Weltkrieg in anderer Form: Papst Franziskus zum Krieg in der Ukraine

Weltkrieg in anderer Form: Papst Franziskus zum Krieg in der Ukraine

Autor: Dr. Hans- Ulrich Seidt

Den beim Vatikan akkreditierten Botschaftern erklärte Papst Franziskus am 9. Januar 2023: „Heute ist der dritte Weltkrieg in einer globalisierten Welt im Gange, in der die Konflikte zwar nur bestimmte Gebiete des Planeten unmittelbar betreffen, aber im Grunde genommen alle mit einbeziehen.“ Diplomatische Bemühungen, die Welt vor einer weiteren, unkalkulierbaren Eskalation des russisch-ukrainischen Krieges zu bewahren, würden vom Vatikan begrüßt und unterstützt werden.

Mehrfach hatte Papst Franziskus im vergangenen Jahrzehnt vor einem „dritten Weltkrieg in Teilen“ gewarnt. Aber seine Mahnung wurde nicht zur Kenntnis genommen, denn der Flächenbrand der Gegenwart entspricht nicht den Großkonflikten der Vergangenheit. Es kämpfen keine wehrpflichtigen Massenheere gegeneinander und der Wirtschaftskrieg von heute hat mit der Kriegswirtschaft des 20. Jahrhunderts nur wenig gemein. So ist das weltweit verknüpfte Kriegsgeschehen den persönlichen Erfahrungen und der Vorstellungswelt der internationalen Öffentlichkeit fremd. Sie ignoriert oder verdrängt, dass die großen Mächte der Gegenwart ihr Gewaltpotential modifiziert haben, es genau kalkuliert und wenn möglich verdeckt einsetzen.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine und der Verheerung weiter Landstriche nördlich des Schwarzen Meeres werden nun die Dimensionen und das Eskalationspotential dieses weltweiten Machtkampfes erkennbar. Zur Erreichung politischer Ziele wird Gewalt in einer der Zeit und Lage angepassten, veränderten Form eingesetzt. Schon Clausewitz wusste: „Der Krieg ist ein Chamäleon“!

Der Raum und die Kräfte

 Ein Jahr nach Kriegsbeginn sind die eigentlichen Kampfhandlungen noch auf das Territorium der Ukraine beschränkt. Doch sind bereits große Teile der nördlichen Hemisphäre zwischen Vancouver und Wladiwostok in die Auseinandersetzung einbezogen. Die südlich der Konfliktzone liegenden Staaten positionieren sich je nach Interessenlage. Sie wollen nicht in die große Auseinandersetzung des Nordens verwickelt werden. Stattdessen versuchen sie, von ihr zu profitieren. Das gilt für BRICS-Staaten wie die Volksrepublik China, Indien und Brasilien ebenso wie für das NATO-Mitglied Türkei, den Iran oder Israel, das sonst betont die Kooperation mit dem europäisch-atlantischen Verbund sucht.

Für den Ausbruch des Krieges ist die Russische Föderation verantwortlich. Ohne Kriegserklärung überschritten ihre Truppen am 24. Februar 2022 auf Befehl Wladimir Putins die Grenzen der Ukraine. In einem als „Sonderoperation“ bezeichneten Blitzkrieg sollten die Hauptstadt Kiew und große Teile des Nachbarlandes erobert werden.  Nach dem raschen Scheitern dieses Angriffsplans sieht sich die Führung in Moskau seit dem Frühjahr 2022 in einen verlustreichen Abnutzungskrieg verstrickt. Sie muss die ihr zur Verfügung stehenden Reserven von der russischen Exklave an der Kurischen Nehrung bis zur Pazifikküste im Fernen Osten mobilisieren. Aber die Russische Föderation, der größte Flächenstaat der Erde, ist sehr dünn besiedelt und ihr Territorium im Vergleich zu anderen Weltregionen nur wenig entwickelt.

Auch die Ukraine verfügt über eine große strategische Tiefe. Sie reicht weit über die Landesgrenzen hinaus und bei der Bewertung ist nicht entscheidend, dass die Ukraine im Falle ihrer Mitgliedschaft der größte Flächenstaat der Europäischen Union wäre. Von strategischer Bedeutung ist vielmehr, dass hinter Kiew eine sich über den Atlantik erstreckende Koalition der Europäischen Union, Großbritanniens und der beiden nordamerikanischen NATO-Mitglieder steht. Die Beratungen der Koalition finden auf der Ebene der Verteidigungsminister in der Ukraine Defence Contact Group statt. Sie tagt auf Einladung und unter Vorsitz des US-Verteidigungsministers auf deutschem Boden im quasi-exterritorialen US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein. Auf der Agenda stehen Fragen einer gemeinsam abgestimmten Rüstungshilfe und der Ausbildung der ukrainischen Armee in großem Stil. Auf anderer Ebene wird über die nachrichtendienstliche Unterstützung Kiews gesprochen.

