hoffnung und Reformer galt, nun aber diesen Makel durch radikale Forderungen und Statements versucht überzukompensieren. Kurz: Wird Putin überhaupt stürzen und wer könnte der Nachfolger werden?

Alexander Rahr: Obwohl in der jüngsten russischen Geschichte zahlreiche Staatsführer gestürzt wurden – ich erwähne hier Zar Nikolaus II, Kerenski, Trotzki, Berija, Chruschtschow, Gorbatschow – sehe ich heute Putins Macht nicht als gefährdet an. Im Gegenteil, er hat es vermocht, die Führungselite seines Landes zum Verbündeten im Krieg gegen die Ukraine und den Westen zu machen. Wenn er trotzdem gestürzt werden sollte, dann bestimmt nicht durch einen Regime change von aussen. So einer hat nur einmal in der russischen Geschichte stattgefunden – 1605 bei der Besetzung Moskaus durch Polen. Vorstellbar wäre aber eine Abschwächung der Macht Putins und die Gründung einer kollektiven Führung, wie sie in der Zeit nach Stalin existiert hat. Putin würde Vorsitzender des Staatsrates werden, während ein jüngerer Politiker, der aber denselben Stallgeruch hätte, sich zum Präsident des Landes aufschwingen könnte. Es heisst immer, es gebe in Russland keine Alternativen zu Putin und wenn, dann wird im Westen der Name Nawalny genannt. Ich halte dies für Unsinn. Nawalny würde vom Militär und den Silowiki niemals unterstützt werden, ausserdem würde er selbst bei freien Wahlen keine Mehrheit finden. Ein rein pro-westlicher Politiker hat in Russland keine Chance. Nein, wenn die Nachfolge für Putin einmal ansteht, was in der zweiten Hälfte 2023 passieren könnte, kommen andere Namen ins Spiel: Dmitri Patruschew, Alexei Djumin, Michail Mischustin und sicherlich auch Dmitri Medwedew. Der Chef der Wagnertruppe, Prigoschin, kommt für mich als Präsident nicht in Frage, auch nicht der Tschetschenenführer Kadyrow. Aber beide könnten als Königsmacher in einer bestimmten innenpolitischen brenzlichen Situation eine wichtige Rolle spielen. Beiden unterstehen, das darf man nicht vergessen, sogenannte elitäre  Gardetruppen, die sich in den Machtkampf einmischen könnten. So etwas kennen wir aus der russischen Geschichte zur Genüge. Aus heutiger Sicht schliesse ich eine Rückkehr Medwedews in das höchste Amt nicht mehr aus; er wäre der Hauptkandidat Putins, wenn Letzterer sich nach dem Ende des Krieges (Sieg oder Niederlage) zurückziehen sollte.  

Global Review: Im Moment fühlt sich die NATO und die EU sehr stark, aber was ist, wenn ein Trump oder eine Le Pen drankommt, die ja wohl die Hoffnungen Putins bezüglich der EU und der NATO sind, wie auch die Erdogan-Türkei, da aufgrund des angeblichen Auslaufen des Lausanner Vertrags um die griechischen Inseln nach 100 Jahren (!) da auch noch eine weitere EU- und NATO Krise draufsattelt? Zudem auch Capitol Hill nicht nur von aussen gestürmt wurde, sondern auch von innen mittels der Repräsenantenhauswahlen. Muss Putin mehr vor dem Westen zittern oder der Westen mehr vor Putin, wenn er noch 2 Jahre aushält? Zumal mit der Unterstützung von Xi- China und neuerdings auch bei der OPEC plus durch Saudi-Arabien?

