Die große geoökonomische Zeitenwende

Die große geoökonomische Zeitenwende

Autor: Prof. hon. Alexander Rahr, Vorsitzender der Eurasien Gesellschaft

Der CDU-Politiker und Vordenker Matthias Zimmer hat den Ukraine-Konflikt in zwei idealtypische Denkschulen unterteilt und darauf hingewiesen, dass die beiden Denkschulen unterschiedliche Strategien erfordern. In der öffentlichen Debatte stehen sie sich unversöhnlich gegenüber.

Die erste Argumentationslinie ist dem Leitbild einer regelbasierten Ordnung (Werteordnung) zugeordnet. Sie sagt: Russland ist ein imperiales, revanchistisches Land. Vladimir Putin hat seine Nation in einen Krieg mit dem Westen zur Wiederherstellung des 1991 verlorenen Russischen Imperiums hineingezogen. Die Ukraine ist nur das erste Opfer, weitere werden folgen — etwa Moldawien oder das Baltikum. Es ist sogar zu befürchten, dass Putin ganz Europa (von Wladiwostok bis zum Atlantik) oder sogar Alaska (vormals russisches Territorium) unter seine Gewalt bringen könnte. Deswegen verteidigt die Ukraine nicht nur sich selbst, sondern auch Europa insgesamt. Putin greift das westliche freiheitliche Wertsystem an, indem er den Westen als degeneriert bezeichnet und dem aufgeklärten Westen russische national-konservative Werte entgegenstellt. Und deswegen muss der Westen Putin und seinen Ambitionen Einhalt gebieten, indem die Ukraine auch mit schweren Waffen ausgerüstet wird. Due Ukraine dürfe nicht verlieren – denn eine ukrainische Niederlage würde auch das Ende des Westens in jetziger Form bedeuten.

Die zweite Denkschule lautet anders: Russland verhält sich wie eine traditionelle Großmacht, die ihre Interessen schützt und um ihre Einfluss-Sphäre kämpft. Gerade in der Ukraine hat der Zerfall der Sowjetunion ungelöste territoriale Probleme hinterlassen, die sich nicht auf diplomatischem Weg hatten lösen lassen. Hinzu kam der Wunsch der Ukraine, Mitglied der NATO zu werden, für Russland – ein Tabubruch. Dies hat in Russland dazu geführt, das Problem nun militärisch anzugehen. Die westliche Werte-orientierte Politik ist für Russland nichts anderes als eine feindliche Kolonialpolitik. Frieden entsteht erst dann, wenn die legitimen Sicherheitsinteressen und die territorialen Interessen Russlands und der Ukraine ausreichend berücksichtigt sind. Diese Denkschule vergleicht den Ukraine-Krieg mit der Kuba-Krise. 1962 hatten die USA mit dem Dritten Weltkrieg gedroht, falls die Sowjetunion ihre Mittelstreckenraketen aus Kuba, die Amerikas Sicherheit unmittelbar bedrohten, nicht abziehen würde.

Die Gegenüberstellung veranschaulicht, wie unterschiedlich die Genese des Konfliktes interpretiert wird. Laut der ersten Argumentationslinie hat Putin den Westen durch jahrelange Täuschungsmanöver hinters Licht geführt. Er spielte russischen Kooperationswillen vor, bis hin zu einem möglichen NATO-Beitritt Russlands, erwirkte durch die Energiepartnerschaft mit dem Westen die notwendige Abhängigkeit der Europäer von russischen Rohstoffen – um zum geeigneten Zeitpunkt zuzuschlagen, um sein eigentliches Ziel, Russlands Großmacht-Ambitionen zu verwirklichen.

Die Wiedereroberung der Ukraine in die russische Einflusssphäre stellte für Russland eine geopolitische Begradigung nach der historischen Niederlage von 1991 dar. Der vor 30 Jahren kurz aufgeflammter Wunsch der russischen Gesellschaft nach Europäisierung, Demokratie und Freiheit, wurde vom Streben nach Größe, Dominanz und staatlicher Ordnungsmacht abgelöst. Russland forderte seinen historischen Platz in Europa als Mitglied des „Konzerts der Mächte“ zurück.

Für Russland und den Westen geht es ums Ganze. Entweder gewinnt Russland seine dominante Großmachtrolle in Europa und der Weltordnung zurück – und der Westen sowie die NATO werden geschwächt und die westliche unipolare Sicherheitsordnung brüchig. Oder aber Russland verliert – und steigt ab auf den Rang einer unbedeutenden, um seine Existenz kämpfende, Regionalmacht.

Der Westen beharrte auf einem europäischen Sicherheitssystem auf den Säulen der NATO und EU, was wiederum Moskau in seinem Selbstverständnis als Großmacht nicht akzeptieren kann.

Kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine legte Putin die Karten offen auf den Tisch: er forderte den Abzug der NATO-Militärinfrastruktur aus Osteuropa, die Rückkehr zur Russland-NATO-Akte 1997, und die dauerhafte Entmilitarisierung der Ukraine. Der Westen wies alle russischen Forderungen zurück und unterstrich damit ein weiteres Mal, dass er nicht gewillt war, irgendetwas an der etablierten Sicherheitsordnung für Europa zu ändern, geschweige, Moskaus Einflusssphäre zu legitimieren. Nach dem Ende des Kalten Krieges folgte die westliche Gemeinschaft, die sich als Sieger der neuen Weltordnung verstand, zwei Primaten: (1) the winner takes it all und „Ein russisches Imperium muss für alle Zeiten verhindert werden.“

Laut der zweiten Argumentationslinie trägt der Westen Mitschuld an der Eskalation des Konflikts. Der Westen behandelte Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht als ebenbürtigen Partner, negierte russische strategische Interessen, und umzingelte Russland mit der NATO-Osterweiterung. Und dies, obwohl Michail Gorbatschow bei seinen Verhandlungen über die deutsche Einheit mündlich versprochen wurde, die NATO nicht auf das Gebiet des Warschauer Paktes auszudehnen.

Tatsache ist, dass die segensreiche Friedensepoche, welche der Westen fast drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges genießen konnte, Jahr für Jahr von neuen Konflikten überschattet wurde. Im Mittelpunkt stand ein Werte- und Systemkonflikt. Eine gemeinsame Friedensarchitektur, errichtet auf den Prinzipien der Pariser Charta (1990), erwies sich frühzeitig als Illusion. In den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg wurde die Welt Zeuge einer viel größeren Anzahl an Kriegen als in der Zeit 1945-90. Zuletzt scheiterte ein russischer Vorschlag, eine neue multipolare Friedensordnung auf dem Reißbrett durch Vermittlung der Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates zu kreieren.

