Interview mit Dr. Alexander Rahr: „Alle historischen, geopolitischen Ansichten und Theorien von Eurasien sind veraltet. Im 19. und 20. Jahrhundert war Eurasien eine Chimäre.“

Interview mit Dr. Alexander Rahr: „Alle historischen, geopolitischen Ansichten und Theorien von Eurasien sind veraltet. Im 19. und 20. Jahrhundert war Eurasien eine Chimäre.“

Global Review hatte ein weiteres Mal die Ehre mit einem der ehemaligen Putin- und Gazpromberater, sowie Mitglied des Valdai Clubs, Dr. Alexander Rahr ein Interview über Russland als Kolonialmacht, die Sowjetunion als postkoloniale Macht, Eurasien und Okzidentalismus zu führen.

Global Review: Herr Professor Rahr, die Diskussion im Westen dreht sich darum, inwieweit Russland schon immer imperial war, das letzte Kolonialreich der Welt sei, ob ein nichtimperiales Russland überhaupt möglich sei. Damit wird auch verbunden, dass man den Kampf der Ukraine als nationale Befreiungsbewegung und quasi als antikolonialen Kampf gegen Russland begreift. Wir wollen hier einmal dies anhand der Positionen auf linker Seite angesichts eines grundlegenden Artikels in der Jungle World diskutieren und passagenweise abarbeiten:

„Das ewige Kolonialreich

Für Solidarität mit der Ukraine werden Antikolonialismus und Antiimperialismus neu belebt

Linke Solidarität mit der Ukraine im derzeitigen Krieg beruft sich oftmals darauf, gegen Russland eine antiimperialistische oder antikolonialis­tische Haltung einzunehmen. Doch sind deren Begriffe angesichts der russischen Geschichte durchaus fragwürdig und es droht außerdem, dass die linke Romantisierung von nationalen Befreiungsbewegungen sich wiederholt.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 hat die Linke weltweit vor theoretische wie praktische Probleme gestellt. Die lassen sich mit zwei Fragen umreißen: »Was geschieht?« Und: »Was tun?« Vor allem Links­alternative, Postautonome und Anarchist:innen in Europa beantworten das mit einer Wiederbelebung und Neuausrichtung antiimperialistischer und antikolonialer Politik und fokussieren auf den russischen Imperialismus und Kolonialismus.

Was die beiden Begriffe in diesem Kontext bedeuten, wird, abseits von englisch- oder russischsprachigen akademischen Veröffentlichungen, kaum diskutiert. Der Aufruf »Für einen solidarischen Antiimperialismus« beispielsweise, mit dem im August 2022 ein linkes Autor:innenkollektiv aus der Ukraine, Russland, Polen, Deutschland, Österreich und der Schweiz in der Wochenzeitung Analyse & Kritik für eine linke Unterstützung des ukrainischen Verteidigungskampfs plädierte, kommt ohne jede spezifische Bezugnahme auf historische oder neuere Versuche aus, Imperialismus als spezifische Form kapitalistischer Verhältnisse theoretisch zu fassen.

Noch dünner wird es, wenn die Rede auf den russischen Kolonialismus kommt. So mutmaßt zum Beispiel die Taz anlässlich einer Ausstellung von Künstler:innen ethnischer Minderheiten in Russland, dass eine Been­digung des Ukraine-Krieges »nur über die Überwindung des kolonialen und imperialen Geists dieses letzten großen Kolonialreichs zu erreichen« sei. Fundierte Diskussionen werden hierzu kaum geführt. Stattdessen wird der Krieg Russlands gegen die Ukraine häufig in eine angebliche Kontinuität militärischer Unternehmungen wie der Eroberung des Nordkaukasus im 19. Jahrhundert, der Annexion der baltischen Staaten und Bessarabiens 1939, des Einmarschs in Afghanistan 1979, der militärischen Niederschlagung des tschetschenischen Separatismus in den neunziger und frühen nuller Jahren und des Kriegs mit Georgien 2008 gestellt. In dieser Betrachtung sind das zaristische Russland, die Sowjetunion und das heutige Russland nur Aggregatzustände eines überhistorischen russischen Kolonialismus und Imperialismus.

Sozialismus, ­nationale Befreiung und Modernisierung 

Durch detailliertere Argumente wird diese Behauptung selten unterlegt. In der Regel begnügen sich die Ver­tret­er:in­nen dieser Position mit dem Verweis auf die russische Dominanz in den fraglichen multiethnischen Staaten und die Gewaltförmigkeit der jeweiligen Herrschaft. Diese Betrachtung übersieht jedoch die qualitativen Unterschiede zwischen diesen Herrschaften.

Im Zarenreich waren die zunehmende staatliche Durchdringung und wirtschaftliche Nutzbarmachung des feudal beherrschten Landes und die Eroberung und Kolonisierung angrenzender Gebiete viel enger miteinander verbunden, als dies beispielsweise in den Kolonien Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands der Fall war. Die So­wjetunion war unter den so geschaffenen Bedingungen der Versuch der Bolschewiki, angelehnt an Ideen, die die österreichische Sozialdemokratie im Vielvölkerreich der Habsburgermonarchie entwickelt hatte, Sozialismus, ­nationale Befreiung und Modernisierung zu verbinden. Damit konnten sie durchaus Anhänger:innen unter nichtrussischen Bevölkerungen gewinnen.

Die enorme Gewalt, die die sowjetische Gesellschaft von der Oktoberrevolution bis in die fünfziger Jahre prägte, ist kein Beleg für deren kolonialen Charakter. In vieler Hinsicht weist die Gewaltgeschichte der Sowjetunion eher Ähnlichkeiten mit der anderer postkolonialer Modernisierungsregime, vor allem in Asien und Afrika, auf. Dass mit dem Georgier Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili (Josef Stalin) und dem Mingrelier Lawrentij Berija (der seit 1938 die »Säuberungen« leitete) zwei Angehörige vermeintlich kolonialisierter Völker in der repressivsten Phase der Sowjetunion die zentralen staatlichen Machtpositionen besetzten, lässt sich so auch besser erklären.“

Inwieweit war nun die Ukraine Rus, eigenständiger Staat oder Kolonie Russlands? Putin meint ja, dass es kein ukrainisches Volk, sondern nur ein russisches Volk in der Ukraine gebe.

Dr. Rahr: Ohne mich der Kritik des Revisionismus auszusetzen, betone ich vorweg, dass ich In unserem Interview keinesfalls die Argumentationskette von Vladimir Putin übernehme. Putin hat historisch irgendwo recht, aber politisch unrecht. Die Sowjetunion ist zerfallen – Punkt. Es gibt eine unabhängige Ukraine – Punkt. Grenzen gewaltsam in Europa zu verändern verstößt gegen das Völkerrecht – Punkt. Über die Geschichtsschreibung und die Existenz oder Nichtexistenz der Ukraine können wir uns aber im akademischen Sinn gerne unterhalten. Verboten ist das ja nicht. 

Die Kiewer Rus’, der erste ostslawische Staat, wurde bekanntlich von den Wikingern etabliert, wobei die römischen Byzantiner hier identitätsstiftend wirkten. Beide sind Paten des 1000jährigen russischen Reiches. Dieser ostslawische Kiewer Staat zerfiel in nur 100 Jahren, der Teil der Rus‘, den man heute als West-ukrainischen bezeichnen kann, driftete nach Polen, die anderen Gebiete im Norden und Osten entwickelten sich über 500 Jahre zum russischen Imperium. Ich hoffe, dass das dem geschätzten Leser nicht unbekannt ist. Während der inmitten dieser Epoche fast 300jährigen Mongolenherrschaft, unterstanden die riesigen Gebiete der heutigen Ukraine der Goldenen Horde und kamen anschließend ins Osmanische Reich. Erst Zarin Katharinas endgültiger Sieg über das Osmanische Reich in der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts, führte dazu, dass der östliche und zentrale Teil der heutigen Ukraine, natürlich auch die Krim und Odessa, nach Russland kamen und dort russische Städte, Garnisonen entstanden, geprägt von einer russischen Hochkultur.  Die „Ukraine“ bedeutet im Russischen „Grenzland“, also Provinz im weiteren Sinne. Das ist nichts Niederträchtiges, sondern war historisch bedingt. Das was heute die zentrale und östliche Ukraine angeht, so wurden diese Ländereien neu-Russland genannt. Es stimmt nicht, dass sich dort eine ukrainische Identität als Gegenidee zur russischen entwickelt hat. Auch später nicht in Zeiten der Sowjetunion. 

