Eurasische Zäsuren: Peking als Mittler zwischen Teheran und Riad

Eurasische Zäsuren: Peking als Mittler zwischen Teheran und Riad

Ein Gastbeitrag von Dr. Hans-Ulrich Seidt

Nahöstliche Friedensschlüsse wurden früher in Washington gefeiert. Nun reichten sich am 10. März 2023 die Außenminister Saudi-Arabiens und Irans in Peking die Hand. Wie kommt es zu dieser tektonischen Verschiebung der Geopolitik?

Rückzug des Westens

Im August 2021 endete die von den USA geführte Afghanistan-Intervention des Westens unter katastrophalen Umständen. Dabei hatte schon 1912 der amerikanische Geopolitiker Homer Lea auf zwei Städte hingewiesen, die über Erfolg oder Niedergang großer Reiche entscheiden: „Herat ist ein solcher Ort, Kabul ein anderer. In der ganzen Welt gibt es nicht zwei Orte, die ihnen an Bedeutung gleichkommen.“

Kurz nach dem Fall Kabuls stellte die New York Times ernüchtert fest, die „indispensable nation“ müsse von ihren Träumen Abschied nehmen. Der amerikanische Wunsch, nach eigenem Vorbild weltweit Bürgerrechte und religiöse Toleranz durchzusetzen, sei am Hindukusch gescheitert.

Welche Folgen der Autoritätsverfall Washingtons hat, zeigte sich ein Jahr später. Seit der Begegnung Franklin D. Roosevelts mit König Ibn Saud im Februar 1945 galt Saudi-Arabien als ein Anker amerikanischer Weltmachtstellung. Doch als im Juli 2022 Präsident Biden zu einem Besuch in das Königreich aufbrach, waren die bilateralen Beziehungen bereits zum Zerreisen gespannt.

Ende einer privilegierten Partnerschaft

Biden hatte in der Annahme, die Bedeutung Saudi-Arabiens sei im Schwinden und das Land brauche auch in Zukunft amerikanischen Schutz gegen den Erz-Rivalen Iran, im Wahlkampf 2020 den saudischen Kronprinzen öffentlich für die Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi verantwortlich gemacht. Er bezeichnete Mohammed bin Salman als Paria, als Ausgestoßenen, und ermöglichte als Präsident die Veröffentlichung eines Geheimdienstberichts, der den Thronfolger der Mitwisserschaft am blutigen Komplott beschuldigte.

Doch nach Putins Angriff auf die Ukraine trieben westliche Sanktionen gegen Russland die Öl- und Gaspreise auf dem Weltmarkt nach oben. Vor den Kongresswahlen 2022 stieg die Inflationsrate in den USA rasch an, gleichzeitig gingen die Umfragewerte Bidens und seiner demokratischen Partei nach unten. Vergeblich versuchte der US-Präsident, den von ihm gebrandmarkten Kronprinzen telefonisch zur Erhöhung der saudischen Erdölproduktion zu veranlassen. Aber der nahm die Anrufe nicht entgegen.

Als Biden sich entschloss, selbst nach Riad zu reisen, endete die Begegnung der beiden Kontrahenten mit einer diplomatischen Katastrophe. Die US-Administration versuchte, die Saudis vor und während der präsidentiellen Visite zur Normalisierung der Beziehungen mit Israel zu bewegen. Dagegen verlangte die saudische Regierung einen amerikanischen Beitrag zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Amerikanische Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen quittierten die Saudis mit dem Verweis auf amerikanische Misshandlungen im Irak und israelische Repressionen gegen die Palästinenser. Und schließlich weigerte sich Mohammed bin Salman, die saudische Erdölproduktion zu erhöhen und gemeinsam Front gegen Moskau und Peking zu machen. Damit endete die politische Sonderbeziehung, die Washington über Generationen hinweg mit Riad verbunden hatte: Mohammed bin Salman respektierte den als Bittsteller angereisten US-Präsidenten nicht mehr als den Schutzherrn des Königreichs.

Der lächelnde Dritte

Gleichwohl benötigt das reiche und trotz massiver Waffenkäufe militärisch schwache Saudi-Arabien auch weiterhin die schützende Anlehnung an eine Weltmacht. Russland, zu dessen Präsident der saudische Thronfolger gute Beziehungen pflegt, kam dafür nicht mehr in Frage, nachdem der russische Angriff auf die Ukraine sich als schwerwiegender politisch-strategischer Fehler erwies.