Nun ist das Fenster, das einst Peter der Grosse nach Europa geöffnet hatte, zugeschlagen. Statt einem gemeinsamen Raum von Lissabon bis Wladiwostok, wird die künftige europäische Architektur nach der proklamierten Zeitenwende vermutlich transatlantisch ausgerichtet sein: von Vancouver bis Donezk.

Geopolitische Auswirkungen

Der Konflikt in der Ukraine wurde zum Katalysator für eine radikale Zeitenwende in der Geopolitik und der Geoökonomie. Selten hat die Weltpolitik, ausgelöst durch ein monumentales Ereignis, innerhalb solch kürzester Zeit so tiefgreifende Veränderungen erfahren. Der Erste Weltkrieg begann aufgrund von Serbien, der Zweite Weltkrieg wegen Polen – beginnt der Dritte Weltkrieg in der Ukraine?

Nach einem Viertel des 21. Jahrhunderts ist klar geworden, dass sich der Übergang von einer unipolaren westlich dominierten Weltordnung zu einer multipolaren nicht friedlich gestalten kann. Die nicht-westlichen Mächte kämpfen für eine multipolare Weltordnung, für den Westen ist das eine ernsthafte Bedrohung. Die Gegenstrategie des Westen ist der Kampf der Demokratien gegen die Diktaturen dieser Welt, ganz im Sinne des Postulats vom „Ende der Geschichte“: In der Welt könne es kein besseres System als das liberale geben.

In dieser globalen Auseinandersetzung wird es keinen Gewinner geben. Der Westen bleibt ein geeinter, aber geschwächter Machtblock, vereint in der NATO, EU und Transatlantischen Gemeinschaft. Daneben entsteht ein zweiter Machtblock – sogenannte Eurasische Allianzen, getragen von autoritär regierten Mächten, wie China, Russland, Indien, Türkei, Iran und Nordkorea – die nach einer Vorherrschaft in Asien, Afrika, Eurasien und dem Nahen und Mittleren Osten streben. Die Weltpolitik steht vor einer längeren globalen Auseinandersetzung zwischen Werte-Ideologien und Systemen, vor dem Zerfall der Welt in unterschiedliche Wirtschaft-, Rechts- und Werte-Räume. Dieser Konflikt wird Jahrzehnte dauern.

Europa richtet seine künftige Sicherheitsarchitektur gegen Russland, China und weiterhin gegen den islamischen Extremismus aus – die Feinde der freiheitlichen Ordnung. Der größte Flächenstaat der Erde -Russland – wird vom westlichen Kulturkreis und westlichen Wirtschaftsmärkten abgeriegelt. Realistisch wird das aber nicht gelingen, denn eine Abkapselung Russlands von der Welt kann zwar die G7 ins Auge fassen, doch die G20 wird sie mehrheitlich verhindern. In Asien und der übrigen Welt ist Russland keinesfalls isoliert. Man kann sogar eine geopolitische Konstellation erkennen, wonach Europa und die USA einem „Rest der Welt“ gegenüberstehen.

Ein russisch-chinesisches Militärbündnis bildet sich langsam gegen die NATO in Europa und gegen die von den USA und Großbritannien betriebenen militärischen Allianzen im Südostasiatischen Pazifikraum (AUKUS), heraus. China wird ein Bündnis mit Moskau brauchen, um sich militärisch gegen AUKUS zu behaupten. Gleiches gilt für Russland. Putins zunächst völlig fehlerhafte Ukraine-Strategie führt dazu, dass Russland alsbald von zwei neuen bis auf die Zähne bewaffneten NATO-Staaten Finnland und Ukraine eingekreist werden wird. Zwischen Russen und Ukrainern wird dieser Krieg jahrzehntelangen Hass erzeugen; Putins Überzeugung, die Ostukrainer würden die russischen Invasionstruppen als Befreier empfangen konnte falscher nicht sein.

Der neue Kalte Krieg wird kostspielig und viele Opfer erfordern, die in Russland und im Westen bisher unvorstellbar waren. Unklar bleibt, wie die vom Wohlstand verwöhnten westlichen Gesellschaften auf diese einschneidenden Veränderungen ihrer Lebensstandards reagieren und wie sich mittelfristig die politische Landschaft in Europa gestalten wird. Spaltet sich als Folge der Westen? Die russische Gesellschaft wird sich in den Folgeschäden des Krieges leichter zurechtfinden. Die Tatsache, dass die russische Gesellschaft gegenwärtig auf eine Revision des Zusammenbruchs der Sowjetunion eingeschworen wird und eine überdimensionale nationalistische Identität einnimmt, im Westen derweil das Feindbild Russland feste Konturen annimmt, lässt jegliche Aussicht auf eine Verständigung zwischen Westen und Russland schwinden.

China hat in der jüngsten Geschichte unter der westlichen Kolonisierung gelitten und drängt nun machtpolitisch auf Revanche und einen eigenen Einfluss in der Weltpolitik. Während Russland den Westen geopolitisch bedroht, stellt China für den Westen eine riesige geoökonomische Herausforderung dar.

Geoökonomische Auswirkungen

Die größten Auswirkungen der Zeitenwende ist die russische geoökonomische komplette Umorientierung von der EU nach Asien. Da die Europäische Union sich von russischen Energielieferungen frei machen will, errichtet Russland seine neue Transportinfrastruktur nach China und die Mongolei. Noch beliefert Russland seinen chinesischen Nachbarn mit Gas aus den ostsibirischen Fördergebieten durch die Pipeline „Kraft Sibiriens“. Doch schon in naher Zukunft sollen die Erdgasvorkommen Westsibiriens, die eigentlich für Europa vorgesehen waren, über neue Pipelines nach Osten umgeleitet werden.

Der Westen begann erst spät, die geoökonomischen Folgen des neuen Weltkonflikts zu verstehen. Russlands Angriffskrieg hat Europa in eine Energie- und Rohstoffkrise gestürzt. Es explodieren nicht nur die Strom-, Gas- und Ölpreise, es steht die gesamte Versorgungssicherheit des Industriestandorts Europa auf dem Spiel.  Die Inflation ist hoch und die Rezension bedroht künftig Arbeitsplätze. Denn ohne genügend Gas und mit den höchsten Energiepreisen der Welt, dürften der Wettbewerbsvorteil Europas gegenüber anderen Teilen der Welt schwinden.