Gegenüber der Russischen Föderation verfolgt die Ukraine Defence Contact Group dieselben Kriegsziele wie die Ukraine: Abzug aller russischen Truppen vom gesamten ukrainischen Territorium einschließlich der Krim, Anerkennung der territorialen Integrität der Ukraine durch Moskau, russische Duldung der in Aussicht genommenen Mitgliedschaft der Ukraine in NATO und EU. Obwohl die Ramstein-Gruppe nicht als Forum politisch-strategischer Positionsbestimmungen gilt, wären ihre Treffen im 18. Jahrhundert, der klassischen Epoche der Koalitionskriegsführung, als conseil de guerre, als Kriegsrat, bezeichnet worden. Die deutsche Außenministerin, die nach eigenem Bekunden vom Völkerrecht kommt, hat diesen Sachverhalt am 24. Januar 2023 vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats mit erstaunlicher Offenheit auf den Punkt gebracht: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander!“

Der moralische Faktor

In ihren politischen Erklärungen und in ihrer Öffentlichkeitsarbeit argumentieren die am Ukraine-Krieg direkt oder indirekt Beteiligten mit Interessen, Prinzipien und Werten. Die Macht der Ideen rechnete Clausewitz unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Koalitionskriege gegen Napoleon zu den strategisch wichtigen immateriellen Kräften und bezeichnete sie als den „moralischen Faktor“.

Die Leitideen Moskaus lassen sich unter dem Motto „Imperium und Orthodoxie“ zusammenfassen. Schon vor dem Angriff auf die Ukraine war nach der russischen Verfassungsreform von 2020 und einem Artikel Wladimir Putins im Juli 2021 erkennbar, dass die russische Führung nicht bereit war und auch in Zukunft wohl nicht bereit sein wird, in der Ukraine ein „Anti-Russland“, so die Wortwahl Putins, hinzunehmen. Ein gezielt geförderter westlicher Vorposten und Anziehungspunkt zwischen Karpaten und Donbass wird im Kreml als langfristige angelegte Strategie zur Unterminierung und existentiellen Bedrohung der Russischen Föderation betrachtet.

Gegenüber der russischen Bevölkerung wird die Wendung der Ukraine nach Westen als Aufkündigung einer über Jahrhunderte, ja über ein Jahrtausend hinweg gewachsenen Schicksalsgemeinschaft dargestellt. Für letzteres führt Putin historische und religionsgeschichtliche Argumente ins Feld. Für ihre Bewertung ist es unerheblich, ob sie von einem kühl kalkulierenden, agnostischen Geheimdienstoffizier oder von einem Politiker vorgetragen werden, der sich der russisch-orthodoxen Kirche tatsächlich verbunden fühlt. In jedem Fall sollen die Thesen der großrussischen Geschichtsschreibung, die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg und die behauptete Verteidigung der Orthodoxie gegen den hemmungslosen westlichen Liberalismus gegenüber Öffentlichkeit und Armee als Begründung für den Angriffskrieg und als Inspirationsquelle dienen.

Aber diese Ideen sind partikular und in ihrer innerstaatlichen und internationalen Ausstrahlungskraft begrenzt. Die Russische Föderation ist ein Vielvölkerstaat. Wollen die Muslime Tatarstans für das kanonische Territorium des Moskauer Patriarchats sterben? Interessieren sich die von Kosaken kolonisierten Burjaten und Jakuten Sibiriens für die Geschichte Kiews, der vermeintlichen „Mutter der russischen Städte“?Die Stimmungslage außerhalb Moskaus und St. Petersburgs ist schwer einzuschätzen, Meinungsumfragen und Presseberichte sind mit Vorsicht zu lesen. Zumindest von der Gegenseite wird Moskaus Ideologie ernst genommen. Einer ihrer prominentesten Vordenker, der Carl Schmitt-Adept Alexander Dugin, war 2022 Ziel eines Attentats, dem seine Tochter zum Opfer fiel. In sozialen Medien rufen uniformierte Bewaffnete die Muslime der Russischen Föderation mit panislamischen und panturanischen Losungen zur Rebellion gegen Moskau und den Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow auf: „Es lebe Turan!“