Alexander Rahr: Der Ukraine-Krieg ist nur ein Mosaikstein eines viel größeren Konfliktes, in den in den 202O-er Jahren die gesamte Welt hineingerissen werden könnte. Ich habe keine Ahnung, wie die Epoche, in die wir seit 2014 eingetreten sind, später einmal bezeichnet werden wird. Hoffentlich nicht als Beginn des Dritten Weltkrieges, hoffentlich kein Vergleich mit 1938.  Ich prognostiziere aber noch weitere gefährliche Kriege, die die Weltordnung aus den Angeln heben könnten. Und mir ist heute auch nicht klar, wer den grossen Krieg gewinnen wird. Der Westen – der damit seinen grandiosen Sieg im Kalten Krieg zementiert, oder die aufstrebenden Mächte wie China, die eine multipolare Welt schaffen und vor allem den Westen schwächen wollen. Sie sprechen in Ihrer Frage die Türkei an. Nun, die Türken streben, ebenso wie Russland, China, Iran nach der Erweiterung ihrer Einflusssphäre. Erdogan träumt tatsächlich von einem neuen Osmanischen Imperium. Ich habe gehört, dass in Geheimgesprächen, Putin ihm seinerseits dafür grünes Licht erteilt hat, allerdings unter der Voraussetzung, dass die Türken dafür langfristig die NATO verlassen, dem Westen den Rücken zukehren, mit der Zeit Mitglied der neuen eurasischen Großfamilie werden und sich für eine multipolare Welt einsetzen. Für Erdogan ist eine Mitgliedschaft in der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit oder in der BRICS höchst lukrativ. Putin ist bereit, den Türken Aserbaidschan zu überlassen und dafür Armenien zu opfern. Die Türkei wird demnächst zum wichtigsten Hub für die Verteilung des russischen und aserbaidschanischen Erdgases in Europa. Deutschland will diese Rolle nicht mehr ausüben. Letztendlich wird Putin Erdogan den Triumph gönnen und Friedensgesprächen mit der Ukraine unter türkischer Vermittlung zustimmen. Im Inselstreit mit Griechenland wird Russland die Türkei unterstützen, um gleich darauf den Austritt der Türkei aus der NATO zu fordern. Dass Putin verbissen um die neue multipolare Weltordnung kämpft, kann einem aufmerksamen Beobachter schwerlich entgangen sein. Die OPEC steht heute mehr an der Seite Russlands, als der USA. Der Westen hat seinen Einfluss auf den Mittleren Osten nach der militärischen Niederlage in Afghanistan an China verloren. Putin ist ein ernstzunehmender Gegner des Westens. Ziel Russlands ist es, den Westen zu schwächen. Allerdings kann Russland die Welt nicht verändern ohne China. Das russische Militär ist offensichtlich dafür zu schwach. Und die Chinesen folgen ihren eigenen Interessen, die mit denen Russlands nicht kompatibel sind. Was die EU abgeht, so darf sie sich nicht zu wichtig nehmen. Heute überbieten sich westliche Politiker nach Forderungen für Waffenlieferungen an die Ukraine, ohne nachzudenken, dass die Russen, trotz ihrer offensichtlichen Schwächen, die Möglichkeit haben, diese Panzer alle kaputt zu schiessen. Der Krieg wird hierdurch nur ins Endlose verlängert, es werden noch mehr junge Ukrainer und Russen sterben, ohne dass der Krieg auf dem Schlachtfeld seinen Charakter des Stellungskrieges ändert. Derweil ist der Westen, besessen von der Idee Russland zu besiegen (mit ukrainischer Hilfe) blind für diplomatische Lösungen. Die Werte-basierte Außenpolitik der EU wird aber in Asien und anderen Teilen der Welt als Herausforderung aufgenommen. Dort verbietet man sich ständige Belehrungen aus dem Westen zu Fragen der Demokratie und drängt auf eine endgültige Dekolonisierung der Weltpolitik. Vielen im Westen ist gar nicht klar, dass außerhalb der EU Russland von unzähligen Staaten unterstützt wird, weil es dem „arroganten“ Westen endlich zeigt, wo der Knüppel hängt. Schauen wir uns die Aussagen der Aussenminister von Indien, China und Südafrika hier in Deutschland genauer an! Oder wollen wir in Deutschland die andere Seite gar nicht hören? Die westlichen Think Tanks sollen aufhören, nur Werte zu predigen, und sich der gefährlichen Weltlage bewusster machen. Ich hoffe sehr, dass das heutige Interview mit Global Review einen Beitrag zum besseren Verständnis der Welt des 21. Jahrhunderts leistet. 