Spätestens im Spätsommer 2022 wurde mit dem Übergang zum verlustreichen Abnutzungskrieg im Südosten der Ukraine deutlich, dass Putin mit seiner Angriffsentscheidung Russlands Stellung als eurasische Großmacht aufs Spiel gesetzt und dabei wohl verloren hatte: Im September 2022 war Moskau bei der 22. Jahrestagung der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) nur noch der Juniorpartner Pekings. Putins Fehlkalkül und Bidens Demütigung machten Chinas Präsidenten Xi Jinping zum lächelnden Dritten.

Nachdem Washington in Afghanistan die strategische Drehscheibe Asiens geräumt und seine jahrzehntelange Vorrangstellung auf der arabischen Halbinsel eingebüßt hatte, öffneten sich nun die Tore für die Verwirklichung chinesischer Pläne. Sie erfassen große Teile der eurasischen Landmasse, über die China im Wettbewerb mit den USA seinen ökonomischen und sicherheitspolitischen Einfluss ausdehnen will. Dazu nutzt Peking nicht zuletzt die SCO, deren Mitgliedsstaaten und Dialogpartner sich in Samarkand um Xi Jinping versammelt hatten.

Ein nützliches Instrument

Im Westen wurde die zunehmende Bedeutung der SCO lange nicht wahrgenommen, doch bietet sie der chinesischen Diplomatie mehr Wirkungsmöglichkeiten als von vielen erwartet. 2001 von China, Russland und vier zentralasiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion gegründet, schlossen sich in der Folgezeit auch Indien und Pakistan dem immer stärker von Peking dominierten multilateralen Verbund als Vollmitglieder an.

Während des Treffens in Samarkand im September 2022 beantragte der Iran die Vollmitgliedschaft. Teheran hatte sich nach der Aufkündigung des Nuklearabkommens JCPOA durch Washington seit 2017 nach Osten orientiert. Nun konnte Peking beginnen, im multilateralen Rahmen der SCO und im Schatten des Ukraine-Krieges zielstrebig seinen ökonomischen und politischen Einfluss Richtung Golf auszubauen.

Im Dezember 2022 besuchte Xi Jinping Saudi-Arabien. In deutlichem Gegensatz zur Visite Bidens verliefen seine Gespräche mit Mohammad bin Salman in harmonischer Atmosphäre. Dabei wurde auch über eine künftige Mitgliedschaft in der SCO gesprochen. Mohammad bin Salman kündigte an, das Königreich werde möglichst bald den Status eines Dialogpartners mit dem Ziel der Vollmitgliedschaft beantragen.

Peking – Teheran – Riad

Danach führte die diskrete und effiziente chinesische Diplomatie zu einem beachtlichen Erfolg. Am 6. März 2023 trafen sich Vertreter Teherans und Riads in Peking und vier Tage später gaben in der chinesischen Hauptstadt die beiden Außenminister bekannt, als Ergebnis der chinesischen Vermittlung wollten ihre Regierungen wieder diplomatische Beziehungen aufnehmen. Gemeinsam sollten bilaterale Streitfragen beigelegt und ein Ende der Stellvertreterkriege im Jemen und in Syrien ermöglicht werden.

Im Jemen beruhigte sich danach die Lage rasch und der saudische König lud den iranischen Präsidenten ein, nach dem Fastenmonat Ramadan Saudi-Arabien zu besuchen. Saudische Regierungsvertreter sprachen mit der von Teheran militärisch und politisch unterstützen syrischen Regierung über eine Normalisierung der bilateralen Beziehungen. Am 29. März 2023 stellte dann Riad offiziell den Antrag, Dialogpartner der SCO zu werden. Und schließlich kündete unter saudischem Einfluss die OPEC zum Verdruss Washingtons an, zur Preisstabilisierung täglich mehr als eine Million Barrel Rohöl vom Weltmarkt zu nehmen.