Die eigentliche Kernukraine ist die heutige Westukraine, die die russische Kultur und Vormachtstellung ablehnte. Aber die Ukraine war bis 1991 niemals ein eigenständiger Staat, auch die Westgebiete gehörten zu Polen und Österreich-Ungarn gehörten. Die westliche moderne Geschichtsschreibung kann das alles nicht widerlegen. Während also die heutige Ostukraine, Kiew, Odessa, Kharkov und die meiste Landfläche der heutigen Ukraine über 100 Jahre zum Russischen Zarenreich gehörten und 80 Jahre zur UdSSR, entwickelte sich – ich wiederhole mich, damit es verständlicher wird – in der heutigen ein typisch europäischer Nationalstaatsgedanke, gepaart mit dem Wunsch nach Eigenstaatlichkeit, aber vor allem von Polen und Österreich-Ungarn. Allerdings sollten wir unseren Lesern nicht vorenthalten, dass Polen, nachdem es zwischen Deutschland und Russland aufgeteilt war, zum großen Teil, faktisch von Katharina der Großen bis zum Ersten Weltkrieg , sich im Russischen Imperium befand. 

Waren Russland und die spätere Sowjetunion also typische Kolonialreiche, die sich auf Eroberungen fremder Gebiete stützten? Die westliche Geschichtsschreibung sagt ja. Ich sage nö. Bitte unterstellen Sie mir nicht, ein russischer Nationalist zu sein, wenn ich behaupte, dass das russische Imperium ein besonderes historisches Gebilde war, eher mit dem Römischen Reich und Byzanz zu vergleichen, als mit den expansiven Kolonialreichen der Westeuropäer. 

Während die westukrainischen Eliten nach der Unabhängigkeit 1991 den russischen Kolonialismus als größte Tragik für die ukrainische Geschichte betrachten, und ihre Identität auf einer totalen Ablehnung allen Russischen aufbauen, ist diese Attitüde der Bevölkerung in Kiew, Kharkov, Cherson, Donetsk, Luhansk, Odessa fremd. Dort verhält sich die russischsprachige Bevölkerung sehr distanziert zum nationalen Ukrainertum, wie er in der Westukraine ausgeprägt ist. Allerdings will der Großteil dieser Menschen in der 1991 neugeschaffenen Ukraine als Staat leben und eben nicht in Russland. Putins grandioser Fehler bei der Invasion am 24.2.2022 war, dass er diese Tatsache nicht sehen wollte, obwohl das offensichtlich war. Er denkt bis heute imperial, dass der Großteil der Bevölkerung der Ukraine sich aus historischen Gründen nach Russland zurücksehnt. Er bekämpft die westukrainische nationale Staatsideologie, die er mit dem Nationalsozialismus gleichsetzt. Er denkt, die Westukrainer hätten das, was unter Zarin Katharina zu Neurussland wurde, unrechtmäßig okkupiert. Der Großteil der Russen in seinem Land denkt aber so. Welche Folgen der Ukraine-Krieg auf die Beziehungen zwischen den Ukrainern und Russen haben werden, wie die geschundene Ukraine nach dem Krieg aussehen wird, kann man aber erahnen. 

Global Review: Wie wurden das Baltikum, die zentralasiatischen Staaten, Belarus und die Ukraine Teile der Sowjetunion? Durch Revolution oder durch Eroberung und Annektion? Und inwieweit verstand sich die Sowjetunion als russisch oder eben nicht nur kommunistisch, zudem eben wie gesagt ein Georgier wie Stalin oder ein ethnischer Minderheitenvertreter wie Berija in höchste Ämter kommen konnten, ohne Russen zu sein? Wie stand es mit den ehemalige muslimische Teilrepubliken? Klaus Mehnert schrieb das Buch „Der Sowjetmensch“, in der er meinte, ein neuer homo sovjeticus ohne jegliches russisches Erbe sei entstanden., ein neuer Mensch, von dem ja auch Mao und Che Guevara träumte Umgekehrt berief sich Stalin ja im Zweiten Weltkrieg auf den Großen Vaterländischen Krieg. War das Vaterland dann russisch oder zaristisch oder sowjetisch oder nur kommunistisch und wie nahmen das die nichtrussischen Minderheiten und Teilrepubliken auf?

Dr. Rahr: Um diese Frage zu beantworten, müssen wir wieder zur Zarin Katharina zurückgehen. Vom 18 Jahrhundert bis Ende des 20. Jahrhunderts dominierte in der heutigen Ukraine, aber auch im Baltikum, in Zentralasien und dem Kaukasus die russische Kultur. Russische Städte wurden gebaut, es entstanden orthodoxe Kirchen und Gemeinden, Garnisonen zum Schutz Russlands von außen. In diese Gebiete des erweiterten bzw. von den Osmanen eroberten Staatsterritoriums siedelten massenhaft Russen aus dem Kernland. Sie bildeten dort die Intelligenz und die Herrschaftselite, mit Ausnahme des Baltikums, wo der dort seit Jahrzehnten lebende deutsche Adel sich freiwillig dem Dienst für den Zaren verpflichtete. Nochmals die Frage: Kann man von der Ukraine als Kolonie Russlands sprechen? Ich denke nein, aber ich schließe mich hier gerne einer akademischen Diskussion an. Erinnern möchte ich daran, wenn Sie erlauben, dass es bis zur Oktoberrevolution und dem folgenden Zerfall und Wiederaufbau des Staates (ab 1920 im Mantel der Sowjetunion) zum keine klassischen militärischen Eroberungen ukrainische Territoriums durch Russland gab. Der Beitritt der Kosaken, die das „Grenzland“ besiedelten, erfolgte freiwillig – aus Schutz vor den Osmanen. Ja, anfangs der jüngeren Geschichte fanden auf dem Territorium der heutigen Ukraine Auseinandersetzungen statt, aber es ging dabei nicht um Angriffskriege, sondern um Aufteilung von Einflusssphären zwischen Russland und Polen-Litauen. Ach ja, Polen, das hatte ich schon gesagt, war im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein Teil des russischen Imperiums, aber auch Polen war keine Kolonie der Russen, wie afrikanische Länder Kolonien westeuropäischer Möchte gewesen sind. Die Sowjetunion, erlauben Sie mir noch die abschließende Bemerkung, war übrigens kein typisches Kolonialreich, sondern ein sozialistisches ideologisches Staatssystem, in dem – das wird Sie überraschen – die russische Teilrepublik selbst rechtlos war. Herrschten die Russen über die anderen Völker nach dem Vorbild des westlichen Kolonialismus in Afrika, Ostasien und Orient? Auch auf die Gefahr hin, dass ich als russischer Nationalist betrachtet werde, sage ich nein. Typisches Beispiel: von den Staatsführern der Sowjetunion waren Chruschtschow und Breschnew Ukrainer, Stalin war Georgier – nur Lenin und Gorbatschow waren Russen. Wir können und müssen uns ernsthaft darüber streiten, ob Lenin, Trotzki und Stalin die sich nach der Oktoberrevolution für unabhängig erklärten Ukraine, Baltikum, Zentralasien und Kaukasus wieder gewaltsam kolonisierten, oder aber innerhalb dieser Nationen selbst kommunistische Kräfte wirkten, die in die Sowjetunion, als einen neuen Arbeiter- und Bauernstaat, wollten? Die Sowjetunion schuf in der Tat einen neuen Menschen, den Homo Sovieticus, der anti-kapitalistisch, anti-imperialistisch und anti-nationalistisch erzogen wurde. Wir haben uns im Westen, vor allem nach der Wende, viel zu wenig mit diesem Phänomen beschäftigt.