Alsbald kommt es zum Schwur. Einerseits gerät die Weltpolitik in den ideologischen Systemwettbewerb: Demokratie versus autoritär geführte Staaten. Doch die Frage, wer in der Welt mächtiger wird – Staaten, die über Energie- und Rohstoffhandel herrschen, oder Staaten mit höher entwickeltem Modernisierungspotential – ist nicht beantwortet. In den vergangenen 500 Jahren fiel die Antwort eindeutig aus: niemand bezweifelte die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens. Die Sowjetunion besaß zwar 16% des weltweiten BIP, war aber aufgrund eigener Misswirtschaft gezwungen, Weizen im Westen zu kaufen. Doch die globalen Spielregeln ändern sich. Möglicherweise hat Putin diesen Umstand früh erkannt und eiskalt ausgenutzt.

Die Welt geht dem Ende der Globalisierung entgegen, begleitet von bahnbrechenden Machtverschiebungen im Regelwerk von WTO, OECD, Weltbank, IWF, OSZE, G7. Die Zukunft der UNO als Weltregierung und Hüterin des Völkerrechts steht auf dem Spiel, wenn zwischen den Hauptakteuren USA, China, Russland und der EU ein gigantisches Kräftemessen ausbricht.

Die Weltwirtschaft steht vor einer dramatischen Regionalisierung. Die BRICS-Staaten – ein Verbund, in dem der Energieriese Russland und die Wirtschaftsmacht China dominieren – kontrollieren inzwischen ein Viertel der Weltwirtschaft und haben zu den USA und der EU (45%) aufgeholt. BRICS und die Staaten der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit schaffen konkurrierende Parallelstrukturen zum Westen, die den Welthandel, die Kredit- und Währungsbeziehungen und die Integrationspolitik bestimmen werden. Die westliche Bevölkerung macht nur ein Siebtel der Weltbevölkerung aus, sie ist weniger als ein Viertel (771 Millionen) der Bevölkerung der BRICS (3,2 Mrd.)

Die demographische Entwicklung in der Welt schwächt eher den Westen. Der Wunsch der USA, unterstützt von der EU, Hegeminialmacht zu bleiben, dafür China und Russland einzuhegen, ist nicht kaum ohne wirtschaftliche Opfer zu realisieren. Der nicht-westliche Teil der Welt fordert die Staaten der Goldenen Milliarde heraus. Der Krieg in der Ukraine wäre nur der Beginn dieser globalen Auseinandersetzung.

Regionalisierung lautet das Schlagwort der geoökonomischen Revolutionierung der Weltwirtschaft. Die dramatische Entflechtung Europas und Asiens wurde zwar schon in der Pandemiephase sichtbar, doch niemand dachte, dass sie sich so konfrontativ gestalten würde. Der bisherige friedliche Ordnungsrahmen, in dem Rohstoffproduzenten und Rohstoffkonsumenten zivilisiert miteinander umgegangen sind, gehört der Vergangenheit an. Der Besitz an Rohstoffvorräten, die Rohstoffabhängigkeiten und die Kontrolle über die technologische Förderung von Rohstoffen, sowie die Aufsicht über globale Rohstofftransportrouten – all dies wird zur entscheidenden Waffe in der neuen weltweiten Auseinandersetzung. Der größte Notleidende dabei ist der Klimawandel.

Die Kontrolle über die Rohstofftransitrouten dürfte zu d e r militärischen Herausforderung im 21. Jahrhundert werden. Der Terroranschlag gegen die Pipelines Nord Stream I und Nord Stream II gehören in diese Kategorie. Die russische Infrastruktur für den Energietransport nach Europa wurde zerstört – höchstwahrscheinlich von den USA, um für die Zukunft jegliche Energiepartnerschaft zwischen Deutschland und Russland zu unterbinden. Tatsächlich ist Deutschland seit Ende 2022 nicht mehr so sehr von russischen Gaslieferungen als von amerikanischen abhängig. Energie als Waffe gegen Europa zu benutzen, wurde in der Vergangenheit Moskau vorgeworfen. In Zukunft werden die Europäer nach Bedarf diese Waffen aus Washington verspüren.

China und Russland haben sich in Fragen der globalen Rohstoffrouten strategisch gut positioniert. Russland hat in der gesamten Welt eine Infrastruktur für den Gashandel geschaffen und wird in Zukunft die Haupttransportroute zwischen Europa und Asien – die zunehmend eisfreie Nordost-Passage – kontrollieren. Die Europäer beziehen Seltene Erden hauptsächlich aus China. Seltene Erden werden für die Herstellung von Microchips, Elektronik und Munition für moderne Waffen gebraucht. Der Nachschub für die westliche Rüstungsindustrie wird weiter über Russland gehen. Der Abtransport der meisten chinesischen Bodenschätze erfolgt über russisches Territorium. Wenn der Westen nicht aufpasst, sind alle Handelswege zwischen Europa und Asien bald in chinesischer bzw. russischer Hand.

In der multipolaren Welt wird der Westen seine Interessen nicht mehr mit den Mitteln von liberalen Werten und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen können, auch wenn die USA gerade dafür kämpfen wollen. Das Recht des Stärkeren entscheidet.

Man stelle sich vor, die beiden Rohstoffsupermächte Russland und China tun sich gegen den Westen zusammen. Oder, umgekehrt, die Technologiesupermächte USA und EU entledigen sich ein für alle Mal den ökonomischen Abhängigkeiten von Russland und China. Die Weltwirtschaft richtet sich auf einen gesplitterten Markt ein. Mit teuren Batterien aus dem Westen sowie Billigwaren aus Asien, wobei China davon am ehesten profitiert.

Tatsache ist, dass Europa strukturell abhängig von Rohstofflieferungen aus anderen Erdteilen bleibt. Insbesondere bei der Veredelung der Metalle kommt Europa nicht an China vorbei. 58% der Lithium- und 75% der globalen Kobaltproduktion kommen aus China. Einzelne Teile der Welt versuchen jetzt resilienter zu werden. Doch die wirtschaftlichen Abhängigkeiten des Westens von China sind nicht zu ersetzen. Von 30 Rohstoffen, die die EU-Kommission als kritisch (wirtschaftlich bedeutsam, hohes Beschaffungsrisiko) einstuft, ist China bei zwei Drittel der größte Produzent. Europa muss in die eigene Rohstoffförderung investieren. Daran geht kein Weg vorbei. Doch einen zweiten Komplettbruch, wie mit Russland, kann sich der Westen gegenüber China nicht leisten. Das betrifft insbesondere Deutschland, denn das Volumen des deutschen Handels mit China übersteigt den Handel mit den Vereinigten Staaten. Was Russland anbetrifft, so hat Deutschland mit diesem östlichen Nachbarn einen deutlich höheren Handel als mit der Türkei, Japan, oder Indien. Grund genug bei solchen Zahlen im Realismus zu verharren.

