Interview mit Dr. Alexander Rahr über Matthias Vetters Buch über den NTS, die Rahrs und Iwan Iljin: „Iljin war aber kein offizieller Chefideologe des NTS (…) Peter der Große hat das Fenster nach Europa aufgeschlagen. Putin schlägt es jetzt zu und versucht stattdessen ein Fenster nach Asien zu öffnen“

Interview mit Dr. Alexander Rahr über Matthias Vetters Buch über den NTS, die Rahrs und Iwan Iljin: „Iljin war aber kein offizieller Chefideologe des NTS (…) Peter der Große hat das Fenster nach Europa aufgeschlagen. Putin schlägt es jetzt zu und versucht stattdessen ein Fenster nach Asien zu öffnen“

Global Review hatte im April 2020 mit dem ehemaligen Putin- und Gazpromberater Dr. Rahr, der mit Genscher die Freilassung Chodokowskys durch Putin erreichte, ein Interview geführt über die Geschichte der russische  Exikorganisation NTS und über die Rolle seines Vaters Gleb Rahr und seiner Familie. Nun hat der Historiker Matthias Vetter ein Buch über den NTS geschrieben, in dem auch die Rahrfamilie erwähnt wird (siehe Rezension der Frankfurter Rundschau unten) . Global Review hat Dr. Rahr um eine Kommentierung des Buches über den NTS und die Person Iwan Iljins gebeten.

Global Review: Dr. Rahr, Global Review hatte die Geschichte Ihres Vaters und Ihrer Person als Interview über die russsische Exiloppositionsorganisation NTS nach der Oktoberrevolution bis zum Kalten Krieg und danach gebracht, das nun auch in dem Buch von Matthias Vetter über den NTS zitiert wird. Anders als Sie sieht Vetter den NTS vor allem unter dem ideologischen Einfluß von dem angeblichen Chefideologen des NTS Iwan Iljin, dessen mehr offen faschistischer Staatslehre ala Carl Schmitt, der nun auch seitens Putins als prägender Ideenlieferant samt Reliquienverehrung in russischen Klöstern der russisch-orthodoxen Kirche resozialisiert wurde und in die Hybridideologie Putins eingemeindet wurde. Inwieweit stimmt das in zweierlei Hinsicht? Zum einen: War der NTS so homogen und Iljin der Chefideologe? Oder wurde er nicht unter Putin als solcher gesehen und ernannt? Inwieweit ist Matthias Vetters Buch über den NTS korrekt und was würden Sie anders sehen?