Global Review: Inwieweit könnte man Stalin, Mao und die ganzen aus den nationalen Befreiungsbewegungen hervorgegangen kommunistischen Führer auch als Nationalbolschewisten bezeichnen. Trotzki und Lenin hatten ja zuerst noch auf Weltrevolution, Arbeiterklasse und Revolutionen in Europa und den entwickeltesten imperialistischen Ländern durch die Arbeiterklasse gehofft, so auch in Deutschland. Als dies scheiterte, schwenkte die Komintern unter Lenin noch Richtung Asien und Kolonien als „schwächste Glieder des Imperialismus“ um,  um die kapitalistische Zentren durch nationale Befreiungsbewegungen zu  Fall zu bringen. Antikolonialismus und Antiimperialismus. Wobei Trotzki dies ablehnte, auch das Bündnis zwischen kommunistischer Partei Chinas und der Nationalpartei KMT unter Sun Yatsen und Tschiang Kaitschek, bei der Stalin die KMT bevorzugte, bis dieser den Putsch gegen die KP China samt Shanghai-Massaker anrichtete. Jedenfalls setzte Trotzki noch auf proletarische Weltrevolution, während Stalin eher auf „Sozialismus in einem Land“, Unterstützung von nationalen Befreiungsbewegungen , militärische Annektionen setzte.Jedenfalls fusionierte die Sowjetunion unter Stalin und Mao nicht zu einem Riesensowjet, wie dann auch nicht die anderen kommunistischen Staaten in einen Block, auch die osteuropäischen Staaten und Ostdeutschland wurde zwar dem Comecon und dem Warschauer Pakt einverleibt, aber nicht Sowjetunion. Inwieweit waren die Sowjetkommunisten Nationalbolschewisten?

Dr. Rahr: Stalin war, aus heutiger Sicht, ein eindeutiger Nationalbolschewik. Den Sowjetkommunismus hatte Lenin mit ins Grab genommen und Trotzki ins Exil. Stalin erkannte während der ersten Schlachten des Zweiten Weltkriegs, dass das russische Volk nicht für die fremden kommunistischen Ideale kämpfen wollte. Also verbündete er sich mit der orthodoxen Kirche, liess die alten Heiligenbilder des zaristischen Russlands wieder herrichten und hob nach dem Ende des Krieges den berühmten Toast auf das russische (nicht sowjetische) Volk. Historiker werden in einigen Jahrzehnten bei dem Studium der Sowjetgeschichte feststellen, dass der Kommunismus in Russland mit dem Zweiten Weltkrieg endete. Das Gerede vom realen Sozialismus, dem Sieg über den US-Imperialismus, die Unterstützung der Befreiungskriege in Asien, Afrika, Lateinamerika – da war doch keine Rede mehr von einer kommunistischen Weltrevolution. Das Sowjetsystem, ohne Ideologie, sollte als Machtfaktor in jedem pro-sowjetischen Staat errichtet werden, aber individuell, gemäß den nationalen Begebenheiten des entsprechenden Landes. In der Breschnew Ära wurde die UdSSR von Technokraten und Pragmatikern, nicht mehr von Ideologen regiert (mit Ausnahme von Suslow). Nach dem Tod Breschnews versuchte Andropow aus der UdSSR eine starke Nationalkraft zu machen, er liebäugelte mit liberalen Reformen und dem Übergang von der Parteidiktatur zur Idee eines starken Staates ohne Ideologie. Gorbatschow war naiv genug zu glauben, er könne den Marxismus Leninismus wieder modernisieren. Die Elite folgte ihm nicht mehr. Putin ist heute ein überzeugter Antikommunist. Er beschimpft Lenin und wütet gegen Chruschtschow. Dabei will er das alte Imperium wieder aufrichten, aber wiederum ohne Ideologie, auf der Basis russischer nationaler Interessen.  

Global Review: Die Frage ist auch, ob die Sowjetunion als „kolonial“ oder „postkolonial“ einzuschätzen ist  Auch warnt die Jungle World vor einer Idealisierung der Ukraine als nationale Befreiungsbewegung angesichts der Erfahrungen mit bisherigen Befreiungsbewegungen, wenngleich sie nicht ein mal die Roten Khmer oder Maos Guerilla anführt oder auf den Banderra-Kult oder andere nationalistische oder faschistische Elemente in der Ukraine verweist:

Dass die Sowjetunion eher eine postkoloniale als eine koloniale Gesellschaft war, zeigt sich auch in ihrem Scheitern: Viele der aus ihr hervorgegangenen postsozialistische Gesellschaften weisen frappierende Ähnlichkeiten zu den gescheiterten postkolonialen Modernisierungsregimen im arabischen Raum auf. Dass die Annahme, die Sowjetunion und das heutige Russland seien koloniale Gesellschaften, in linken Kreisen eine gewisse Relevanz gewinnen konnte, verwundert nicht. Die Dominanz postkolonialer Theorien im linken akademischen Betrieb und der vorherrschende Blick auf den sowjetischen Realsozialismus, der diesen auf seine Repressionsgeschichte reduziert, spielen hierfür eine wichtige Rolle. So ist es aber, zumindest in Deutschland, auch ein Resultat abgebrochener Diskussionen.

In vieler Hinsicht weist die Gewalt­geschichte der Sowjetunion Ähnlich­keiten mit der anderer postkolonialer Modernisierungs­regime, vor allem in Asien und Afrika, auf.

Für die westdeutsche radikale Linke war die positive Bezugnahme auf antikoloniale, antiimperialistische Kämpfe ein konstitutiver Bestandteil des eigenen Weltbilds. Die Erschütterung von 1989/1990, die ja nicht nur die realsozialistischen Staaten betraf, sondern auch die linken nationalen Befreiungsbewegungen, die sich explizit oder implizit auf diese bezogen, stellte dieses Weltbild in Frage. Bewegungen, auf die kurz zuvor noch Revolutionshoffnungen projiziert wurden, transformierten sich zu so korrupten wie repressiven Regierungsparteien – wie der ANC in Südafrika oder die Sandinisten in Nicaragua – oder religiösen Mörderbanden – wie die PLO und die PFLP in Palästina – und bestenfalls zu sozialdemokratischen Parteien wie die FMLN in El Salvador. In dieser Situation wurde Kritik am Konzept nationaler Befreiung und an der »antiimperialistischen ­Solidarität« lauter. Im Bewusstsein der meisten Linken dürfte von dieser Aus­einandersetzung mit dem klassischen linken Antiimperialismus vor allem die Kritik an dessen inhärentem Antiamerikanismus hängengeblieben sein.“

Wie bewerten Sie diese Einschätzung?

Dr. Rahr: Dr. Rahr: Die Rückkehr zur Diskussion, ob Russland bzw. die Sowjetunion ein Kolonialmacht, wie das Britische Empire, oder das Osmanische Reich war, ist nicht uninteressant. Eine solche Debatte ist keineswegs neu und ist legitim. Nur muss beachtet werden, dass diese Diskussion stets aus dem bestehenden Zeitgeist heraus geführt wird. Dass das zaristische Russland ein mit den westlichen Kolonialreichen vergleichbares Imperium war, sei dahingestellt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 haben sich bekanntermaßen die neuen unabhängigen Staaten eine postkoloniale Identität gegeben. Aber der Satz „Russland ist an unserer Kolonisierung schuld“ ertönt nur im Baltikum und der Westukraine. In den anderen Ppostsowjetischen Ländern gibt es dagegen eine positive Akzeptanz für das gemeinsame historische Erbe. Wir sollten nicht vergessen, dass die Länder des Kaukasus und Zentralasiens freiwillig und aus Schutzbedürfnissen nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches ein Teil Russlands wurden. Auch in der Ostukraine, Moldawien und Belarus spricht man heute positiv über das geneinsame Zusammenleben in der sozialistischen Sowjetunion. Die äußerst Russland-kritische westliche Betrachtungsweise negiert das absichtlich. 