Die USA handeln: Die US-Regierung will der eigenen Industrie vorschreiben, Rohstoffe nur noch aus befreundeten Ländern zu beziehen. Eigentlich möchte die EU dasselbe mit ihrem „Raw Material Act“ erreichen. Die USA führen einen Exportstopp für den chinesischen Hightechsektor ein. Die Chinesen sollen nicht nur von der gesamten Versorgung mit Chips der jüngsten Generation abgekoppelt werden, sondern als Konkurrent bei Quantencomputern, künstlicher Intelligenz, Biotechnologie und erneuerbaren Energien ausgeschaltet werden. China könne sich allerdings mit einem Angriff auf Taiwan rächen – der Weltwirtschaft würden 90 Prozent ihrer wichtigsten Ressourcen, dem Chip, verloren gehen. Würde die Volksrepublik keine Steckverbinder, Kabel- oder Elektrobauteile mehr nach Westen liefern, würde es zu großen Produktionseinbußen kommen. So wie Energie und Rohstoffe könnten bald Microchips zum Inflationstreiber in den westlichen Volkswirtschaften werden. Aber in den USA ist Wirtschafts- und Sanktionspolitik inzwischen zur Hauptabteilung der Sicherheitspolitik geworden.

In der Not werden, wie zuvor in der Pandemiebekämpfung, alte Prinzipien über Bord geworfen. Die Europäer kehren zum Fracking-Verfahren bei der Erdgas- und Erdölversorgung zurück. Europa will alle notwendigen Seltenen Erden – koste es was es wolle – aus dem eigenen Boden fördern. Stimmen fordern eine Renaissance der Bergbauindustrie in Europa. Können die Menschen bald im Erzgebirge nicht mehr wandern, da überall Schächte ausgegraben werden? Die Veränderung der europäischen Landschaft durch den rasanten Anbau an Windkrafträdern löst seit Jahren Proteste in der örtlichen Bevölkerung aus. Und wenn es in Folge des Frackings zu Erdbeben kommt, wie in den Niederlanden geschehen? Gerichte werden den Minenanbau nach derzeitiger Rechtslage verhindern. Somit ist die Eigenförderung keine Option.

Zur nüchternen Feststellung gehört: Russland wird zwar, aufgrund der Sanktionen den ausbleibenden Technologieimport aus dem Westen mit dem eigenen Wohlstandsverlust teuer bezahlen. Doch den Westen wird der Wegfall von Rohstoffen, sowie der Verlust von Exportmärkten für die eigene Ware und der Verzicht auf Billigproduktion mitten ins Mark treffen. Die geoökonomischen Verwerfungen werden für alles Seiten schmerzhaft sein.

Die jahrzehntelang als erstrebenswerte empfundene Verflechtung „Tausch von Technologie gegen Rohstoffe“ ist passe. Russland und andere unter Sanktionen stehende Staaten wandeln sich zu autarken Selbstversorgern, weil sie nicht mehr an die benötigte Fördertechnik und das Investitionskapital aus dem Westen gelangen. Und umgekehrt, müssen sich die westlichen Staaten künftig die nötigen Rohstoffe in den USA oder bei West-freundlichen Rohstofflieferanten beschaffen, weil die bisherigen Produzenten sie als Druckmittel gegen westliche Sanktionen einsetzen. Die jahrzehntelang bestehenden Lieferketten, Absatzmärkte, Joint Venture: alles was bis dato so einwandfrei funktioniert hat, verliert an strategischer Bedeutung. Die Weltwirtschaft gerät aus den Fugen.

Möglicherweise stehet die Welt am Beginn eines globalen Krieges um Rohstoffe. In Bezug auf das Erdöl war das in der jüngsten Geschichte schon immer der Fall gewesen. Bezeichnend dafür ist der Krieg in der Ukraine. Sollte es Russland gelingen, die Ostukraine ganz zu erobern, würde Kiew zwei Drittel seiner Bodenschätze verlieren. Russland hat die Ukraine vom Schwarzen Meer abgeschnitten und kontrolliert mittlerweile rund 63% der ukrainischen Kohle, elf Prozent des Öls, 20% des Erdgases, 42% der Metalle und 33% der Seltenen Erden. Neben den riesigen Kohlevorkommen gibt es dort Eisenerzvorkommen, die zu den größten Reserven der Welt zählen. Darüber hinaus hat die Ukraine Vorkommen von Aluminium; Titanlegierungen; Edelgase wie Neon, Xenon und Krypton; und verschiedene Kleinmetalle, einschließlich Magnesium, Tantal, Germanium und Siliziummetall. Die Ostukraine ist eines der mineralienreichsten Gebiete in Europa.

Wenn Öl traditionell wegen seiner Bedeutung als „schwarzes Gold“ bezeichnet wird, dann wird Lithium zum „weißen Gold“ dieses Jahrhunderts. Die weltweite Nachfrage nach Lithium könnte bis 2030 um das Fünf- bis Zehnfache steigen. Lithium ist das leichteste Metall der Welt. In der Metallurgie wird es zur Desoxidation und Festigkeit von Legierungen verwendet. In der Optik wird es zur Herstellung von Gläsern verwendet, die vor UV-Strahlen schützen. Darüber hinaus wird es in der Kernkraft und Kerntechnik zur Herstellung eines radioaktiven Wasserstoffisotops – Tritium – verwendet. Doch der Löwenanteil des Lithiums fließt in die Produktion von Lithium-Ionen-Batterien. Die steigende Nachfrage nach Elektrofahrzeugen hat zu einem Anstieg der Lithiumpreise um 400% geführt. Die Preise für Lithiumcarbonat halten sich aufgrund der starken Nachfrage von Herstellern von Lithium-Ionen-Batterien jetzt über 70.000 US-Dollar pro Tonne (von kürzlich etwa 13.000 US-Dollar).

Die größten Lithiumreserven liegen in weit entfernten Ländern, wie etwas Australien, China, Chile oder Brasilien. Die EU will in der geoökonomischen Auseinandersetzung die Abhängigkeiten von unsicheren Drittstaaten reduzieren. Es werden größere Lithiumvorkommen in Südeuropa vermutet, aber auch in Deutschland, beispielsweise in der Tiefebene der Vogesen und im Schwarzwald. Ein Team des Karlsruher Instituts für Technologie hat herausgefunden, dass Deutschland theoretisch bis 4700 Tonnen an Lithium pro Jahr fördern kann. Damit könnte Deutschland 2 bis 13 Prozent seines Jahresbedarfs an Batteriefertigung decken. Das Problem: mögliche Umweltschäden.