Dr. Rahr: Ich habe das Buch von Matthias Vetter mit Interesse gelesen. Ich habe an dem Werk nichts auszusetzen, im Gegenteil. Ich wartete seit dem Fall der Mauer und dem Ende der Sowjetunion händeringend auf eine solche historische Aufarbeitung der Geschichte und der politischen Funktion des „Bundes der Solidaristen“, oder des NTS (Bund der Schaffenden des Volkes). Zugegeben, die genaue deutsche Übersetzung des Namens dieser russischen Emigrantenpartei ist kaum möglich. Ihren Werdegang hat der Autor, aus sachlicher Sicht, richtig beschrieben. Zahlreiche Nachkömmlinge der Weissgardisten, der russischen Bürgerkriegsflüchtlinge, wollten sich niemals im Westen assimilieren und wollten sich nie geistig von ihrem Vaterland lösen. Sie glaubten in der Zwischenkriegszeit, dass ihre politische Organisation genügend Sprengkraft aufbringen könnte, die Macht der Bolschewiken im kommunistischen Russland zu stürzen. Anders als ihre Väter, die revisionistisch dachten und die Monarchie nach Russland zurückbringen wollten, akzeptierten die NTS-Ideologen, die im westeuropäischen Exil lebten, den Trend zum Sozialismus und den Linksruck in der sowjetischen Gesellschaft. Sie suchten nach dem dritten Weg, wie man Kapitalismus und Sozialismus miteinander verbinden konnte – aber erst nach dem gewaltvollen Sturz der Kommunisten. Eine russisch-orthodoxe Soziallehre existierte weder damals noch heute, also nahmen die NTS-Vordenker die Ideen der katholischen Soziallehre (Nell-Bräuning) auf. Gleichzeitig trat der NTS von seiner Überzeugung her immer für einen starken Staat ein. Im NTS glaubte man auch nicht an eine demokratische Revolution in der Sowjetunion.  Man sprach stets davon, dass nur ein Militärputsch, angeführt von patriotischen und nicht kommunistischen Generälen, der Sowjetherrschaft ein Ende bereiten könnte. Die Rassenideologie Hitlers war für sie natürlich kein Vorbild, dem Faschismus Francos und Mussolinis konnten sie aber Einiges abgewinnen, weil er gegen den Kommunismus gerichtet war, vor allem lobten sie den nationalen Patriotismus und die Idee von Staatskonzernen als Träger der Industriepolitik. Und hier kommen wir zu den Ideen des Exil-Philosophen Iwan Iljin, den heute Vladimir Putin so bewundert. Iljin war aber kein offizieller Chefideologe des NTS, ich weiss auch gar nicht, ob Iljin überhaupt Mitglied dieser Partei war. iljin prägte aber, zusammen mit anderen russischen Philosophen, die aus dem zaristischen Russland in den Westen geflüchtet waren, die Vorstellungen, wie Russland „nach dem Verjagen der Kommunisten“ aussehen sollte. Ehrlicherweise muss man sagen, und Matthias Vetter hat das in seinem Buch dargestellt, dass die meisten Exilrussen und Asylanten keine westlichen Liberalen waren. Aber wer war schon liberal im Zwischenkriegseuropa? Ich sehe da nur Grossbritannien, die Benelux Monarchien und die skandinavischen Länder. In der Weimarer Republik herrschte eine Radikalisierung vor, in der deutschen Gesellschaft dominierten sozialistische oder nationalsozialistische Kräfte. Der NTS kämpfte bekanntlich gegen den Bolschewismus, also suchte er nicht die Verbindung zu linksgerichteten Kräften in Europa, die aus Sicht des NTS, zu viele gefährliche Sympathien mit der UdSSR bekundeten.  

Global Review: Welche Inhalte und Staatslehre vertrat Iwan Iljin? In unserem Interview versuchten Sie uns die Teilung der russischen Gesellschaft anhand des Gegensatz Sacharow/Solzenizschyn zu verdeutlichen und haben Iljin gar nicht erwähnt. Zudem behaupteten Sie, dass der NTS wertekonservativ war, einen Nationalstaat wollte als Kern einer Föderation und zudem säkular gewesen sei. Inwieweit stimmt das noch bei Iljin und was sind die Gemeinsamkeiten zwischen dem Monarchisten Solschenyzin und dem scheinbaren Faschisten Iljin? Was waren die wesentlichen Staatslehren Iljins und inwieweit wurden Sie vom NTS und iIhrer Familie getragen?

Dr. Rahr: Lassen sie es mich bitte nochmals wiederholen. Iwan Iljin war kein Leitwolf der russischen Emigration. Er war einer von vielen bekannten und geschätzten Vordenkern, die sich aus dem damaligen nationalistischen Zeitgeist in Europa entwickelten. Der spätere Schriftsteller und Dissident Alexander Solschenitzyn hat sich, jedenfalls öffentlich, niemals mit Iljin identifiziert. Aber in den 1930er Jahren hatte Iljin schon einen Namen, er sprach vielen Russen aus dem Herzen. Er sah die Zukunft Russlands in einem starken Staatswesen, einer kapitalistisch-nationalen Staatswirtschaft, im Prinzip forderte er für Russland einen starken Führer, er war für einen slawischen Nationalstaat, er hielt nichts von separatistischen Bestrebungen der Ukrainer und anderer Völker der Sowjetunion. Er war ein Gegner der angelsächsischen Welt und ein Befürworter einer Achse Berlin-Moskau. Am meisten hasste er die Kommunisten. Putin wurde bei seiner individuellen Suche nach der neuen „russischen Idee“ auf Iljin aufmerksam, das geschah eher zufällig. Doch Putin fand in den Werken Iljins Schlüsselelemente, die er sich für seine Politik zu eigen machte. Putin war es egal, dass Iljin hier und da mit dem deutschen Nationalsozialismus flirtete. Für Putin, der selbst anti-kommunistisch denkt und Lenin für den „falschen Aufbau der Sowjetunion“ kritisiert, wurde Iljin zur Symbolfigur des Übergangs des gegenwärtigen Russlands vom Kommunismus zu einem starken Nationalstaat. Er liess einen seiner hörigen Oligarchen, Iljins Leichnam mit dem Grab im Westen ausgraben und nach Moskau transferieren.  