Global Review: Desweiteren wird behauptet, dass nationale Befreiungsbewegungen, die in armen Ländern an die Macht kommen, Gewalt nicht um der Gewalt willen ausüben, sondern, um die Nation zu sichern, gegebenenfalls eine Industrialisierung überhaupt erst möglich zu machen. Dies scheint ja auch im Falle der Sowjetunion der Fall zu sein, wenn man sich den Bürgerkrieg und die Industrialisierung unter Stalin, die Linie des Sozialismus in einem Land samt Kollektivierung und Industrialisierung , weswegen auch alle Opposition, auch die Linke unter den Internationalisten Trotzkis beseitigt wurde. So ähnlich auch die Jungle World:

»Gerd Albartus ist tot« 

Doch die Kritik am Antiimperialismus und an der Idee nationaler Befreiung ging darüber hinaus und stellte diese Konzepte so grundlegend in Frage, dass auch eine Wiederbelebung eines vom Antiamerikanismus bereinigten Antiimperialismus, wie sie derzeit in Folge des Kriegs in der Ukraine zu erleben ist, nur schwer vorstellbar war. Um sich das zu vergegenwärtigen, muss man zunächst einen Blick zurück auf den alten Antiimperialismus werfen. Dieser und ein sich auf nationale Befreiung konzentrierender Antikolonialismus koppelten die soziale Befreiung unmittelbar an die Erlangung staatlicher Souveränität.

Die Revolutionären Zellen (RZ) schrieben bereits 1987 in ihrem Papier »Gerd Albartus ist tot« selbstkritisch: »Die Beendigung der Fremdherrschaft, so dachten wir, sei gleichbedeutend mit dem Beginn der sozialen Revolution.« Kritiker:innen des Antiimperialismus erkannten nun, dass die Herstellung nationaler Souveränität Gewalt nicht nur nach außen, sondern auch nach innen erfordert, die Gesellschaft zu formieren und Klassenwidersprüche repressiv und ideologisch einzuhegen und zu unterdrücken. Dieses dem postkolonialen nation buildinginhärente Gewaltpotential ­ergibt sich nicht aus Verrat oder Dummheit der Verantwortlichen, sondern aus dem Zwang zur Kapitalakkumulation und der internationalen Konkurrenz. Denn nationale Befreiung zielt letztlich nicht auf die Überwindung des Kapitalverhältnisses ab, sondern auf die Etablierung neuer ideeller Gesamtkapitalisten.

Weil Antiimperialismus und Antikolonialismus sich auf nationale Kollektive als Protagonisten beziehen, sind sie im Ernstfall notwendig reaktionär. Im Interesse des Bestehens oder der Etablierung eines souveränen Staates und des Siegs über ein Imperium müssen zwangsläufig innere Konflikte hintangestellt werden. Soziale Bewegungen, die die vermeintliche nationale Einheit dennoch in Frage stellen, müssen demnach niedergeschlagen werden. Und gleichzeitig erfordert das Interesse der unabhängigen Nation zumeist Bündnisse mit sehr unsympathischen Leuten.“

Inwieweit würden Sie dem zustimmen?

Dr.Rahr: Ich meine, dass die künftige Welt ohne einer linken Idee – so wie sie von der Französischen Revolution vertreten wurde – nicht auskommen kann. Ich will nicht in die Vergangenheit schauen. Der traditionelle Sozialismus ist verbraucht, siehe das Desinteresse an den alten marxistischen Ideen überall auf der Welt. Trotzdem wird es eine globale Bewegung früher oder später gehen die Herrschenden geben, dazu ist die Welt sozial zu ungerecht. 

Global Review: Nach dem bisher gängigen Terminus Orientalismus hat Harald Stutte nun den Begriff des Okzidentalismus in die Diskussion eingeführt, den vereinigenden Hass auf alles sogenannt Westliche, Liberale, Demokratische -und der soll früher seine Wurzeln vor allem auch in Deutschland gehabt haben, das damals noch nicht „der Westen“ war. Heute vor allem verkörpert in der AfD und Höcke, Wagenknecht, russophilen und sinophilen Linken und Bildungsbürgern. In Deutschland war der Widerstand gegen die aus den USA kommende „Modernisierung“ sehr stark. Das bezog aber nicht nur Nazis ein, sondern auch Autoren wie Thomas Mann. Deutschland verstand sich mal als Hüter der alten europäischen Kulturtradition oder auch Hermann Hesse, der US-Einflüsse im Steppenwolf bejammerte, wie auch das angeblich nicht- materialistische spirituelle Indien, wobei ein Buch des Suhrkampverlags ihm andichten wollte, dass er mehr Chinafan und dessen Buddhismus und Daoismus gewesen sei.

Hier hatte ja auch Putin und Yakunins Dialogue of Civilization angesetzt, eine angebliche gemeinsame europäische christliche Kultur ohne Aufklärung, Gewaltenteilung, liberalen und demokratischen Ideen der französischen Revolution, bestenfalls der Renaissance, schon gar ohne Amerikanisierung oder American way of life. Dies versucht ja nun auch Orban mit seiner antiliberalen Thinktank und Elitekaderschmiede, dem Mathias Corvenius College, das mehr Gelder als alle ungarischen Universitäten bekommt, nun Soros Open Society Foundation zurückrollen will, auch für Trumpisten und Republikaner wie auch die europäische Rechte die Anlaufstelle ist. Matthias Corvinius war der damalige ungarische König, der die Habsburger unter Friedrich dem 3, wie auch das Osmanische Reich besiegte, ein Großreich wollte und ein Förderer des Renaissance war. Zurück zur Renaissance des Christentums ohne demokratische oder gar liberale Ideen und zu alten großen Reichen. So auch China mit seiner neuen Karte oder Putin oder nun auch Modi, der nach Umbenennung Bombays in Mumbai oder dem Neubau von Neu Delhi auch den Namen Indien durch „Bahrat“ ersetzen. Erdogan hat nun Türkei und Turkey abgeschafft, nicht nur weil man das Land für einen vom US- Präsidenten zu Thanks Giving zu begnadigenden Schlachttruthahn verwechseln könnte und nun offizielle Türkiye erkannt als Ausdruck für seine Hybridreich aus Pantürkentum und Neoosmanischem Reichsidee, die AKP und MHP/Graue Wölfe zusammen vertreten. Ist dieser Okzidentalismus das ideologische Rückgrat des russischen Dialogue of Civilizations und von Xis Global Civilization Initiative, die auch Xivilization Initiative genannt wird und verspricht der Clash of Civilitazions ala Huntington zu beenden? Inwieweit geht es überhaupt um Kulturkreise, was soll sie verbinden, ist Kultur überhaupt so vereinend und bedeutend oder nicht ideologisches window dressing für neoimperialistische Expansionsforderungen oder sind es nicht eher nationale Interessen, die miteinander, wenn sie Reichsideen wollen, dann gerade in Konflikt miteinander kommen, wie z.B. dass Xi nicht zum G20-Gipfel nach Indien fährt und neue Gebietsansprüche gegenüber Indien mit der neuen Karte stellt, während Modi Indien in Bharat umbenennen will?