Kiews Regierung und die sie unterstützende europäisch-atlantische Koalition begründen die Auseinandersetzung mit Moskau prinzipiell anders. Sie argumentieren normativ und mit universellen Werten. Auf den Schlachtfeldern der Ostukraine geht es um das verbriefte Recht auf Selbstverteidigung, um Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Diese Prinzipien werden als unverzichtbare Grundlagen einer Konfliktlösung und der anschließenden Friedensordnung genannt. Allerdings übersieht die Berufung auf den philosophischen Universalismus Kants, klassisch formuliert in „Zum ewigen Frieden“, dass vor allem die kampfkräftigsten ukrainischen Einheiten in erster Linie für partikulare Ziele und nationale Interessen kämpfen. So verteidigten die Freiwilligen des Asow-Regiments, eine Art Freikorps, die Stadt Mariupol wochenlang unter einer Fahne, die an die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) erinnerte. Ihr erbitterter Kampf gegen eine überwältigende russische Übermacht bewies, dass in den Konflikten der Gegenwart weiterhin mit der Überzeugungskraft gruppenspezifischer Ideen, im Falle Mariupols des ukrainischen Nationalismus, zu rechnen ist.

Die neue Kriegsdoktrin                   

Partikulare Interessen einzelner Religions- und Volksgruppen hatten bereits in der Vergangenheit große Mächte dazu veranlasst, unter Berufung auf übergeordnete Prinzipien eigene strategische Interessen zu verfolgen. Das von serbischen Nationalisten begangene Attentat von Sarajewo löste 1914 jene fatalen Fehlentscheidungen aus, die zum Ersten Weltkrieg führten. Deshalb warnte Papst Franziskus schon im Juni 2015 in der bosnischen Hauptstadt eindringlich vor einer „Art dritter Weltkrieg, der stückweise geführt wird“, und fügte hinzu: „Im Bereich der globalen Kommunikation nimmt man ein Klima des Krieges wahr.“

Es ist beeindruckend, wie früh der Papst und die Diplomaten des Vatikans die Dramatik künftiger Entwicklungen wahrnahmen. Allerdings gab es bereits 2015 besorgniserregende Hinweise auf eine Zuspitzung der Weltlage. 2014 hatte Moskau die Krim annektiert. In Syrien tobte ein grausamer Bürgerkrieg und in der gesamten Region des Fruchtbaren Halbmonds war der Islamische Staat auf dem Vormarsch. Hunderttausende flohen über die Türkei auf der Balkan-Route Richtung Mitteleuropa. In Afghanistan zeichnete sich das Fehlschlagen der westlichen Intervention ab.

In dieser Situation musste es den Papst mit Sorge erfüllen, dass sich die internationale und vor allem die US-amerikanische Strategiedebatte zunehmend von Fragen der Krisenprävention und Konfliktbeilegung entfernte und sich stattdessen einem gefährlichen Thema zuwandte, dem hybriden Krieg. Die Lehre vom hybriden Krieg verfolgt das Ziel, die überlieferte Wahrnehmung und Deutung bekannter Kriegsbilder und damit auch deren strategische Einhegung zu dekonstruieren. Die Fragmente und Einzelelemente überlieferter Kriegsformen sollen zu einer neuen, eben „hybriden“ Gestalt des Krieges kombiniert werden. Und genau deshalb warnte Papst Franziskus in Sarajewo so anschaulich und eindringlich vor einem dritten Weltkrieg, „der stückweise geführt wird“.

Nur große Mächte mit entsprechenden Ressourcen und globaler Reichweite sind zur Führung hybrider Kriege fähig; denn sie verlangen den sorgfältig abgestimmten Einsatz eines breiten Spektrums physischer und psychischer Zwangsmaßnahmen jenseits des bislang normativ zu erfassenden, militärischen Instrumentariums. Zum hybriden Krieg gehören nachrichtendienstliche Operationen, der verdeckte Einsatz von Spezialkräften, die Unterbrechung von Lieferketten, die Verhängung, Überwachung und Durchsetzung von Sanktionen und nicht zu zuletzt die unmittelbare Einwirkung auf die Öffentlichkeit des Gegners mit Hilfe der sozialen Medien. Mit einem „Mausklick“ werden Nachrichten und Bilder weltweit an Millionen von Menschen versandt, eine Möglichkeit, von der die psychologische Kriegsführung weltweit in Sekundenschnelle Gebrauch macht. „Die Zeit frisst den Raum“ bemerkten Karl Marx und Friedrich Engels, als sie in der Nachfolge von Clausewitz den Krieg neu dachten.