Global Review: Es wird ja viel spekuliert, welche Denker denn nun Putin beeinflusst haben. Ob er nun ein Faschist sei, aber er hat ja nie eine nichtstaatliche Massenbewegung und Massenpartei aufgestellt von unten, sondern sich eher der alten KGB- Silowiki-Netzwerke bedient, noch erschien er zu Anfangs sonderlich ideologisch, sondern eher als rationaler Realpolitiker, mit dem man ins Geschäft kommen könnte. Nun werden ideologische Einflüsse und Vordenker aus dem Zarenreich, Nationalbolschewisten wie Dugin oder das Eurasiertum, das ja auch von mehr ökonomischen bis ideologischen Strömungen auch fast ein Sammelbegriff ist, Karaganow  oder etwa dem Isbrosker Club mit Glasjew oder nun eben Iljin behauptet und vermutet. Passen diese ideologischen Strömungen überhaupt logisch zusammen außer ihrer Orientierung gegen Liberalismus, für Autoritarismus  und den Westen  oder ist es nicht nur ein Ideologiehybrid, bei denen man verschiedene Richtungen mehr synkretisch in mehr oder weniger friedlichem Nebeneinander und Koexistenz verbindet und sammelt, um Russia first and Make Russia Great und Greater Again machen zu wollen oder spielt Iljin da eine schnittmengenmäßige und zentrale ideologische Rolle Was vertrat Iljin , wie stand er zu einer „russischen Welt“ und was nutzt Putin davon?

Dr. Rahr: Wie gesagt, Putin gibt offen zu, dass Iljin ihn politisch inspiriert. Doch zu eng will sich Putin mit ihm nicht identifizieren, damit nicht der Verdacht aufkommt, er sympathisiere mit einem pro-Faschisten. In den russischen Blogs sind übrigens schon kritische Beiträge von Kommunisten erschienen, die sich offen fragen, warum Putin so auf Emigranten, wie beispielsweise Gleb Rahr, gehört hat. Innerhalb der heutigen russischen Führungselite, die aus ehemaligen KGB Leuten besteht, werden politische Emigranten noch allesamt als Volksfeinde gesehen, den man niemals vertrauen sollte, denn sie hätten ja gegen den Staat Sowjetunion gekämpft. Dass Putin das anders sieht und das Programm von NTS kennt, vermutlich sogar inspirierend findet und das eine oder andere aus dem Programm, ohne es zuzugeben, in den anfänglichen 2000er Jahren in Russland umgesetzt hat, wurde von Emigranten im Westen positiv begutachtet. Offen konnte Putin den NTS nicht rehabilitieren, denn einige Mitglieder dieser Exilorganisation kooperierten während des Zweiten Weltkrieges zu offensichtlich mit dem abtrünnigen sowjetischen General Andrei Vlasov. Dieser wollte die sogenannte Russische Befreiungsarmee, die aus gefangengenommenen Rotarmisten oder Überläufern aus der Roten Armee bestand, an der Seite der Wehrmacht gegen die Sowjetunion kämpfen lassen, in der naiven Vorstellung, den Bolschewismus mit Hilfe Hitlers zu stürzen, um danach ein freies nationales Russland aufzubauen. Putin hat für die Politik Hitlers des Besetzen früherer deutscher Gebiete, die nach seiner Meinung den Deutschen im Versailler Vertrag 1919 zu Unrecht abgenommen worden waren, öffentlich Verständnis gezeigt. Auch den Hitler-Stalin Pakt scheint er – aus damaliger politischen Sicht – als folgerichtig zu betrachten. Stalin brauchte Zeit, um sich für den Hitler-Angriff zu wappnen. Den Hitler-Angriff auf die Sowjetunion und den Tod von 27 Millionen Sowjetbürgern in den Jahren 1941-45 nennt er aber ein Kriegsverbrechen. Putin versucht, die Geschichte Russlands des 20 Jahrhunderts in einem Wesen zu verschmelzen. Der russische Nationalstaat soll sich auf vorrevolutionäre Ideen des zaristischen Imperiums berufen, die kommunistischen Ideale abschütteln, aber die Erfolge der Sowjetunion, wie den Sieg über Nazi-Deutschland hochhalten, den Zerfall der Sowjetunion verurteilen, aber statt der UdSSR eine slawische Union werden, zu der sich Weißrussland und die Ukraine gesellen sollen. Bezeichnenderweise liess er die Staatshymne umändern. Die Musik ist sowjetisch, der Text beruft sich auf christliche Werte.