Global Review: Xi ist momentan geschwächt hat, möglicherweise Putin nur benutzt als Rammbock zur Durchsetzung einer neuen multipolaren Weltordnung, da auch er von einem zerfallenden Westen ausging. Die Kalkulation ging wohl nicht wie erhofft auf. Wegen Covid, Ukrainekrieg und US-Handelskrieg und Einigkeit des liberalen Westens im Moment, sendet Xi jetzt Entspannungssignale aus, sei es das Treffen mit Biden in Bali, sei es, dass er seine Wolfswarriordiplomaten durch Leute ersetzt, die mehr eine Smile Diplomacy machen. Zur gleichen Zeit aber, ist seit Pelosis Taiwanbesuch eine normale bedrohliche „Normalität“ entstanden; so bringen die USA Berichte raus, dass China weiter aufrüsten wolle, seine ICBM Anzahl auf US- und russische Dimension auf mindestens 1000 hochrüsten willl, wie nun auch eine CSIS- Simulation 13 Kriegsszenarien durchgespielt hat, in denen China einen Krieg verlieren würde. Ist ein sinoamerikanischer Krieg mittelfristig überhaupt noch vermeidbar, zumal nicht nur Xi, sondern auch Kräfte in den USA wie Pomepo,, Larry Wortzel und andere darauf drängen, zumal ja schon die Randstudie „War with China“ diesen als 2025 günstiger als 2035 benannte, Ben Hodges damit in den nächste 5 Jahren rechnet oder Habeck spätestens 2027 und welche Folgen hätte er auch für Russland und Europa und die Welt? Putins letzte Hoffnung?

Alexander Rahr: Wir sind erst im Anfangsstadium eines nich lange andauernden Konfliktes um die Weltherrschaft. Multipolare Welt mit Schwächung des Westens – oder Sieg der Demokratien über die Diktaturen. So oder so wird das 21. Jahrhundert kein friedliches Zeitalter, vor allem, weil keine der konkurrierenden Seiten auf Diplomatie, Entspannung, Abrüstung, Interessensausgleich setzt. Jede Seite will den Sieg über die andere. Vergessen sind in der Generation der heutigen Führungspolitiker die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Im Westen regieren sogenannte Triumphalisten, die an die Idee des Endes der Geschichte glauben, nach dem Motto: der Liberalismus siegt immer. In anderen Ländern kommt aggressiver und militanter Widerstand gegen die Bevormundung der Weltpolitik durch den Westen. Xi und Putin wollen, dass die Welt ihnen auch gehört – nicht nur dem Westen. Und sie sind bereit, für ihre Machtziele Kriege zu führen. Über kurz oder lang wird China in Taiwan intervenieren. China will Supermacht sein, da ziemt es sich nicht, dass direkt vor seiner Nase im Gelben Meer eine störrische Insel, die formal chinesisch ist, die Weltmachtambitionen Pekings durch seine Existenz in Frage stellt. Schauen wir nun auf den Westen: er hat sich im grossen globalen Konflikt bisher bewährt, ist keineswegs geschwächt worden. Durch eine militärische Aufrüstung der Ukraine ist die russische Militärmacht in Europa geschwächt worden. Die NATO hat sich um Finnland und Schweden erweitert. Anders als China, hat der Westen die Pandemie besiegt. Die EU hat sich, anders als von vielen Experten prognostiziert, von russischen Rohstoffabhängigkeiten frei gemacht, und das in weniger als einem Jahr. Der Westen scheint stark genug zu sein, das grösste Land der Erde, Russland, von der Weltwirtschaft abzuschneiden. Der Westen ist zusammengerückt, allerdings um den Preis einer gestärkten Hegemonie der USA gegenüber Europa. In Europa ist im Winter 2022/23 niemand erfroren, anders als prognostiziert, sind die Energiepreise zu Silvester sogar gefallen. Die Energiekrise ist nicht so schlimm wie befürchtet. Weder in Frankreich, noch in Italien haben anti-europäische Kräfte die Macht errungen. In den USA sitzen die Demokraten fest im Sattel. Trumps Chancen auf eine Rückkehr schwinden. China ist durch die Pandemie geschwächt. ABER: all das sind noch Momentaufnahmen, für einen Siegestaumel des Westens ist es noch viel zu früh. Die Entwicklung kann schon bald in die entgegengesetzte Richtung gehen. 

Global Review: General Domroese, Vad, Starvadis und US-Generalstabschef Milley rechnen damit, dass im Frühsommer in der Ukraine beide Seiten so ermattet sind, dass es zu einem Waffenstillstand kommt. Ben Hodges rechnet hingegen damit, dass die Ukraine die Krim August 2023 erobert und dann auch der Donbass fällt, sich die Frage der Nachfolge Putins stellt, wenngleich Hodges auch nicht mit einer demokratischeren Nachfolge rechnet. Wie sehen Sie das und sich daraus ergebenden Optionen?