Die Sorgen der anderen

Israel und die USA beobachten diese Entwicklung genau. Öffentlich spielen sie ihre Bedeutung herunter, nehmen sie aber intern sehr ernst. Bei einer Fortsetzung der von Peking vermittelten Annäherung der beiden Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran muss Washington mit einem beschleunigten Einflussverlust im Nahen und Mittleren Osten rechnen; denn als Friedensstifter gewinnt Peking nicht nur Ansehen und Vertrauen, sondern auch die attraktive Möglichkeit, das chinesische Seidenstraßen-Programm mit der von Mohammed bin Salman forcierten Vision 2030, einem ökonomischen Mega-Projekt auf der arabischen Halbinsel, zu verbinden.

In Israel, aufgrund seiner Sonderbeziehung zu den USA weiter die stärkste Regionalmacht im Nahen Osten, wird angesichts der problematischen Politik der Regierung Netanjahu eine zunehmende Solidarisierung der arabischen Staaten und der islamischen Welt gegen den jüdischen Staat befürchtet.

Saudi-Arabien, das durch den Ausgleich mit Iran politischen Handlungsspielraum auch gegenüber Israel gewinnt, wird im Mai Gastgeber des nächsten Gipfeltreffens der Arabischen Liga sein. Es zeichnet sich ab, dass bei dieser Gelegenheit Mohammed bin Salman seine politische Führungsrolle betonen und, wie von Ägypten und den Vereinigen Arabischen Emiraten bereits befürwortet, die offizielle Rückkehr Syriens in die Arabische Liga ermöglichen will.

Die USA haben gegenüber Jordanien bereits deutlich gemacht, dass sie ein Ende der Isolierung Syriens nicht wünschen. Dabei ist Amman nicht die einzige Hauptstadt, in der über die künftige Politik gegenüber Damaskus nachgedacht wird. Auch das NATO-Mitglied Türkei prüft gegenwärtig, ob und unter welchen Voraussetzungen die 2012 abgebrochenen bilateralen Beziehungen mit Syrien wieder aufgenommen werden können.

Perspektiven und Optionen

Die geopolitischen Zäsuren der beiden vergangenen Jahre verändern die internationale Kräftebilanz im Nahen und Mittleren Osten, der künftig wohl immer häufiger mit dem von Peking präferierten und geopolitisch durchaus zutreffenden Begriff „Westasien“ bezeichnet werden wird. Der Einfluss der USA schwindet, die einst verfeindeten Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien nähern sich dank chinesischer Vermittlung an. Zwar wird ihre Rivalität auch in Zukunft spürbar bleiben, sich jedoch in einem diplomatisch geregelten und damit international verträglichen Rahmen bewegen.

Die Reise des saudischen Außenministers nach Damaskus und sein Treffen mit Präsident Bashar al-Asad am 18. April 2023 und die nahezu zeitgleichen Besuche des syrischen Außenministers in Tunis und Algerien lassen erkennen, dass die politische und wirtschaftliche Isolierung Syriens zumindest im regionalen Kontext in absehbarer Zeit enden wird. Ohne die Weichenstellung in Peking am 10. März 2023 wäre es zu dieser Entwicklung nicht gekommen.

Damit ist der von Pekings Diplomatie im vergangenen Jahr erzielte politische Mehrwert beträchtlich. Er stimuliert den amerikanisch-chinesischen Wettbewerb, der vor allem im indo-pazifischen Raum noch an Intensität gewinnen wird. Aber dort war und ist auch unabhängig von den Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten mit zunehmenden Spannungen zu rechnen.

In der Europäischen Union sind außerhalb von Paris weder der Wunsch noch die Fähigkeit zu strategischer Autonomie vorhanden. Aber die Möglichkeit einer realistischen Lagebeurteilung ist gegeben. Auf ihrer Grundlage sollte in Brüssel und Berlin unter Berücksichtigung der eigenen Interessen ernsthaft überlegt werden, welche handlungsleitenden Folgerungen sich aus der veränderten Situation in einer wichtigen Nachbarregion und der Profilierung Pekings als Vermittler ergeben. Bei der Prüfung von Optionen sollte nicht von vornherein eine Vorgehensweise ausgeschlossen werden, die auf Ausgleich, Zusammenarbeit und gemeinsame Sicherheit mit den Staaten der Region zielt. Sie könnte sich am Ende als wirkungsvoller und erfolgreicher erweisen als eine vom Gedanken prinzipieller Systemkonkurrenz mit Peking bestimmte Konfrontationsstrategie.

Dieser Artikel erschien in kürzerer Fassung zunächst am 20.4.2023 in CICERO-online“

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