Global Review: Sie selbst sprachen ja davon, dass Putin ein wertekonservativer sei, dass man in Europa eine Koexistenz zwischen neuem russischen Wertekonservatismus und liberaler Demokratie anhand von Interessen als europäische Ordnung, bei der Russland ein Teil Europas sein würde, da es sich auch selbst so verstand seit Peter dem Großen, doch sie sprachen auch immer wieder davon, dass Putin- Russland zugleich diesen Wertekonservatismus auch als Angebot an Resteuropa haben sollte, um dann doch wieder eine Art gemeinsamen Werteraum nach wirtschaftlichem Interessensraum oder wie Putin in seiner sogenannten Friedensrede im deutschen Bundestag 2001 als eurasische Militärallianz, die Vereinigung der ökonomischen, kulturellen und Verteidigungspotentiale Europas mit Russland forderte damit Europa unter scheinbar seiner Führung eine neue Weltmacht sein könne. War da dieser Wertekonservatismus nicht schon eine imperiale, aggressive, autoritäre Expansionsideologie und führte dann eben zum Ukrainekrieg, da der liberale Westen mittels NATO- und EU- Osterweiterung, die die Osteuropäer selbst wollten und man sie nicht besetzen oder drängen musste, Putin zunehmend historisch auf die Verliererseite drängten und er daher die Notbremse zog? Brzenzinski meinte ja, dass bei der NATO- Erweiterung speziell die Ukraine sensibel sei, da dort entscheiden werde, ob Russland noch eine imperiale Macht sei aber nicht, er glaubte aber, dass Russland auch das letztendlich akzeptieren würde. Ansonsten käme es eben unausgesprochen darüber zum Krieg. Brzezinsi wollte keinen Krieg, aber er schloss ihn auch nicht aus im Ernstfall. Aber aar dieser Wertekonservatismus Putins nicht die Forderung nach einer Diktatur, der Abschaffung der liberalen Demokratie und eines Faschismuses  oder Autoritarismus ala Iwan Iljin oder Iwan dem Schrecklichen, er sich Verbündete wie den Front National, Orban- Fidesz oder eben die AfD sucht, um die Demokratie auch im Westen zu beseitigen und für seine hybriden Kriege einspannt und nutzt?