Dr. Rahr: Ich kann an dieser Stelle nur aus eigenen Erfahrungen der Teilnahme an den Dialog of Civilizations Konferenzen berichten, die der Oligarch Jakunin jedes Jahr auf Rhodos abgehalten hat. Dort wurde ernsthaft versucht, einen Inter-Kulturellen Dialog zwischen den Liberalen Westlern, dem Islam, dem Judaismus und China in die Wege zu leiten. Leider wurden die Veranstaltungen von den westlichen Medien niedergeschrieben, weil man vermutete, dass Jakunin üble russische Propaganda betreiben wollte, was er definitiv nicht tat. Ich habe von den Erfahrungen der Konferenzen persönlich sehr profitiert, verstanden, wie die nichtwestliche Welt uns in Europa sieht, wo es Kooperationsmöglichkeiten gibt und wo noch Gesprächsbedarf herrscht. Jedenfalls schien mir die Jakunin Veranstaltung konstruktiver für den globalen Dialog als die oberlehrerhaften Konferenzen westlicher Finanziers in Davos oder die Münchner Sicherheitskonferenz. Ich habe such mitgenommen, dass die westliche Werte-Politik, die ja als ausschließlich tituliert wird, in der Weltordnung von morgen untergehen wird. Ohne einen Interessensausgleich zwischen den verschiedenen Großmächten werden wir keine globale Friedensordnung schaffen. Der Westen muss dabei gar nicht deine Prinzipien aufgeben, das wäre fatal. Nur muss er lernen, anderen zuzuhören. 

Global Review: Der ehemalige deutsche Botschafter in Russland von Studtnitz ist der Ansicht, dass Putin nicht wie die Sowjetuinon agieren und systematisch Regierungen stürzen und Stellvertreter einsetzen wolle, sondern mit Wagner in Afrika vor allem destabilisierend wirken wolle, Fluchtwellen produzieren wolle. Thomas Lennartz , Chief Officer des Middle East and Oriental Security Analysts und des Special Warfare Intelligence and Analysis Centre sieht dies anders, spricht von chinesischem und russischem Neokolonialismus und Neoimperialismus und fast dies so zusammen „Wir beobachten weltweit schon länger eine neue Entwicklung. Der „globale Süden“ und insbesondere Afrika, genauer Westafrika, beginnt dem Westen und seinen Werten, wie Demokratie und Menschenrechten, zu entgleiten. Vor allen das System Françafrique scheint am Ende. China und Russland strecken ihre Hände nach diesen Ländern aus. Russland aktuell, um dem Westen seit seinem Überfall auf die Ukraine eine neue Front entgegen zu setzen, China will Bodenschätze. Wo Geldgeschenke aus Gewinnen mit dem Handel aus den westlichen Industriestaaten an die lokalen Kleptokraten, ob Weiße in Südamerika oder Schwarze in Afrika, nicht ausreichen, wird die Unzufriedenheit junger, teils auf Militärakademien in Russland und China ausgebildeter, Militärs genutzt, um Regierungen, die Frankreich oder dem Westen wohl gesonnen waren, wegzuputschen. Hierbei gehen die beiden Mächte teilweise mit der gleichen schamlosen Offenheit vor, die die alten Kolonialmächte bis in die Mitte des vergangenen Jahrhunderts selber an den Tag gelegt haben. Inzwischen hat der Westen mit von eigenen westlichen interessierten Kreisen sorgsam gepflegtem schlechtem Gewissen und teilweise echtem Schuldbewusstsein Milliarden in den „globalen Süden“ vergeblich investiert. Die beiden Akteure Russland und China hingegen agieren mit den Begriffen Rassismus und Neokolonialismus, um ihren eigenen Rassismus und Neokolonialismus gegenüber der Bevölkerung in den Objekten ihrer Begierde zu kaschieren, der in dem russischen Kolonialreich gegenüber den nicht-russischen Ethnien eine lange Tradition hat und sich in China gegenüber den Uiguren und Tibetern seit Jahrzehnten Bahn bricht.Es wird Zeit, dass die Demokratien des Westens wieder vom Beobachter zum Akteur werden, selbst auf die Gefahr hin, dass sie – oft von ihren eigenen naiven Predigern und politischen Minderheiten – lautstark als Rassisten und Neokolonialisten diffamiert werden.“ 

Stimmen Sie dem zu?

Dr. Rahr: Sie fragen mich als Historiker und Analytiker. Ich müsste Ihnen eigentlich eine Antwort geben: Demokratie muss immer siegen, weil es anderen Systemen moralisch überlegen ist. Doch die Antwort wird anders ausfallen. Der Globale Süden wird stärker, geoökonomisch und geopolitisch. Die Anstöße für zukünftige Zivilisationen werden aus dem Global South und nicht mehr vom Westen kommen. Die EU wird sich mit den USA zur Schicksalsgemeinschaft verbinden, aber eher in die Defensive kommen. China steigt zur zweiten, vielleicht ersten Supermacht auf. BRICS wird ein alternatives Finanzsystem und vielleicht sogar eine alternative UNO kreieren. Die Welt wird -ganz nach der Orwellschen Formel – trilateral. Ich habe das ausführlich in meinem Roman „2054“ beschrieben. Die Friedensperiode der Nachkriegszeit ist zu Ende, nicht erst am 24.2.2023, sondern am 11.9.2001. Russland und die EU sind die Verlierer des Bruchs der europäischen Sicherheitsordnung, die USA und China die globalen Gewinner. Die USA beherrschen die Europäer wie noch nie, die Chinesen dominieren in Asien und im Orient.   

Global Review: Während alles auf Wagner fixiert ist und diese für eine regelrechte Wundertruppe hält, fällt doch auf, dass etwa Thomas Lennartz auch sein Augenmerk auf die angeblich zunehmende Ausbildung von Militäreliten des Global South oder Afrikas an russischen und chinesischen Militärakademien, auch im Rahmen von Xis Global Security Initiative. Ebenso war interessant, dass Putin beim Russland- Afrikagipfel in St. Petersburg davon sprach, dass er angeblich mit 40 afrikanischen Saaten Militärabkommen abgeschlossen hätte? Ist eine neue School of America zu befürchten, in der die zukünftige Putschoffiziere nach amerikanischen Vorbild ausgebildet und gewonnen werden? Oder nach der zwischen Lenin und Sun Yatsen gegründeten Whampo-Akademie, in der KMT- Truppen und KP- Truppe gemeinsam ausgebildet wurden unter Tschiang Kaitschek und Zhou Enlai? Unklar bleibt, ws die Schlussfolgerung ist? Soll der Westen neben Landes- und Bündnisverteidigung, die er gerade wieder aufbauen muss, die desaströse out- of area- Demokratisierungskriege wie im Irak und Afghanistan wieder aufnehmen? Wie ist das einzuschätzen?

Dr. Rahr: Diese Frage kann erst nach dem Ende des Ukraine-Krieges beantwortet werden. Wenn die Ukraine gewinnt, wird der Westen gewillt sein, den Kampf der Demokratien gegen Diktaturen unter US-Führung fortzusetzen, mit einer neuen Dynamik was Regime Change Strategien in der nichtwestlichen Welt angeht. Sollte Russland gewinnen, wäre der Westen angeschlagen und möglicherweise die NATO in ihrem heutigen Status in Frage gestellt. Die Frage lautet auch, um sich der Westen angesichts seiner wirtschaftlichen Krisen überhaupt eine expansionistische Wertepolitik leisten kann. Ich bin da skeptisch. Wir stehen vor einem Weltenumbruch, der um vieles dramatischer, gefährlicher und substantieller Natur sein wird, als der von uns erlebte Umbruch 1989/91. 

Global Review: Die BRICS wurden nun zur BRICS plus erweitert. Saudiarabien, Iran, Ägypten, die VAE, Äthiopien und Argentinien wurden neu aufgenommen. Weitere Länder haben ihr Interesse bekundet. Gleichzeitig kommt es zu erheblichen Spannungen zwischen China und Indien, da China Xi erstmals nicht dem G-20- Gipfel in Indien nicht beiwohnen möchte und eine neue Karte herausgegeben hat mit Gebietsansprüchen im Indopazifik und auch gegenüber Indien, was Modi erbost. Wie einig ist überhaupt die BRICS plus. Kann das überhaupt ein antiwestlicher Block werden, wenn die zwei größten Mitglieder sich schon so zerstreiten? Und welche Rolle spielt Russland darin.