2013, zwei Jahre vor der Sarajewo-Rede des Papstes, hatte Waleri Gerassimow, der neue Generalstabschef der Russischen Föderation, die Theorie des hybriden Krieges in die russische Militärdoktrin eingeführt. Er nannte sie in seiner ersten Grundsatzrede vor der Akademie des Generalstabs den „nichtlinearen Krieg“.  Dieser Ansatz entsprach den Vorstellungen Präsident Putins und seiner nachrichtendienstlichen Umgebung. Das in traditionellen Denkmustern befangene russische Militär betrachtete die Folgen der neuen Lehre dagegen mit Skepsis. Viele Generäle fürchteten mit Recht, dass es wie in den USA im russischen Verteidigungshaushalt zu einer Verlagerung von Mitteln weg von den konventionellen Streitkräften hin zu den Instrumenten des hybriden oder nichtlinearen Krieges kommen würde.

Werkzeuge des hybriden Krieges

Als der Papst 2015 vor der neuen Art des Weltkriegs warnte, waren Erscheinungsformen hybrider Kriegsführung im Nahen und Mittleren Osten, in Libyen und auf der Krim bereits erkennbar. So hatte General Gerassimow bei der Besetzung der Halbinsel russische Spezialeinheiten ohne Hoheitsabzeichen eingesetzt. Gerade die Verwendung irregulärer Verbände beobachtete der Vatikan mit besonderer Aufmerksamkeit, hatte doch seit Beginn des Jahrhunderts der Aufbau privater Militärunternehmen in den USA auch innerkirchliche Konsequenzen.

1997 war in den USA die Firma Blackwater gegründet worden, die sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zum größten privaten Militärunternehmen der Welt entwickelte. Ihr Gründer und langjähriger Inhaber, Erik Prince, stammte aus einer einflussreichen calvinistischen Unternehmerfamilie, die eng mit der Republikanischen Partei verflochten war und ist. Unter Donald Trump wurde die Schwester von Prince, Betsy DeVos, Bildungsministerin der USA. Ihr Bruder gab die reformierte Tradition seiner Familie auf. Erik Prince wurde katholisch und schloss sich nach seiner Konversion dem konservativen Flügel der amerikanischen Katholiken an. Wenn möglich besetzte er Führungspositionen seines Unternehmens mit praktizierenden Katholiken.

Ebenso wie Trumps zeitweiliger Chefberater Steve Bannon förderte Prince die Politisierung und Polarisierung innerhalb der katholischen Kirche und unterstützte profilierte Kritiker des Pontifikats von Papst Franziskus. Die Mittel für seine gesellschafts- und kirchenpolitischen Aktivitäten verdankte Prince großen Aufträgen der US-Regierung unter Präsident George W. Bush. Für das State Department, das Pentagon und die CIA wurde Blackwater in Afghanistan, im Irak und in Somalia im Sinne hybrider Kriegsführung eingesetzt. Unter Präsident Barack Obama wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen im Irak aufgelöst, musste Blackwater in eine Nachfolgeorganisation überführt werden. Unter dem Namen Academi gehört sie heute zur Constellis-Gruppe, einem der größten privaten Sicherheitsdienstleister der Welt mit Firmensitz in der Nähe von Pentagon und CIA.

Die Russische Föderation folgte dem amerikanischen Modell. Nach dem Vorbild von Blackwater wurde 2014, ein Jahr nachdem Waleri Gerassimow den „nichtlinearen Krieg“ in die russische Militärdoktrin eingeführt hatte, in St. Petersburg die Wagner-Gruppe gegründet. Ihre Verbände werden als Instrumente der hybriden Kriegsführung des Kremls in Syrien, in Libyen, in Sub-Sahara Afrika und seit 2022 auch in der Ukraine eingesetzt. Wie Blackwater unter Erik Prince verfügt die Wagner-Gruppe über enge, informelle Kontakte zur höchsten politischen Führung. Ihr Chef, Jewgeni Prigoschin, und Wladimir Putin kennen sich aus St. Petersburg seit dem wilden Jahrzehnt der Jelzin-Jahre. Allerdings stammt Prigoschin anders als Prince nicht aus der gesellschaftlichen Oberschicht, sondern aus der kriminellen Unterwelt. Aber wie sein amerikanisches Vorbild ist er bestrebt, die Religion als „moralischen Faktor“ für sein Unternehmen zu nutzen. Vor einem Ausbildungszentrum der Wagner-Gruppe in der Nähe von Krasnodar steht neben einer neu errichteten orthodoxen Kirche die Statue eines Wagner-Kämpfers. In voller Montur legt er seinen Arm schützend um ein Kind. Der Stil  entspricht dem Pathos der stalinistischen Denkmäler im Berliner Tiergarten und im Treptower Park und kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter dem Totenkopf-Emblem der Wagner-Gruppe auch Verbrecher kämpfen, die in Gefängnissen und Straflagern rekrutiert werden.