Dr. Rahr: Putin hat in den 2000er Jahren sich häufig mit den noch lebenden Nachkommen der alten russischen Emigration getroffen, vor allem mit dem russischen Hochadel in Paris. Es waren interessante Gespräche, bis tief in die Nacht. Putin stand Pate bei der historischen Wiedervereinigung zwischen dem Moskauer Patriarchat und der Auslandskirche. Er half in Paris eine neue orthodoxe Kirche zu bauen. Er verlieh alten Emigranten die russische Staatsbürgerschaft, die sich somit im Schoss der historischen Heimat wiederfanden. Er liess sich von den orthodoxen Mönchen auf dem Berg Athos segnen und inspirieren – die Wiederherstellung der Orthodoxie nach 80 Jahren Atheismus und Kirchenverfolgung war ihm überaus wichtig. Eines will ich aber an dieser Stelle betonen: soweit ich weiß, hat keiner der „Geheimräte“ Putins im Exil zur gewaltsamen Wiedereroberung der Ukraine oder zur Wiederherstellung der Sowjetunion aufgerufen. Auch Solschenizyn, den Putin bis 2007 häufig zu Rate gezogen hatte, und der als geistiger Vertreter des russischen Nationalismus galt, hat nirgends dafür plädiert, der Ukraine „ethnisch russische Gebiete“ mit Macht zu entreißen. Statt den russischen Nationalstaat durch innere Kraftanstrengungen wirtschaftlich aufzubauen, hat Putin die russische Idee jetzt zur Bekämpfung des Westens instrumentalisiert. Dass die NATO Russland militärisch umzingelt hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Dass der Krieg in der Ukraine nicht zu einem Überlaufen der Ukraine zu Russland geführt hat, sondern in einen schrecklichen Bruder- bzw. Bürgerkrieg ausartete, ist eine geopolitische Katastrophe, die Putin zu verantworten hat. Äußerst schmerzhaft wird für Russland der Verlust von Europa sein. Peter der Große hat das Fenster nach Europa aufgeschlagen. Putin schlägt es jetzt zu und versucht stattdessen ein Fenster nach Asien zu öffnen. Obwohl die modernen Slawophilen, wie der ultranationalistische Philosoph Dugin und viele seinesgleichen darüber hocherfreut sind, wird Russland ohne Europa eine gefährliche Identitätswandlung durchmachen – mit offenem Ausgang. Der Hegemon in Asien wird China sein. Putin und die Hardliner sagen, endlich könne Russland seinen Wertekonservatismus, seine traditionalistischen Vorstellungen, sein nationales Erbe, die multipolare Welt ohne fremden Druck aus dem Westen (der Westen wird in Russland der Barbarei und Satanismus bezichtigt) fördern. Aus meinem Blickwinkel ist diese nationalistische Avantgarde in Russland aber nicht allzu mächtig. Einer ihrer Vertreter – Igor Girkin, der einst die Separatisten im Donbas befehligte – sitzt übrigens im Gefängnis, der nationalistische Söldnerchef Evgeni Prigoschin ist nach dem Putschversuch in Ungnade gefallen. Die breite Masse der Russen und ihrer Eliten denkt nicht ideologisch, nicht in alten geistigen Kategorien – sie ist pragmatisch, wenngleich sehr apolitisch, träge, höchst passiv, anpassungsfähig. 

Global Review: Die Moscow Times meinte, dass um in Europa überhaupt noch zu einem Frieden zu kommen, man Russland das ganze imperiale Denken austreiben und seine ganze Silowiki- und Geisteselite mit all ihren Ideologien absetzen müsse. Aber ist es realistisch, dass man diese auswechseln und beseitigen kann? Durch wen und was ersetzt diese Ideologie? Kann man ein neues Russland auf neuem weißen Papier schaffen? Wer könnte ein neuer Vordenker eines neuen Russlands sein? Zudem auch die Frage ist, wenn gefordert wird, dass Russland ein Nationalstaat ohne imperiale Gedanken werden soll, wer das bewerkstelligen kann, zudem die Minderheitengruppen ja selbst Khodorkowsky und Nawalny vorwerfen, dass sie selbst ein zwar demokratisches, aber immer noch imperiales Reichs- und Föderationsverständnis hätten. Putin kann man ja auch nicht „völkisch“ im strengeren Sinne nennen, da er auch an einer Föderation mit Tschetschenen, Muslimen und anderen Minderheitenvölkern festhält, auch wenn er von „russischer Welt“ fabuliert? Kann ein unideologischer russischer Naitonalstaat entstehen ohne, dass diese Nationals- und Volkstaatswerdung dann durch faschistische Neonazikräfte wie den Führer der noch marginalen von der Ukraine ausgerüsteten russischen Ruspartisanen  um den russischen Neonazi „White Alex“, der in Russland um Belgograd kämpft und dann ganz Russland „befreien“ will? Zudem solche Neonazis und Faschisten zwar nicht im Sinne eines Vielvölkerstaates denken, aber ebenso imperialistische Agressionskriege und dann reinrassige Großrussische Reiche und russische Welten verfolgen kann, bei dem alles andere versklavt und ausgerottet werden soll, wie es Putin in der Ukraine machen wollte, als er die Ukrsiner zu „russischem Volk“ erklärte. ? Wie stand Iwan Iljin und der NTS zu einem imperialen Russland? Gibt es noch einigermaßen unbelastete und unideologische russische Elitevertreter, die einen Neuanfang machen könnte, zumal Sie ja öfters Dimitrji Patruschew und andere nennen, aber sind diese ohne imperiale Absichten oder eher nur ziviles window dressing für eine imperiale Verschnaufpause, um dann wieder expandieren zu wollen