Auch in Serbien werden größte Lithiumlager vermutet. Tatsache ist, dass die östlichen Regionen der Ukraine etwa 500.000 Tonnen Lithiumoxid enthalten. In Zukunft werden die ukrainischen Lithiumreserven zu den größten der Welt gehören. Im Gegensatz zu Europa, sind sich Moskau und Washington des geologischen Reichtums der Ukraine für ihre eigenen militärischen Zwecke bewusst. Die 40 Milliarden Dollar, die Washington der Ukraine für den Krieg zur Verfügung gestellt hat, zielen u.a. darauf ab, die Bodenschätze der russischen Kontrolle zu entziehen. Der Gesamtwert der ukrainischen Ressourcen wird auf 7,5 Billionen US-Dollar beziffert. Russlands Krieg in der Ukraine hat den Markt für diese breite Palette kritischer Rohstoffe durcheinandergebracht. Insgesamt hat Russland der Ukraine 80 Prozent ihrer exportfähigen Wirtschaftsleistung weggenommen.

Hier lohnt sich der Blick auf die ukrainische Landwirtschaft. Investoren aus Russland, USA, China und der EU beteiligten sich vor dem Krieg massiv an ukrainischen Agrarbetrieben, bewirtschafteten Ackerland in der fruchtbaren ukrainischen Schwarzerde-Region. Die Konkurrenz zwischen Amerikanern und Chinesen war heftig. Die Kredite, die die Ukraine seit ihrer Westorientierung vom IWF und Weltbank erhielt, wurden gegen Anteile an lokalen Agrarholdings umgetauscht. Ein US-Bericht sprach von „Corporate Takeover of Ukrainian Agriculture” (2014). Hundert Tausende Hektar an Ackerland befinden sich heute in den von Russland annektierten Gebieten.

Ein weiterer geoökonomischer Umbruch steht in der Weltfinanzwirtschaft an. Russland und China betreiben eine schleichende Demontage der weltweiten Dollar-Abhängigkeit. Die Schaffung eines alternativen Finanzsystems ist nur dann realistisch, wenn der gesamte Welthandel vom Kopf auf die Füße gestellt werden könnte. Die BRICS suchen sich dafür Verbündete unter den Schwellenländern, die bereit wären, sich mit den USA anzulegen.

Fairerweise für den Westen sei gesagt, dass Staaten wie Deutschland sich der Rohstoffabhängigkeit seit Langem bewusst sind und sie deshalb die Energiewende einleiteten. Das Embargo gegen russische Energieträger, kann jetzt ohne die Reanimierung von Kohle und Atomenergie nicht ausgeglichen werden. Der Atom- und Kohleausstieg wird in Europa vertagt – mit verheerenden Folgen für die weltweite Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Ein noch radikalerer Umstieg auf grüne Technologien, wie Solarenergie, Windkrafträder, Biomasse, Erdwärme, Wasserstoffe wird nicht funktionieren, weil für ihre Herstellung tonnenweise Rohstoffe benötigt werden – die in der nicht-liberalen Welt sehr schwer zu beschaffen sind. Ein Land wie Kanada, auf dem die europäischen Hoffnungen jetzt ruhen, ist nicht in der Lage, die Rohstofflieferungen aus Russland und China auszugleichen. Für die Herstellung von grünen Technologien werden westlichen Industrieländern auch weiterhin die notwendigen Mineralien, Seltenen Erden und Rohstoffe fehlen.

Politiker fordern eine Rückkehr zur Atomenergie. Dass der Krieg in der Ukraine die größten europäischen Atomkraftwerke in Tschernobyl und Saporosh‘e nicht verschont, hat die Weltöffentlichkeit aufgeschreckt. Doch es herrschen weitere Probleme mit der Atomenergie vor. In Frankreich waren im Spätsommer mehr als die Hälfte der Atomkraftwerke nicht am Netz, hauptsächlich wegen Wartungsarbeiten und wegen des niedrigen Wasserstands in den Flüssen, aus denen sie Kühlwasser entnehmen. Wegen der extremen Dürre im gesamten Alpenraum war die Verfügbarkeit von Wasserkraftwerken außergewöhnlich gering.

Horrormeldungen kommen gerade wie unter einem Brennglas zusammen: Die USA und die EU sind von größeren Uranlieferungen aus Russland abhängig. Russlands Staatsunternehmen Rosatom dominiert den Weltmarkt. Rosatom ist der zweitgrößte Uranproduzent der Welt. Es verfügt über 15 Prozent an der globalen Förderung. Gemeinsam mit Kasachstan beherrscht Russland fast 40 Prozent des Weltmarktes. Bei der Herstellung von angereichertem Uran, das für den Betrieb von Atomkraftwerken benötigt wird, ist die Abhängigkeit noch größer: Über ein Drittel des weltweiten Bedarfs kommt aus Russland. Auch die noch laufenden deutschen AKW werden zum großen Teil damit betrieben. Die EU bezieht 20% des Urans aus Russland, weitere 19% kamen von Russlands Verbündetem Kasachstan.

Die Betreiber von Kernkraftwerken fordern daher die amerikanische Regierung auf, keinen Importstopp für russisches Uran zu verhängen. In den USA werden rund 20 Prozent des Stroms mit Uran aus Russland und seinen Verbündeten Kasachstan und Usbekistan erzeugt. Nur durch die günstige Einfuhr von Uran als Brennstoff für Kernkraftwerke können die Strompreise in den USA auf niedrigem Niveau gehalten werden.

Der französische Krieg in Mali ist eng mit der Rohstoffzufuhr für den Atomstaat Frankreich verbunden. In Mali lagern große Uranvorkommen. Dass Frankreich nun gerade von Russland aus diesem afrikanischen Staat verdrängt wird, ist ein weiteres Merkmal gegenwärtiger Rohstoffkriege.

Eine der Schlüsselfragen wird sein, ob die EU sich gänzlich von russischen Erdgaslieferungen freimachen kann. Die EU hat sich in den vergangenen Jahren freiwillig in eine Abhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen begeben, weil sie a) vom arabischen Öl unabhängiger werden wollte, b) weil das russische Erdgas billig zu haben war, Russland sich als höchst verlässlicher Lieferant zeigte und die europäische Industrie dadurch an Wettbewerbsfähigkeit gewann und c) das ökologisch sauberere Erdgas als Brückenenergieträger beim Übergang von der fossilen Energiewirtschaft zu erneuerbaren Energien betrachtet wurde.