Gefährliche Perspektiven

Der Einsatz der Wagner-Gruppe ist ein Beispiel für die hybride Kriegsführung, vor der Papst Franziskus 2015 in Sarajewo warnte. Und bestätigt sich nicht auch seine damalige Feststellung, in der globalen Kommunikation herrsche „ein Klima des Krieges“? Die in seiner Neujahrsansprache dem diplomatischen Korps übermittelte Botschaft ist jedenfalls eindeutig: Der dritte Weltkrieg ist bereits im Gang. Noch verheert er nur Teile des Planeten, aber seine Folgen treffen die gesamte Menschheit. Der Blick in die Zukunft erfasst besorgniserregende Szenarien nicht nur in Europa.

Im russisch-ukrainischen Krieg ist eine weitere Eskalation absehbar. Ihr Potential reicht von verdeckten Operationen wie der Sprengung der beiden Gaspipelines in der Ostsee, immerhin ein wesentlicher Bestandteil der deutschen strategischen Infrastruktur, über konventionelle Panzerschlachten bis hin zum Einsatz von Nuklearwaffen. Eine informelle Waffenruhe oder ein förmlicher Waffenstillstand sind nicht in Sicht und wären allein auch nicht ausreichend, um die Lage dauerhaft zu befrieden. Trotz schweigender Waffen bleibt eine Demarkationslinie, das belegt die koreanische Erfahrung, ein schwelender Brandherd.

Als Bestandteil einer politischen Lösung wäre die russische Annexion großer Teile der Ukraine kaum vorstellbar, denn sie würde nicht nur die militärische Niederlage Kiews besiegeln, sondern nach dem desaströsen Ende der westlichen Afghanistan-Intervention das zweite geostrategische Versagen einer von Washington geführten europäisch-atlantischen Koalition bedeuten. Vergleichbare Folgen für den Kreml hätten der vollständige Abzug der russischen Truppen und eine anschließende Mitgliedschaft der Ukraine in NATO und EU. Mit einem solchen Ergebnis wäre das offenkundige Scheitern der Politik Moskaus und vielleicht sogar der Beginn einer friedlichen oder gewaltsamen Auflösung der Russischen Föderation verbunden. Bereits vor Jahren hat Präsident Putin erklärt, dass er im Fall einer solchen Bedrohung der staatlichen Existenz Russlands Nuklearwaffen nicht nur als Instrument der strategischen Abschreckung, sondern auch als Mittel politischer Deeskalation betrachtet.

Angesichts solch düsterer Aussichten darf es nicht überraschen, dass ernstzunehmende Stimmen, auch die von hohen Militärs und regierungsnahen US-Forschungsinstituten, den Versuch einer diplomatischen Verhandlungslösung befürworten. Allerdings ist noch nicht der Zeitpunkt gekommen, die Chancen eines Kompromisses ernsthaft auszuloten. Sie hängen vom Verlauf und den Ergebnissen der russischen Offensive am Ende der Schlammperiode ab. Gleichwohl wäre schon heute in der Hoffnung auf eine politisch-diplomatische Initiative im zweiten Halbjahr 2023 ein kommunikativer Klimawandel in Politik und Medien wünschenswert. Vor dem Hintergrund einer von Emotionen bestimmten öffentlichen Atmosphäre sind informelle Sondierungen und Vereinbarungen über den Austausch von Gefangenen möglich, aber ernsthafte Vorgespräche oder gar offizielle Verhandlungen kaum vorstellbar. Gleichwohl kann kein Zweifel daran bestehen, dass jeder Versuch, die Welt vor den unabsehbaren Gefahren des dritten Weltkriegs zu bewahren, vom Vatikan begrüßt und unterstützt würde.

Der Beitrag erschien zunächst in leicht gekürzter Form in Heft 3/2023 der katholischen Monatszeitschrift „Herder Korrespondenz“.

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