Dr. Rahr: Das ist eine Generationsfrage. Wir im Westen haben jahrzehntelang unterschätzt, wie schmerzhaft für die heute älteren Russen der Verlust des Sowjetimperiums war. Uns waren ihre Befindlichkeiten egal. Umso erstaunter sind wir heute über die breite Unterstützung für Putins Krieg. Doch gerade deshalb unterstützten und unterstützen sie heute Putin in seinem Bestreben, Russland wieder groß zu machen, Russland „von den Knien wieder aufzurichten“. Russland sieht sich nicht als Verlierer im Kalten Krieg. Die ältere Generation sagt heute, der Westen habe durch seine „Agenten“ wie Gorbatschow, die Sowjetunion zerstört. Hier gelangen wir wieder zu Iljin, zum NTS und anderen russischen Exilorganisationen. Ihnen ging es zwar auch um Freiheit, aber mehr um die Beseitigung des Kommunismus. Der Russe will auch in Würde leben, aber wenn ein würdevolles Leben für einen Menschen des Westens im Sinne der Aufklärung und Menschenrechte verstanden wird, ist das für einen typischen Russen doch anders. Russland soll „wie es ist“ von anderen Staaten akzeptiert, seine Ideale und Interessen respektiert werden. In der Generation, die nach der Wende 1989/91 geboren wurde, ist das jedoch schon anders. Aber diese Generation hat in der patriarchalischen Gesellschaft Russlands noch wenig zu sagen. Das könnte sich ändern. Die Frage, ob Putin in einem halben Jahr sich wieder zum Staatspräsidenten wählen lässt, oder einem Jüngeren (vielleicht Landwirtschaftsminister Dmitri Patruschew *1975, Sohn des zweitmächtigsten Mannes nach Putin, Nikolai Patruschew) den Vortritt lässt, ist – denke ich – im Kreml noch nicht endgültig entschieden. 

Die Geschichte der russischen Exilorganisation NTS, Gleb Rahrs, die Rolle der Religion in Russland und Russlands Rolle in der Covidkrise – ein Interview mit Alexander Rahr

7. April 2020 Ralf Ostner

Von Kudrin zu Glasjew und dem Isbrosker Klub- Umstellung auf russische Kriegswirtschaft und Säuberung gegen die „6te Kolonne des Westens“?

„Matthias Vetter über die russische Exilorganisation NTS: Dem Kampf gegen die Sowjetunion verschrieben

Erstellt: 21.07.2023, 17:44 Uhr

Von: Viktor Funk

Der Historiker Matthias Vetter hat die Geschichte der russischen Exil-Organisation NTS aufgeschrieben, deren Ideen bis heute fortwirken – auch auf durchaus unerwartete Weise.

Das Buch von Matthias Vetter über die russische Exilorganisation NTS lässt sich auf zwei Arten lesen: als ein wissenschaftliches Werk oder als historischer Thriller. Wer sich für die zweite Art entscheidet, darf ruhig den einen oder andern Namen überlesen. Bei aller Detailliebe gelingt es Vetter, eine spannende Geschichte über Widerstand, Hoffnung, Abenteuertum und letztlich auch das Ende der russischen politischen Exil-Organisation NTS zu erzählen, die nach der Oktober-Revolution 1917 in Europa entstand und nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Frankfurt am Main ihr Zuhause fand.