Dr. Rahr: Man gerät politisch in die Defensive, wenn man hierzulande argumentiert, dass der Global South, die Schanghai Organisation für Zusammenarbeit, die BRICS und die G20 gegenüber der G7, EU und NATO an Stärke und Übergewicht gewinnen wird. Die einen statistischen Zahlen sprechen von der wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens. Andere Zahlen behaupten das Gegenteil. Ich bleibe bei meiner Theorie, dass der Westen, vielmehr die EU, vom Abstieg betroffen ist. Inwieweit die asiatischen Staaten sich zu einem echten Wirtschaftsblock verbinden, ist noch ungewiss. In der Tat bleibt bei vielen Staaten des Global South tiefe Skepsis gegenüber China. Der Westen versucht derzeit mit allen diplomatischen Mitteln die BRICS zu spalten, doch bisher ohne Erfolg. Im Gegenteil, der Druck auf den Westen, den Sicherheitsrat der UNO zu reformieren und die westliche Dominanz dort zu vermindern, wächst. Der US-Dollar gewinnt nicht mehr an Stärke, obwohl er als globale Leitwährung noch konkurrenzlos ist. Wir befinden uns in einer Zwischenphase, die weitere Entwicklung hängt von so vielen unbekannten Variablen ab. Eine der Variablen ist die Machtposition Amerikas. 

Global Review: Sie leiten nun den Eurasischen Club. Welche Idee von Eurasiertum haben Sie und Ihr Club im Sinn? Primakow sprach ja von RIC (Russland, Indien, China), inzwischen gibt es BRICS plus. Aber ursprünglich war ja bei Mackinder Europa das Herzland und Sie plädieren ja eher für eine Art Europäisches Haus ala Gorbatschow oder einen Eurasische Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok oder eben von Lissabon bis Shanghai. Wesitlciherseits hatte die eurasische Idee ja vor allem ausgehend von Frankreich infolge von George W. Bush jr und dem Irakkrieg 2003 einen Hype, als Emanuell Todd in seinem Buch „Weltmacht Amerika- ein Nachruf“unter Berufung auf Putins Bundestagsrede 2001 einen europäisch-russischen Wirtschafts- und Militäraillianz forderte. Schröder versuchte dann die G 7 um Russland und China zu einer G9 zu eurasisieren, wobei Deutschland da den ehrlichen Makler spielen sollte, wie auch mit einem deutschen Sitz im UN- Sicherheitsrat belohnt werden sollte. Ist ein solches Eurasisertum überhaupt noch friedlich denkbar oder wäre es nur unter Le Pen und der AfD zu verwirklichen? Sehe das dann so aus wie in folgendem Text: 

“I had a dream“- a new German and Eurasian dream as the new heartland

Jaja, die guten alten Zeiten des eurasischen Platzes an der Sonne mit deutschem Sitz im UNO-Sicherheitsrat und einer multipolaren Welt von Gazprom-Gerd-Weltpolitik at its best und nun eben der neue AfD-Wunschtraum ,wenn Höcke und Gas-Gerd und Wagenknecht mit Putin und Xi zum Jahrestag des Hitler-Stalinpakt auf der Ehrentribüne bei der Miltärparade zum Glorreichen Großen Antifaschistischen Vaterländischen Krieg auf dem Roten Platz zusammenthronen. Der Global South ist zu den BRICS übergelaufen, der Green Deal tot, das OPEC plus- Resoure Empire und die Ölmultis blühe auf und haben Friday for Future getötet, der Klimawandel wird offiziell für beendet erklärt und Xi finanziert das dann all diese schönen Tankstellen und Rohstofflagerstaaten, Nordstream 1 und Nordstream 2 werden wieder in Betrieb genommen, Nordstream 3 und 4 gebaut, CO2 wird in gigantischem Maße eingelagert oder die Sonneneinstrahlung und der Klimawandel mittels Geoengineering und richtigen Chemtrails verhindert.Natürlich sind die Amis dann vom Weltglobe verschwunden, haben Mac Kinder, Mahan und Brzezinski vergessen und zu den Akten in Geschichtsmuseen gelegt. Carl Schmitts Großraumordnung und „Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ wird in Europa, Indopazifik und dem Global South durchgesetzt: Afrika den Afrikanern (Panafrikanismus) , Arabien den Arabern (Panarabismus), Ummah und Panislamsimus (nach dem Saudiarabien- Irandeal und dem neuen Westfälischen Frieden zwischen Schiitentum und Sunnitentum unter Chinas Mediation- aber mit Ausnahme des Islamischen Staats, Al Qaida und der Uiguren, ja vielleicht auch der Rohingyas), Asien den Asiaten (Panasianismus ala Parag Khanna „DIe Zukunkt ist asiatisch“), Lateinamerika den Lateinamerikanern (frei nach Bolivar und Che Guevara als umgedrehte Monroe- Doktrin „Yankee go home!“), Europe den Europäern (Paneuropa) oder Eurasien den Eurasiern ( Eurasiansimus) und/oder Deutschland den Deutschen. Und alles ethnopluralistisch ala Alain Benoist. Xivilisation beendet dann den Clash of Civilizations. „Ami go home“ ( Titel von Oskar Lafontaines neuem Buch). Nicht mehr America first, sondern USA alone. Heritage Foundation, AEI, Brookings Institute, Jamestown Foundation, Hoover Institute werden von Konfuziusinstituten finanziert, altmodische liberale Demokratie und Menschenrechte endlich abgeschafft, die Dollarhegemonie ist gefallen und nach Trump machen die USA den NATO-Exit und verziehen sich friedlich auf ihre Insel, nachdem die Chinesen sie mittels Global Security Initiative, Global Development Initiative samt BRI ( das um neue Infrastrukturprogramm entlang der Neuen Seidenstraße für Konzentrationslager, Gefängnisse und Folterkeller erweitert wird, als auch um Katastrophenschutbauten wegen des nicht mehr stattfinden zu habenden Klimawandels) und Global Civilization Initiative unter den Xi- Jinping-Gedanken samt XI statt KI umzingelt und auch aus dem Indopazifik und dem Cyberspace und auch aus dem Weltraum rausgedrängt haben wie Brexit-Global Britain und auch Australien bleibt dann down under auf seiner Insel, bis die ersten chinesischen Marines landen werden.The Eurasian dream,dies mal dann mit dem Chinese dream, Xivilization und den Xi Jinping-Gedanken als das Heartland. Ein Vorgeschmack deutscher Traumforschung des German Dreams, der German Angst vertreibt.“

Welche andere Entwicklung wäre möglich, zumal  Brzezinski ja sagte, dass die USA alles verhindern müssen, dass eine neue Macht in Eurasien entsteht? Oder hofft man, dass 2024 mit einer Wiederwahl Trumps der politische game changer für eine eurasische Lösung kommen wird?

Dr.Rahr: Alle historischen, geopolitischen Ansichten und Theorien von Eurasien sind veraltet. Im 19. und 20. Jahrhundert war Eurasien eine Chimäre. Eurasien existierte nur in der Theorie, heute bildet sich auf dem Territorium, welches geographisch Eurasien umfasst, ein weltpolitisches Machtzentrum, das das Potential besitzt, einen politischen Gegenentwurf zum Westen zu schaffen. Ich meine das chinesisch-russische Bündnis, den Aufstieg Zentralasiens, welches jahrhundertelang nur ein Dasein als Peripherie fristete. Heute ist Zentralasien ein Subjekt, kein Objekt der Weltpolitik.Intellektuelle in Berlin haben sich in der Eurasischen Gesellschaft vereinigt, um die hochinteressanten Prozesse in Eurasien zu verfolgen. Unser Ziel ist es, ein Think Tank zur Erforschung Eurasiens zu werden. Wir erfreuen uns regen Zulaufs. 