Alexander Rahr: Diese Frage habe ich oben schon beantwortet. Ich rechne nicht mit der Rückeroberung der Krim. Dort leben mehrheitlich Russen – sie werden ihre neue Heimat so verteidigen, wie derzeit die Ukrainer sich gegen Russland in der Ostukraine behaupten. Der Westen fordert ständig von Russland, die eroberten Territorien völkerrechtlich an die Ukraine zurückzugeben. Dabei wird die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit dort lebenden Menschen nicht gebührend berücksichtigt. Die Russen sagen übrigens, sie halten sich im Krieg an das neue Völkerrecht: Schutz bedrängter Minderheiten, responsibility to protect, Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Ukrainer hätten den Donbas jahrelang bekriegt, Moskau hätte das Recht gehabt, schützend einzugreifen. Ich mache mich mit der folgenden Idee unbeliebt, aber Teitterchef Elon Musk hat Recht: der Krieg in der Ukraine muss durch das Selbstbestimmungsrecht der dort lebenden Bevölkerung gelöst werden. Auf den besetzten Gebieten, einschliesslich der Krim, müssen unter UNO Ägide echte Referenden durchgeführt werden. Das Ergebnis der Volksabstimmung kann entscheiden, ob die Territorien an die Ukraine zurückgehen oder russisch werden. Ein solches Vorgehen würde im Westen als Aufforderung an Aggressoren aufgefasst werden, weitere Gebietseroberungen anzustrengen. Man wird sich an Hitler erinnern. Trotzdem ist Musks Vorschlag der bisher beste, der den schrecklichen Krieg beenden könnte. Und darum geht es jetzt. Ich gehe übrigens nicht davon aus, dass auf den Territorien der Ostukraine ein eindeutiges Bekenntnis zur Ukraine oder zu Russland entsteht. Es wird regionale Unterschiede geben. 

Global Review: Wie könnte eine neue Weltordnung und europäische Friedensordnung aussehen und welche Form würde sie unter welchen Konstellationen annehmen? Kommt es zu einer neuen Blockbildung, einem neuen Eisernen Vorhang oder einer UNO-Reform mit stärkerer Repräsentation der G 20 oder anderen möglichen Konstellationen, zumal Xi und Putin ja hoffen, den sogenannten Global South gegen den Westen aufhetzen und in Stellung bringen zu können?

Alexander Rahr: Verzeihen Sie mir bitte meine Aufdringlichkeit, die ich am Ende des Interviews an den Tag lege. Aber ich möchte, wenn Sie erlauben, Eigenwerbung machen für meinen prophetischen Politroman „2054“, der im Buchhandel erhältlich ist. Ich habe dort ein Szenarium an die Wand gemalt, welches meiner Meinung nach zutreffen wird, wenn auch nich nicht jetzt – aber am Ende des gegenwertigen Konfliktes. Der Westen wird einen gemeinsamen Transatlantischen Block formen unter amerikanischer Führung. Er wird schwächer sein als heute, sich dennoch behaupten, vor allem militärische. Daneben werfen eurasische Allianzen entstehen, die sich an der Supermacht China orientieren werden. Russland bleibt bedeutende Energiesupermacht, allerdings nicht für den Westen. Interessant ist der dritte Block in der kommenden Weltordnung. Dieser wird aus islamischen Staaten geformt, mit einem Machtzentrum im Nahen Osten. Diese neue dritte Welt wird die Staaten Nordafrikas, der Levante, des Persischen Golfs und Südasiens umfassen. Um die Jahrhundertmitte wird dieser Global South mit China und Eurasien verbunden sein. Erst dann kommt der eigentliche Dritte Weltkrieg, der zu einer längerfristigen Machtaufteilung der Welt führen wird. Was ist wichtig für uns Europäer: wir werden auf Gedeih und Verderb in Fragen der Sicherheit und Rohstoffen von den USA abhängig sein. Die USA werden jedoch nicht genug Power haben, sich intensiv um Europa und gleichzeitig Asien zu kümmern, wo ihre eigentlichen strategischen Interessen liegen werden. Was passiert also in Europa, das sich einem feindlichen Eurasien gegenüber sieht; gleichzeitig nicht mehr auf eine 10O Unterstützung durch die USA bauen kann. In der nächsten Generation europäischer Führungspolitiker muss ein besserer geopolitischer Weitblick gedeihen. Die Europäer werden gezwungen, von ihrer fundamentalistischen Werte-Haltung Abstand zu nehmen. Das wird sehr schmerzlich werden, vor allem für die Grünen in Deutschland. Der Interessenausgleich in der Weltgemeinschaft des 21. Jahrhunderts wird zwingend werden. Ich wünsche mir, das Global Review noch viel Nachdenken auf diesem Gebiet betreibt. 

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