Das russische Erdgas wird künftig aus politischen Gründen nicht mehr als goldener Brückenenergieträger beim diesem Übergang fungieren. Das russische Erdgas verliert seine dominante Stellung in der grünen Energiewende. Die Kohle- und Atomkraftwerke wollte die Politik abschalten und setze bewusst auf das Gas. Jetzt betrachtet der Westen die unheilvolle Abhängigkeit vom russischen Erdgas also einen Kollateralschaden einer unbedacht organisierten Energiewende.

Produzenten und Konsumenten setzen Erdgas als Waffe ein. Amerika, das Russland dafür am lautesten kritisiert, tut es selbst, die EU auch. Die USA versuchen seit Jahren, den Europäern durch Androhung von Sanktionen den Gashandel mit Russland zu untersagen. Dabei steigen sie selbst zum Hauptversorger Europas mit Flüssiggas (LNG) auf. Statt von Russland werden die Europäer künftig von den USA bei Erdgas abhängig sein.

Nach der russischen Invasion in der Ukraine hat der Westen ein Embargo gegen russisches Öl und Kohle beschlossen und durch die Sperrung von Nord Stream II den russischen Gashandel sanktioniert. Die Ukraine und Polen haben wichtige Gazprom-Routen für Lieferungen nach Europa geschlossen – als Waffe gegen Russland. Und Moskau antwortete mit der Drosselung des Gasexports durch die Nord Stream I. Die Gefahr des Gasengpasses wurde in Deutschland zu spät erkannt. Deutschland wollte sich zunächst vom russischen Gasimport vollständig lösen. Berlin dachte so die russische Wirtschaft zu beschädigen. Doch nach erfolgten Kalkulationen stellte Deutschland seine Abhängigkeit vom russischen Gas fest. Die deutsche Industrie würde ohne russische Gaslieferungen zusammenbrechen.

In der kommenden Energiekrise in Europa, ausgelöst durch Gasmangel und steigende Energiepreise, werden westliche Politiker die Schuld für die explosive soziale Lage ausschließlich bei Russland suchen. Russland habe die Gasversorgung nach Europa gestoppt. In Wirklichkeit reagiert Russland mit der Drosselung von Gaslieferungen auf die Sanktionen des Westens und will erreichen, dass Deutschland die Sanktionen gegen die russische Energieförderung aufhebt.

Der Gaskonflikt nimmt immer größere Ausmaße an. Europa ringt um eine Alternative zu russischem Gas. Gleichzeitig kommt es in Bangladesch und Pakistan zu stundenlangen Stromausfällen. Auf behördliche Anordnung müssen die Geschäfte nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen werden, um Strom zu sparen. Der Grund für den Strommangel in den Entwicklungsländern liegt in Europa. Die europäische Nachfrage nach Flüssiggas auf See steigt sprunghaft an. Europa ist bereit, für jeden Tanker mit Flüssiggas jeden Weltmarktpreis zu überbieten. Weil die Asiaten nicht mithalten können, haben die EU-Staaten in den vergangenen Monaten die globalen LNG-Bestände aufgekauft. Europa saugt das gesamte LNG aus der Welt auf. In den betroffenen Ländern wächst der Unmut, in Asien gehen die Lichter aus.

Wegen des Kriegs in der Ukraine gibt es weitere Probleme mit Dünger. Die weltweite Nahrungsmittelversorgung ist an einer empfindlichen Stelle getroffen: Vor allem in ärmeren Teilen der Welt wird Dünger noch knapper und zu teuer für die Bauern. In den Industriestaaten tragen exorbitant hohe Düngerpreise zur Teuerung bei Lebensmitteln bei. Es kommt zu Einbrüchen bei Agrarerträgen und Politiker fürchten als Folge soziale Unruhen. Seit 2020 haben sich demnach im Gefolge der Energiepreise die Preise für Stickstoffdünger vervierfach, für Phosphat und Kali verdreifacht. Russland spielt eine wichtige Rolle auf dem Weltmarkt als Lieferant von Stickstoff, Phosphat und Kali. Aus Erdgas wird bekanntlich Ammoniak hergestellt, das wiederum die wichtigste Zutat für die Herstellung von Stickstoffdünger ist. Der Handel über das Schwarze Meer – eine Hauptroute für Ammoniak-Exporte ist wegen dem Krieg blockiert. Wegen der exorbitanten Erdgaspreise, haben schon im vergangenen Jahr viele Düngerhersteller, wie die BASF, die Produktion gedrosselt. Sollten die Bauern noch weniger düngen, wird noch weniger geerntet werden. In den Ländern, in denen heute der Großteil der Weltbevölkerung lebt, droht eine Hungerkatastrophe.

Während deutsche Autobauer aufgrund steigender Strom- und Gaspreise wieder nach Billigproduktionsorten im Ausland suchen, leiden jetzt Brauereien unter den steigenden Preisen und Lieferengpässen. Kohlensäure, wichtig für die Bierherstellung, ist zur Mangelwaren geworden, weil kein Ammoniak, der für die Erzeugung von Kohlensäure notwendig ist, vorhanden ist.

Die westlichen Industrieländer bekommen wegen der Energiekrise Probleme mit ihren Kläranlagen. Die Füllungsmittel wie Eisen- und Aluminiumsalze, fehlen wegen dem Mangel an Salzsäure, die aufgrund hoher Energiepreise wenige produziert wird. In den Abwässern kommt es zu einer massiven Algenblüte, der Sauerstoffgehalt in den entsprechenden Gewässern fällt, ein Fischsterben ist die unmittelbare Folge. Auch können Reste von Medikamenten und anderen Schadstoffen aus den Kläranlagen nicht richtig entfernt werden.

Russland weiß, dass es über den Erdgashandel die Weltwirtschaft mitbestimmt. Moskau scheint Willens zu sein, seine Rohstoffdominanz mit aller Macht auszuspielen. Russland demonstriert dem Westen, dass es im Stande ist, durch Zurückhalten von Gas Kälte in Europa zu erzeugen und durch Behinderung der Ausfuhr von Weizen und Getreide eine weltweite Nahrungsmittelkrise auszulösen, als dessen Folge eine weltweite Massenflucht entstehen könnte.

Einer der wichtigsten Aspekte der künftigen geoökonomischen Entwicklung ist das Problem Wasser. Die Dürreperioden in Europa nehmen zu, in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten wird Wasser zu einer Überlebensfrage. Russland hat, als größter Flächenstaat, die größten Süßwasser Vorkommen weltweit. Schon in der Zeit der Sowjetunion gab es Pläne, sibirische Flüsse nach Asien abzuleiten, um den dortigen Wassermangel auszugleichen. Wasser wird zu einer der entscheidendsten Rohstoffwaffe der Zukunft werden, sagen Forscher voraus.