Global Review: Konfuzius sagte einmal, nur wenn die Begriffe stimmen, kann die Welt geordnet werde. Nun werden diese wahrlos gedehnt und taktisch, ja vielleicht auch strategisch umgelogen und offen gelassen. So ist interessant, dass das Zentralorgan der kubanischen KP Gramna nun verkündete, dass Kuba Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion geworden sei, wie auch Venezuela einen Aufnahmeantrag gestellt hat. Eurasien scheint wirklich groß und scheint neuerdings auch in der Karibik und Lateinamerika zu liegen oder ist das dann auch „russische Welt? Ein russischer Historiker fabulierte zudem dass die Russen bis nach Portugal gesiedelt hätten und die Westeuropäer nebst den Osteuropäern eigentlich russischstämmig seien, ohne dass sie das wüssten, weswegen Russland diese ethnischen Russen wieder ins Reich heimholen müsste. Immerhin gibt es noch nicht biologistische Rassentheorien in Russland, wo Russen wie bei Hitler der Sprachstamm der Arier in eine Rasse umgelogen wird. Erdogan behauptet auch, dass die Entdecker Amerikas nicht die Wikinger oder Kolumbus waren, sondern muslimische Seefahrer, wofür eine angebliche Moschee auf Kuba Beweis sei. Postkoloniale, postmoderne LGBTIQ- Genderfeminist*innen behaupten, dass der Sklavenhandel eine europäische Erfindung sei, obgleich es dies auch schon unter Arabern , Afrikanern zuvor gab, wie auch Sklavenhaltergesellschaften weltweit und sei es schon bei den Mayas. Ein amerikanischer Freund stellte scherzhaft daraufhin eine sehr nette und interessante geschichtsrevisionistischen These  auf. Wenn Putin behauptet, dass die Ukrainer russisches Volk wären, könnte man ja umgekehrt behaupten, dass Russland auf dem Rus in der Ukraine gewachsen sei, dass durch skandinavische Wikinger besiedelt und generiert wurde. Von daher sei Russland eigentlich ukrainisch und skandinavisch, nordmenschig, ja vielleicht auch gleich mal arisch, weswegen die Ukrainer und die Skandinavier ,zumal auch noch als Neumitglieder der NATO das Recht hätten, die ukrainische Ruswelt wiederherzustellen und sich Russland zurückzuerobern oder eine Art ukrainischen Rus nun mithilfe der mit den Ukrainern kämpfenden Ruspartisanen um Belgograd als Anfang wiederherzustellen. Also wenn schon Geschichtsrevisionismus, dann aber gescheit. Von Moskau lernen, heißt siegen lernen. Von Purin lernen , heißt siegen lernen. Was halten Sie vom russischen und eurasischen Geschichtsrevisionismus? Sollte man nicht einfach mal den Spieß umdrehen?

Dr. Rahr: Wir erleben noch keinen echten Geschichtsrevisionismus, Geschichte wird gerade überall neu geschrieben – in Russland und im Westen. Was letztendlich dabei rauskommt, ist Sache künftiger Historiker. Heute werden zunächst Narrative geschrieben, die Narrative kämpfen miteinander in hitzigen Propagandaschlachten. Wir sind mitten im globalen Informationskrieg, es werden Wahrheiten zementiert. Im Grunde genommen lebten Russland und der Westen in unterschiedlichen Wahrheiten im gesamten 20. Jahrhundert. Dahin kehren wir zurück. 

Global Review: Der renommierte russische Politologe Fedor Lukjanov hat einen Artikel veröffentlicht, in dem er feststellt, dass sich der ukrainische Krieg  mehrere praktische Auswirkungen auf den Großteil der Welt hat. 

Erstens ist eine Macht aufgetaucht, die den Westen offen und vorbehaltlos herausfordert, und der Westen war trotz erheblicher Anstrengungen nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Dies ermöglicht es der nicht-westlichen Welt, mehr und mehr unabhängig zu handeln – direkt vor unseren Augen. Zweitens: Wenn die Staaten des globalen Nordens anfangen, miteinander in Konflikt zu geraten, kümmern sie sich immer noch nicht darum, wie sich dies auf den globalen Süden auswirkt. Drittens: Die Politik der allgemeinen Distanzierung, aber der Zusammenarbeit in bestimmten Fragen kann sich auszahlen, aber wir müssen sie geschickt einsetzen. Viertens: Fruchtbare Beziehungen sind auch ohne Großmächte möglich und notwendig, die auf ihre Unverzichtbarkeit pochen, aber oft die Probleme von Ländern und Regionen nicht lösen, sondern sie bei der Verfolgung ihrer eigenen Interessen in eine Sackgasse treiben.

Hat Lukjanov Recht? Stimmt es, dass wenn der gegenwärtige Konflikt zu Ende geht, die nichtwestlichen Mehrheitsländer der Welt ihre Position am meisten gestärkt haben. Meinen Sie dass China, das oft als der eigentliche Gewinner der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen bezeichnet wird (eine solche Schlussfolgerung ergibt sich nur aus linearer Logik), sondern auch eine Reihe von Ländern, die bisher eine untergeordnete Rolle spielten, sich emanzipieren? Lukjanow glaubt, dass die Weltpolitik rationaler werden könnte, weil pragmatische Interessen dann offen und sachlich geäußert würden und nicht unter dem Einfluss verschiedener Messianismen, die im Globalen Norden seit Jahrhunderten beliebt sind. Lukjanov behauptet, dass die Ukraine-Krise tatsächlich einen Schlussstrich unter den Kolonialismus im weitesten Sinne zieht. Was ist das für ein sonderbares Wunschdenken russischerseits? 

Dr. Rahr: Seit Jahren wird im russischen Valdai Klub, dem Lukjanow vorsteht, die neue multipolare Weltordnung diskutiert. Hätte man genauer hingehört, hätte man den Krieg in der Ukraine vorhersagen können. Russland sieht sich – wie vor 100 Jahren unter den Bolschewiken – als Avangarde einer Weltrevolution. Damals wollten Lenin und Trotzki die Welt vom Kapitalismus befreien. Russland träumte von der kommunistischen Weltherrschaft. Heute wollen Putin und Medwedew die Welt von den Resten des Kolonialismus befreien. Der Westen, der nach dieser Lesart die übrige Welt 300 Jahre ausgeraubt hat, muss büssen – und seine Macht mit dem Global South teilen. Es wäre interessant beim nächsten Valdai Treffen zu hören, ob Russland akzeptiert, dass nicht Moskau, sondern Peking im neuen Konzert der Mächte die erste Geige spielt. Für das Ego russischer Herrschaftseliten wäre diese Feststellung demütigend. Wo Lukjanow recht hat, ist, wenn er sagt, dass der Westen weiterhin auf die Länder des Global South abwertend herunterblickt. In den Zentralen der EU lachen sich Politiker und Beamte krumm, wenn man sie mit der Perspektive der multipolaren Welt konfrontiert. 

Ich möchte abschliessend sagen, dass wir in der Tat vor einer tektonischen Machtverschiebung der Weltpolitik stehen. Ja, westliche Politiker behaupten, dass das Leben im Westen eine liberale Oase bleibt und dass ringsherum der Dschungel existiert. Diese Arroganz ist unerträglich. Die USA haben, anders als die Europäer, längst den Ernst der Lage begriffen.“ . 

Veranstaltung mit Dr. Rahr im Eurasischen Club „Gorbatschow und die Zeitenwende-was lief falsch?“

Desweiteren noch sein Buch „2054“, auf das Dr. Rahr sich im Interview bezog als Lesetip:

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„Wenn die Teufel etwas verteufeln

Stand: 28.08.2023, 16:44 Uhr

Von: Harald Stutte

Von Nordkorea über Russland bis in den Sahel reicht der Hass auf alles Westliche. Seinen Anfang nimmt dieser „Okzidentalismus“ aber in Deutschland. Ein Essay.

