Von der Komplexität und ihren Zumutungen

Von der Komplexität und ihren Zumutungen

Autor: Genova

Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Carolin Emcke fragte Steffen Martus vor dem Hintergrund des wachsenden Rechtsradikalismus in der Berliner Zeitung (21.10.16) nach den Gründen der Faszination des Hasses, nach seiner Verführungskraft. Was ist das?

„Jener Genuss, für einen Augenblick nicht mehr zweifeln zu müssen? Die Lust daran, die Komplexität der Welt zu ignorieren? Sich nicht mehr im ´sowohl als auch` zu bewegen, sondern sich dem ´entweder oder` hinzugeben? Jene Zumutung einfach abzuweisen, dass wir als mündige Subjekte, die wir sein sollen, uns zugleich immer schon in unüberschaubare Verhältnisse verwickelt sehen müssen?“

Es ist der Aufluss der neoliberalen Ideologie, die Herrn Martus das schreiben lässt. Ich beglückwünsche diese „Entweder-oder-Denker“. Dafür, dass sie sich von diesem pseudokomplexen Denken emanzipieren – wenn auch in die falsche Richtung. Die sagen einfach: „Nö, wir haben keinen Bock“, und das ist erst einmal grundvernünftig.

Die neoliberale Ideologie trichtert uns seit 30 Jahren ein, dass es keine Alternativen gibt, dass man alle Zumutungen hinnehmen müsse, dass der Lauf der Dinge dem Naturrecht ähnelt, gegen das man sich vernünftigerweise nicht auflehnen könne. Wenn es regnet, dann regnet es, ob einem das passt oder nicht. Die komplette Verweigerung gegen dieses Denken ist erst einmal völlig richtig und vielleicht sogar die einzige Möglichkeit des Widerstands.

Es ist ja exakt diese neoliberale Ideologie, die für Rechtsradikalismus, für Hass verant-wortlich ist und vermutlich hat auch der Herr Martus seinen Anteil daran. Es wird uns seit 30 Jahren gelehrt, dass wir einerseits im Naturrecht leben, worunter auch sowas wie Mietsteigerungen fallen, dass wir aber andererseits ganz selbstverant-wortliche mündige Subjekte sein müssen, die sich in den unüberschaubaren Verhältnissen zurechtfinden müssen. Die Welt wird vereinfacht, indem sie dem totalen Gesetz des Marktes, wie man sagt, unterworfen wird. Im Klartext: Es herrscht das Recht des Stärkeren.

Es ist die totale Entkomplex-ierung, die den Hass gebiert, den die bürger-lichen Journalisten dann beklagen. Die Komplexität existiert aber weiterhin, sie wird dem Individuum aufgedrückt. Die Propaganda nennt das euphemistisch Selbstverantwortung oder Selbstverwirk-lichung oder Chancengleichheit. Es ist in Wahrheit eher so, dass dem Subjekt erzählt wird, es sei verantwortlich für die Verwertung des Werts. Daran habe sich seine individuelle Entwicklung auszurichten. Das Subjekt habe sich gefälligst dem neoliberal definierten Naturrecht anzupassen. Tut es das nicht, wird ihm mangelndes Komplexitätsbewusstsein vorgeworfen.

Wer wegen Mietsteigerungen aufgrund von Spekulation aus der Wohnung fliegt, muss mündig darüber entscheiden, unter welcher Brücke er künftig schläft. Exakt das ist die Lehre des Neoliberalismus.

Kürzlich meinte ein Soziologe (Name vergessen), der progressiv daherkam und die AfD kritisierte, in einer TV-Talkshow: „Wir können das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen: Globalisierung, Migration, Unüberschaubarkeit, so ist das nun mal.“ Solche Leute sind Wasser auf die Mühlen der AfD und sie offenbaren das ganze Dilemma. Die Alternativlosigkeit wird uns von diesen Menschenverachtern beigebracht, und das ist schlichtweg eine modernisierte Form des Rechtsradikalismus. Bei den einen taugt der Mensch nur etwas, wenn er das richtige Blut in den Adern hat, bei den anderen nur dann, wenn er sich erfolgreich vermarkten lässt. Fallen diese Kriterien weg, ist er nutz- und wertlos.

Vermutlich hat dieser TV-Soziologe nicht einmal begriffen, was er plappert. Er ist neoliberal sozialisiert und kann nicht anders. Natürlich können wir Migration, Globalisierung und sonstwas infrage stellen, wenn man das will. Das ist eine Selbstverständlichkeit.

Man kann alles infrage stellen, außer dem Regen. Dass man nichts mehr infrage stellen kann, ist die wichtigste Botschaft von Neoliberalen und Rechtsradikalen: einerseits wegen der Unbedingtheit der Verwertung, die man Markt nennt, andererseits wegen der Unbedingtheit von Merkmalen wie Hautfarbe, Gene, Blut, Religion. Kein neoliberalisierter Kapitalismus ohne die Kehrseite.

Skurrilerweise treffen sich in der AfD die Menschenverachter beider Seiten: Naziaffine wie Höcke und Neolibertäre wie Weidel und Pretzell. Eigentlich logisch, dass die zusammen können.

Die Kritik an solchen Verhältnissen kann nicht die sein, dass man den Leuten predigt, sie sollen gefälligst unüberschaubare Verhältnisse akzeptieren. Sie kann nur eine aufgeklärte sein, die den Neoliberalen dieser Welt ihr antiaufklärerisches Wirken vorhält. Neoliberale von Pretzell bis Merkel sind Sozialdarwinisten, bei denen einem Kant das Kotzen gekommen wäre. Es kann nur darum gehen, Rechtsradikale und Neoliberale gleichermaßen zu kritisieren. Ob ein Höcke Schwarze mit Insekten gleichsetzt oder ein Jens Spahn mehr private Altersvorsorge anmahnt, ist untrennbar miteinander verbunden. Das aufzuzeigen, wäre Aufklärung heute.

Dem rechten Fußvolk zu erzählen, sie hätten die Komplexität der Welt nur nicht begriffen und müssten sich nun ihren Hass analysieren lassen, zeigt bestenfalls die Unfähigkeit der Belehrer. Die erzählen uns seit den besagten 30 Jahren, dass diese Komplexität ein Naturgesetz ist.

Es ist die Barbarei, die hinter solchem Denken steckt. Neoliberal und rechtsradikal: Es ist eine Medaille.

https://exportabel.wordpress.com/2016/11/30/von-der-komplexitaet-und-ihren-zumutungen/#respond

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