Wer war der NTS? Der „Volksbund der Schaffenden“ war eine Organisation von Russinnen und Russen, die nach 1917 ihre Heimat verlassen mussten und eine neue, auch politische Heimat suchten. Wie so oft in solche Fällen, gab es viele unterschiedliche, konkurrierende Vorläuferorganisationen, die sich teils heftig bekämpften. Gegründet wurden sie in verschiedenen Ländern, in denen die Exilanten untergekommen waren: Bulgarien, Serbien, Deutschland … Die formellen Anfänge vom NTS datiert Vetter auf den Sommer 1930, Gründungsort Belgrad.

Was der NTS mit anderen russischen Exil-Organisationen gemeinsam hat, das ist der Kampf gegen das neue System: die Sowjetunion. Wie dieser Kampf aussehen soll und auf welchen ideologischen Grundlagen die Organisationen stehen – darin unterschieden sie sich stark. Und nicht nur der Ideen-Wettbewerb, auch die Existenzsorgen der Exilanten und der Kampf ums organisatorische wie physische Überleben während des Zweiten Weltkrieges bieten genug Anlässe für Intrigen und Kämpfe.

Es gibt einen, unter sehr vielen Namen, der für den NTS maßgeblich ist und der auch heute, in der aktuellen russischen Politik eine Rolle spielt: Iwan Iljin.

Illjin wurde mit einem der sogenannten Philosophenschiffe aus der Sowjetunion ausgewiesen, er lebte unter anderem in Berlin, bevor er schließlich in die Schweiz übersiedelte. Seine philosophischen und staatstheoretischen Überlegungen beeinflussen heute den russischen Präsidenten, Wladimir Putin. Grob zusammengefasst: Iljin war ein Nationalist, mit monarchistischen Tendenzen und Sympathie für Hitler.

Der NTS insgesamt sympathisierte mit dem faschistischen System in Deutschland nach 1933. Manch einer kooperierte sogar aktiv mit den Nazis in einigen besetzten Gebieten der Sowjetunion nach 1941. Sie halfen bei der Bekämpfung der Partisanen und waren auch für die Ermordung von Zivilisten und Zivilistinnen – Kinder darunter – verantwortlich.

Zugleich versuchte der NTS sich gegen den Antislawismus und die Rassenlehre des Faschismus zu stellen, die in den slawischen Völkern „Untermenschen“ sah. Auch der Antisemitismus sei nicht zentral in der Ideologie des NTS während der Nazi-Zeit gewesen, schreibt Vetter. Im Nachhinein sei klar, arbeitet der Frankfurter Historiker heraus, der NTS habe eine naive Strategie verfolgt: Erst sollte mit Hilfe der Nazis der Kommunismus besiegt werden, dann sollten die Nazis vertrieben werden. Es kam anders, die Nazis verfolgten Mitglieder des NTS, ein Drittel des zwölfköpfigen Führungsrates der Organisation wurde getötet, einige andere blieben vermisst.

Nach dem Krieg suchte der NTS die Unterstützung des neu gegründeten und teils aus alten NS-Kadern stammenden deutschen Geheimdienstes, sowie des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA. Er wurde aber auch erfolgreich von sowjetischen Spionen unterwandert. Ziel der Zusammenarbeit mit westlichen Geheimdiensten war es, Geld und Knowhow für Agitationsarbeit zu erhalten.

In den kommenden Jahrzehnten gewann die NTS-Publizistik mit dem Verlag „Possev“ an Bedeutung; nach einigen Zwischenstationen im Lager Mönchehof bei Kassel und in Limburg wurde schließlich 1952 Frankfurt die neue Heimat der Organisation und des Verlages.

„Possev“ bedeutet: Die Aussaat. Und es ist ein besonderer Zufall, dass zu einer der wichtigsten publizistischen Tätigkeit der Nachkriegszeit des NTS das Drucken von Flugblättern gehörte. Die Flugblätter wurden mit speziellen Ballons bei entsprechender Windrichtung gen Osten geschickt und warfen alle 500 Kilometer einen Teil ihrer Flugblattladung ab. Die so im Ostblock verbreiteten Informationen und Propaganda sollten die Menschen zum Widerstand gegen die Sowjetmacht ermutigen.