Unheilige Allianzen haben sich gebildet: Wladimir Putins russische Despotie hat sich mit dem iranischen Mullah-Regime und dem nordkoreanischen Steinzeit-Kommunisten Kim Jong Un verbündet. Mindestens Unterstützung signalisieren afrikanische Putschregime, linke Autokraten Lateinamerikas, europäische Rechtsparteien wie die AfD, die extreme Linke, islamische Gruppen. Was all diese so unterschiedlichen Partner politisch verbindet? Nichts – mal abgesehen von einer geradezu pathologischen Ablehnung dessen, was oberflächlich mit dem Idiom „Westen“ beschrieben wird.

Der Westen – was ist das eigentlich? Eine Gesellschaft, die „dekadent, machtbesessen, gierig, oberflächlich und seelenlos“ ist, würde Wladimir Putin vermutlich sagen, ist der Philosoph Moritz Rudolph, Autor des Essaybuches „Der Weltgeist als Lachs“, überzeugt

„Allen Okzidentalisten ist gemeinsam, dass sie den Westen als heimtückische, expansive Macht bezeichnen, die ihrem Glück im Wege steht. Wenn es den Westen nicht gäbe, könnten sie endlich frei sein“, so Rudolph zum Redaktionsnetzwerk Deutschland. Das Fundament dieser ideologischen Strömung – ohne dass es Okzidentalismus genannt wurde – tauchte laut Rudolph bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts auf – ausgerechnet in Deutschland, das sich heute ganz selbstverständlich als Teil des Okzidents, also des Westens, sieht.

Im Widerstand der Deutschen gegen Napoleon wurde Frankreich als oberflächlich-zivilisiertes Maschinenvolk gezeichnet, die Deutschen hingegen als die Ehrlichen, Tiefsinnigen, Gottesfürchtigen, die in den „heiligen Krieg“ zogen. „Wer den heutigen islamistischen Terrorismus verstehen will und sein komplexes Verhältnis zum Westen, sollte sich nicht mit dem Koran beschäftigen. Viel interessanter ist es, sich das Deutschland des 19. Jahrhunderts anzuschauen“, empfiehlt der indische Essayist und Globalisierungskritiker Pankaj Mishra im Magazin „Spiegel“.

„Es gab eine Zeit, wo Deutschland noch nicht zum Westen gehörte – sondern sich eine Identität in Abgrenzung zum Westen gab.“ Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte schworen ihre Studenten auf einen Kampf gegen die Besatzer ein, in dem sie entweder die Freiheit oder den Tod fänden.

Da verwundert, wie ähnlich heute antiwestliche Vordenker argumentierten, die in Putins Reich gern und oft zitiert werden. Martin Heidegger zum Beispiel, der einflussreiche deutsche Seins-Philosoph, ein Liebling von Putins „Eurasien-Theoretiker“ Alexander Dugin. Oder Richard Wagner, der als Namenspatron für die gefürchtete russische Söldnergruppe herhalten musste. Oder der Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt, „der auch in China ein Star ist, von dem man sich Impulse für eine Revolte gegen die US-geführte ‚Einheit der Welt‘ erhofft“, schreibt Rudolph im Beitrag „Der Feind im Westen“ für das „Philosophie Magazin“.

Es wäre also wohlfeil, beim Lokalisieren dieses Phänomens stets mit dem Finger auf andere zu zeigen – denn Deutschland war stets ein Quell dieses Westhasses. Er gipfelte im Nationalsozialismus und betrifft darüber hinaus heutige Rechtsparteien wie die AfD und den verbreiteten Antiamerikanismus in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung.

Die ideologische Frontstellung des Okzidentalismus „kann man nachverfolgen, wenn der Erste Weltkrieg als Kampf der ‚Helden‘ gegen die ‚Händler‘ gedeutet wurde, der aufrichtigen Schwärmer aus Deutschland gegen die Krämerseelen des Westens, also Frankreich und England“, so Rudolph.

Es war ihre gemeinsame Ablehnung des westlichen Liberalismus, wobei sie den Kommunismus als dessen extremste Auslegung deuteten, die im Zweiten Weltkrieg so unterschiedliche Systeme wie den deutschen Nationalsozialismus mit dem japanische Shinto-Faschismus zusammenführte. „Der Westen – der ja im Fall Japans aus dem Osten kam – meinte hier keine Himmelsrichtung, sondern eine zur Gesellschaft geronnene Idee, die man bekämpfte. Entfremdung, Gier und seelenlose Städte – all das wurde dem Westen zugeschrieben“, so Rudolph.

Doch zurück zur Gegenwart: Dass sich vor allem afrikanische Staaten zu Beginn der russischen Invasion der Ukraine schwertaten, die Aggression zu verurteilen, erklärt Moritz Rudolph mit den traumatischen Erfahrungen während der Kolonialzeit und den Fehlern des Westens im postkolonialen Zeitalter, die dem Okzidentalismus enormen Vorschub leisteten. Von den 54 Staaten Afrikas enthielten sich 16 bei der UN-Vollversammlung am 2. März 2022 der Stimme, Eritrea allein stimmte gegen eine UN-Resolution, die Russlands Aggression verurteilte.

„Der Anteil des Westens an der Weltproduktion schrumpft, sein Einfluss in internationalen Gremien und auf anderen Kontinenten geht zurück, weshalb neue Mächte Fuß fassen und sich als die eigentlichen Imperialisten zu erkennen geben, während Europäer und US-Amerikaner beinahe zurückhaltend auftreten. Der Westen ist nur noch ein Akteur unter vielen, und nicht einmal der schlimmste“, beschreibt Moritz Rudolph.

Gerade das macht den Okzidentalismus so gefährlich: Ein früh geprägtes Bild habe sich festgesetzt „und liefert die Erlaubnis zur Grausamkeit. Schließlich sieht man sich als Opfer und befindet sich im Widerstand“, erklärt der Philosoph. „Diese Verbindung von Ressentiment und Macht bewirkt eine eigentümliche Opfer-Täter-Umkehr mit gewaltiger Sprengkraft, die sich im Ukraine-Krieg entlädt, den chinesisch-amerikanischen Gegensatz bestimmt und als Damoklesschwert über dem Nahen Osten hängt, wo das iranische Mullah-Regime Israel ins Meer und die Amerikaner über den Ozean treiben will.“

Der Begriff Okzidentalismus geht übrigens auf eine als Buch verfasste Studie („Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde“) des israelischen Philosophen Avishai Margalit und des niederländischen Autors Ian Buruma zurück. Sie kehrten den vom palästinensisch-amerikanischen Literaturtheoretiker Edward Said gebildeten Begriff Orientalismus, der den im Westen verbreiteten herabwürdigenden Blick auf „exotische Fremde“ beschreibt, in das Gegenteil um.

Neben ganz grundlegenden politischen und ideologischen Differenzen wird dieser Westhass zusätzlich befeuert durch den im Westen verbreiteten Eurozentrismus – die Beurteilung nicht europäischer Kulturen aus der Perspektive europäischer Werte und Normen.

Eurozentrische Stereotype spielen eine Rolle, wenn zum Beispiel über die Opfer von Kriegen oder Naturkatastrophen außerhalb der westlichen Wahrnehmung nur marginal berichtet wird, wenn europäische Eroberer und Kolonisatoren als „Entdecker“ gefeiert werden, wenn außereuropäische Leistungen in Literatur, Philosophie oder Kunst ignoriert oder kaum gewürdigt werden, wenn westliche Standards zum Dogma erhoben werden, die der Lebenswirklichkeit vieler Menschen in Entwicklungsländern widersprechen.

https://www.fr.de/politik/wenn-die-teufel-etwas-verteufeln-92486382.html

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