Der eigentliche Rohstoffkrieg wird aber ganz woanders stattfinden: in der Arktis und Antarktis. Dort werden riesige Bodenschätze vermutet, insbesondere Vorkommen von Seltener Erde, die den Weltbedarf über Jahrzehnte befriedigen könnten. Die USA und Großbritannien werden mit Australien zusammen die Antarktis für ihre Ziele beanspruchen – Russland und China die Arktis.

Aber der Westen gibt seine Pläne, Russland zu schwächen und die russische Staatskasse auszutrocknen, nicht auf. Die G 7 Staaten verfügten einen Preisdeckel für russische Ölexporte, Russland sollte künftig nur ein begrenzter Ölhandel erlaubt werden. Die G 7 entschloss sich, gegebenenfalls massiven Druck auf Indien und China auszuüben – die Staaten, die westliche Sanktionen gegen Russland im Energiehandel bislang abgelehnt hatten. In der Praxis sollen internationale Reedereien, die Frachtschiffe zur Verfügung stellen, sowie Versicherungsgesellschaften unter Androhung von Strafen dazu gezwungen werden, sich vom russischen Ölexport zu lösen.

Dieser Schritt der G7 war eine Machtprobe vor dem wichtigen G20 Treffen in Asien. Der G20 gehören alle wichtigen Volkswirtschaften an. Diese Organisation wäre dazu prädestiniert, eine Art neue Weltregierung zu werden. Doch der Westen wollte demonstrieren, dass er im internationalen Regelwerk in der Weltwirtschaft seine Gesetze, Werte und Recht durchsetzen kann. Doch eine totale Isolierung Russlands wurde durch diese westliche Politik nicht erreicht, solange Asien sich den Sanktionen nicht anschloss.

Sanktionen

Die interessante Frage lautet, wann, angesichts der mit harten Bandagen geführten Rohstoffkriege, der Westen sich genötigt sehen könnte, Russlandsanktionen wieder aufzuheben. Die Politik wird zwar dagegen sein, aber Tatsache bleibt, dass die Sanktionen gegen Russland nicht zum Zusammenbruch der russischen Wirtschaft geführt haben, wohl aber zum Ende der Globalisierung. Die USA und die EU hatten alle Staaten der Erde in der Vergangenheit in die WTO gedrängt, ihnen Versprechungen über Freihandel gemacht. Und jetzt sind Staaten wie Russland und künftig China verwundbar geworden. Solche Sanktionen, die derzeit gegen Russland erlassen worden sind, sind als Waffe für die Zukunft verbraucht. Jeder Staat wird sich überlegen, ob er sich durch einen Eintritt in das globale Regelwerk so abhängig von Strafaktionen machen will. Trotzdem fragte die Neue Zürcher Zeitung: „Haben wir genug und die richtigen Sanktionen verhängt?“

Keine Frage, die westlichen Sanktionen schaden Russland. Nach Angaben der russischen Statistikbehörde ist das BIP des Landes nach Ausbruch des Krieges um 4% eingebrochen; erwartet wird ein Rückgang von 7%. Die Konsumausgaben der Bevölkerung sind gesunken. Die Inflation beträgt 14%. Die russischen Steuereinnahmen aus Importen sind um 43,7% zurückgegangen, was ein klares Signal dafür gilt, dass die Parallel-Importe nicht funktionieren. Die russischen Lagerbestände an westlichen Waren sind mittlerweile nahezu aufgebraucht. Der Einfuhrstillstand würgt die Wirtschaft ab, auch weil Russland dreißig Jahre lang die eigene Industrieproduktion vernachlässigt hatte, im Glauben, sich auf billigere West-Importe immer verlassen zu können. Die Sanktionen des Westens zeigen also doch ihre Wirkung und Experten sehen voraus, dass Russlands Wirtschaft in die Mangelwirtschaft der 1990er Jahre zurückgeworfen wird.

Russlands Rechnung, dass der Westen die Sanktionen schnell fallen lässt, wird nicht aufgehen. Russland geoökonomische Vorteile gegenüber dem Westen sind kurzfristiger Natur. Europas Industrienationen sind, trotz ihrer Schwächen, resilient. Die EU kann mit einer enormen Kraftanstrengung es bis 2050 schaffen, sich ganz von fossilen Energiestoffen zu lösen und die eigenen Volkswirtschaften auf grüne Technologien umstellen. Das auf reinen Rohstoffexport fixierte russische Wirtschaftsmodell ist der westlichen Marktwirtschaft unterlegen.

Putin glaubt weiterhin, den Weltumbruch zum Vorteil Russlands nutzen zu können. Russland hat keine Furcht, mit Europa zu brechen und sich geoökonomisch nach Asien zurückzuziehen. Die Gefahr, in Asien zum Anhängsel und zur Tankstelle Asiens zu werden, übersieht Moskau. Russlands Orientierung nach Asien, die einer De-Europäisierung gleichkommt, hat einen enormen Preis. Denn Russland hat Milliarden in den europäischen Gasmarkt investiert, der künftig verloren scheint. Oder ist es vorstellbar, dass das weit verzweigte europäische Rohleitungsnetzt zu einer Ruine verkommen wird?

Tatsache bleibt aber, dass am Ende sich die einstigen Partner alle selbst ruinieren. Russland verliert zwar seinen lukrativen westlichen Energieexportmarkt, doch die europäische Wirtschaft verliert an Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand. Die Rohstoff-Engpässe drohen systemrelevante Industriezweige zu vernichten. Die Wirtschaftsexperten von Goldman Sachs prognostizieren eine deutliche Rezension in Europa aufgrund massiver Einschränkungen russischer Gaslieferungen.

Auch der Westen ist, entgegen vieler seiner Aussagen, nicht an einem Komplettbruch mit Russland interessiert. Den Gaseinkauf gestalten europäische Konzerne in Rubel, wie es die russische Regierung fordert, um den Rubel zu stärken. Der Westen wird auch den russischen Nahrungsmittelexport, so wie den Uranexport, von der Sanktionsliste nehmen. Vielleicht muss in Zeiten akuten Gasmangels in Europa die Gasleitung Nord Stream II doch noch in Betrieb genommen werden. Jedenfalls reift im Westen die Erkenntnis heran, dass Sanktionen dem eigenen Wohlstand niemals mehr schaden dürfen als dem Gegner. Zum heutigen Zeitpunkt hat das westliche Energieembargo den Geldfluss an Petrodollars nach Russland nicht gemindert. Im Gegenteil, der Preisanstieg durch die künstlich herbeigeführte Verknappung der fossilen Energieträger hat Russlands Staatskasse wieder gefüllt. Das Gegenteil von dem, was der Westen mit der Sanktionspolitik erreichen wollte.