Doch die alte Hoffnung des Exils nach einem Regimewechsel erfüllte sich nicht. Der Kalte Krieg zeigte sogar, dass der Westen nicht mit einem Systemwechsel in der Sowjetunion rechnete. Und das bedeutete, dass es weniger Geld von westlichen Geheimdiensten gab, um den NTS zu unterstützen. Erwartbar wandelte sich dann der Kampf gegen das sowjetischen Regime in einen Kampf um das eigene ökonomische Überleben.

Nicht erst an dieser Stelle des Buches werden Parallelen zur heutigen russischen Exil-Community erkennbar. Obwohl es aktuell nicht absehbar ist, wie lange sich das System Putin noch hält, sind die Kämpfe des heutigen Exils dagegen gut sichtbar. Sie werden vor allem in den sozialen Medien ausgetragen.

Thematisch geht es dabei, wie schon beim NTS, um den Imperialismus Russlands, den damals die Emigrierten aus der Ukraine oder den baltischen Staaten anprangerten und heute beispielsweise ukrainische Aktivsten und Aktivistinnen russischen Oppositionellen vorwerfen. Es geht um die Frage, ob man die begrenzte Kraft gegen die verhassten Tyrannen (damals Stalin, heute Putin) aufbringt oder für den Aufbau einer eigenen Zukunft in einem neuen Land.

Formularende

Im Laufe der Jahrzehnte verliert der NTS an Mitgliedern, gleichzeitig gewinnt er aber an Bedeutung für sowjetische Literatur und sowjetische Untergrundliteratur: Was in der Heimat nicht erscheinen darf, gelangt über Frankfurt in die Welt, etwa Erzählungen von Waleri Tarsis. Er ließ seine Arbeiten gezielt in Ausland schmuggeln und wurde für seine, auch in der Sowjetunion im Untergrund erschienene Werke, in die Psychiatrie gesteckt.

Einmal taucht in Vetters Buch ein sehr interessanter Name auf, der für das zeitgenössische Verhältnis zwischen Deutschland und Russland von Bedeutung ist: Alexander Rahr. Er hat Bücher in Deutschland veröffentlicht, die eine Brückenfunktion zwischen Berlin und Moskau hatten. Rahr war lange in deutschen Medien als Russlanderklärer präsent, und spätestens nach der Befreiung des russischen Oppositionellen Michail Chodorkowski aus dem Straflager Ende 2013 stand die Frage im Raum, wie tief Rahr mit den russischen Sicherheitsorganen verbunden ist – denn Rahr war bei der Landung von Chodorkowski in Berlin-Schönefeld dabei, er hatte die richtigen Kontakte zwischen Berlin und dem Kreml hergestellt.

Alexander Rahr – so schließt sich der Kreis – ist der Sohn von Gleb Rar, einem alten, einflussreichen NTS-Mitglied. Wie der Vater, so hat auch der Sohn sich öffentlich über die ideologische Nähe zwischen NTS und dem System Putin geäußert.

Vetters Buch bietet viele solcher kleinen Aha-Erlebnisse. Wer es liest, wird nicht nur mehr über ein kaum bekanntes Kapitel der deutsch-russischen Geschichte erfahren, sondern auch ein besseres Verständnis für die ideologische Grundlage des heutigen Russland bekommen.

Dass ausgerechnet Wladimir Putin, Spross einer Geheimdienstorganisation, die den NTS bekämpfte, seine ideologische Heimat in den NTS-Ideen fand, ist bemerkenswert. Übrigens ließ Putins Freund, der Oligarch Wiktor Wekselberg, 2005 die Gebeine des NTS-Ideologen Iwan Iljin in der Schweiz exhumieren und sie im Moskauer Donskoi-Kloster bestatten – in Anwesenheit Putins.

https://www.fr.de/kultur/literatur/matthias-vetter-wir-bringen-den-tyrannen-den-tod-die-russische-exilorganisation-nts-dem-kampf-gegen-die-sowjetunion-verschrieben-92415993.html

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