Fazit

Die geoökonomischen Krisen sind für die Zukunft schwer abzuschätzen. Die Welt wird aber Zeuge von bahnbrechenden geopolitischen Machtverschiebungen, wie wir sie 1815, 1919, 1945 und 1991 gesehen haben. Der Welt drohen permanente Konflikte, die entweder mit einem Sieg des demokratischen Westens gegen den Block der autoritären Staaten enden, oder zu einer neuen Machtverteilung in einer wirklich multipolaren Weltordnung münden.

Die alte Ordnung, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den europäischen und den Weltfrieden mehr oder weniger garantiert hatte, ist definitiv zu Ende. Die geoökonomischen Folgen des Weltumbruchs sind für alle Seiten vernichtend. Die Lebenserhaltungskosten steigen, der westliche Wohlstand kann kaum wie bisher aufrechterhalten werden. Statt Handelsverflechtungen kommt es zu einer Militarisierung in Europa und Asien, die einen weiteren Sargnagel für die Globalisierung bedeutet.

Der 100 Jahre alte Henry Kissinger befürchtet, dass die künftige Weltordnung durch einen Krieg der USA und des Westens mit China und Russland ausgefochten wird. Nach der Entscheidung westlicher Staaten, die Ukraine mit modernstem Kriegsgerät auszustatten, hat diesen Gefahr erhöht. Solange jede konkurrierende Seite vom eigenen Sieg und der Niederlage des Gegners überzeugt ist – und diesen Sieg als moralisch zwingend für sich erachtet -, wird es keine Friedensgespräche geben können.

Russlands Präsident Putin hat sich im Krieg in der Ukraine eindeutig verzockt. Sein Plan, die Ukraine im Blitzkrieg zu erobern, ging nicht auf. Putin überschätzte die Fähigkeiten Russlands und unterschätzte die Kampfkraft der Ukraine. Er überschätzte die Robustheit der russischen Wirtschaft, er rechnete nicht mit der westlichen militärischen Hilfe für die Ukraine, er überschätzte die Unterstützung Russlands durch China. Verloren hat Russland den Konflikt mit dem Westen aber nicht. Im Notfall, wenn es um die eigene Existenz gehen sollte, wird Russland sein Atomwaffenarsenal einsetzen. Eine Katastrophe könnte Russland infolge des Krieges dennoch erleiden: im Innern. Sollte Russland seine Kriegsziele in der Ukraine nicht annähernd erreichen, droht Russland der Verlust des Großmachtstatus. Letzteren wollte Putin gerade über den Sieg über die Ukraine, die NATO und den Westen zementieren. Sein gesamtes Regierungsprogramm seit 20 Jahre sollte der Wiederaufrichtung Russlands als Großmacht dienen. Ein Machtkampf im Kreml, Unruhen in der Gesellschaft, Streit zwischen den Gewaltministerien wären die unmittelbare Folge eines Gesichtsverlustes Russlands in der Ukraine, ein Sturz Putins nicht auszuschließen.

Die EU hat ihrerseits Russlands Wirtschaftskraft unterschätzt; die russische Wirtschaft ist nicht an den Sanktionen kollabiert; sie hat sich erfolgreich diversifiziert. Nachdem Deutschland zu Beginn des Krieges von einer Kapitulation der Ukraine ausgegangen war, hat sich die deutsche Politik nach dem Rückzug der Russen aus Kiew, Charkov und Cherson um 180 Grad gedreht: nun überschätzt Berlin die Kampfkraft der Ukraine und unterschätzt Russland. Seit 30 Jahren wird in westlichen Medien ständig die Mär vom Untergang der russischen Wirtschaft beschrieben. Das Grundwissen über Russland hat im Westen katastrophal abgenommen. Schuld daran ist der sogenannte Triumphalismus (Ende der Geschichte) in den westlichen Führungseliten. Sie sind überheblich, rechthaberisch und haben strategisches Denken gegen einen Wertefundamentalismus eingetauscht. Wirtschaftlich wird Europa in diesem globalen Konflikt ebenso wenig einstürzen, wie Russland. Aber die EU zahlt für ihren Kriegseintritt und die „Ukrainisierung“ europäischer Politik den Preis einer weitgehenden Unterwerfung durch die USA. Statt Eigenständigkeit in der Weltpolitik, ist die EU zur Geisel amerikanisch-britischer Geopolitik geworden, ohne dass dies den europäischen Eliten bewusst ist.

Abzuschließend ein passender Bibelspruch: „Denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Putin hat sein Volk auf einen neuen Vaterländischen Krieg eingeschworen. In der Ostukraine betrachtet Russland die besetzten Gebiete als Teil Russlands. Putin hat aus einer offensiven speziellen Militäroperation zur Bestrafung der Ukraine einen Verteidigungskrieg der Russen gegen den „satanistischen Westen“ ausgerufen. Ohne einen Sieg kann Putin den Krieg nicht beenden. Eine Niederlage würde sein persönliches Schicksal besiegeln. Stürzt Putin Russland, welches er über den Krieg zur Grossmacht führen wollte, um die Schande des Zerfalls der Sowjetunion wettzumachen, in eine zweite geopolitische Katastrophe?

Im Westen spielen die Führungseliten ebenfalls verrückt. Die seit Jahrzehnten berechtigte Angst vor dem Atomtod ist einem Bellizismus gewichen, der an die Zeit in Europa vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Der Westen ist zu einer Kriegspartei des „fremden Blutzolls“ geworden. Die Ukraine wird bedingungslos im Krieg unterstützt, die hohen ukrainischen Opferzahlen werden nicht wahrgenommen. Die USA interessiert die Ukraine nur am Rande. Das geopolitische Ziel der USA ist es, durch diesen Abnutzungskrieg, in dem keine westlichen Soldaten sterben müssen, Russlands Macht, koste es was es wolle, auf viele Jahre hinaus zu schwächen und es in die frühen 1990er Jahre zurück zu katapultieren. Damit wäre Russland als geopolitischer Rivale der USA ausgeschaltet.

(Prof. hon. Alexander Rahr, Vorsitzender der Eurasien Gesellschaft, Historiker, Buchautor, u. a. Der 8. Mai. Geschichte eines Tages [2020]; Senior Research Fellow des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik.)

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