Reparationsforderungen immer nur gegen Deutschland?Kritik am britischen Kolonialismus wächst ebenfalls

Reparationsforderungen immer nur gegen Deutschland?Kritik am britischen Kolonialismus wächst ebenfalls

Von Dr. Wolfgang Sachsenröder (Januar 2020)

Die deutsche Außenpolitik wirkt hier eher diskret abwehrend im Hintergrund, dafür erwecken die Medien umso schriller den Eindruck, daß Deutschland von allen Seiten mit Reparationsforderungen konfrontiert wird, zuletzt massiv von Griechenland, Polen und Namibia. Nach dem Krieg, in den späten vierziger Jahren, war man weitgehend darauf vorbereitet, daß die Siegermächte sich erst einmal selbst in ihren Besatzungszonen bedienten. Die Briten übernahmen aus ihrer Zone die alten Stahlwerke im Ruhrgebiet, die bald darauf durch leistungsfähigere ersetzt wurden, die Sowjetunion bediente sich aus der späteren DDR, von Amerikanern und Franzosen ist weniger in Erinnerung geblieben. Die Reparationsfrage, durch die Erfahrungen mit dem Vertrag von Versailles und seinem Vorgänger nach dem deutschen Sieg 1871 historisch belastet, ist juristisch kompliziert. Auch ihre moralischen und finanziellen Detailfragen bleiben in der Diskussion, auf unserer Seite eher dilatorisch. Bei Forderungen von bis zu 850 Milliarden € für Polen und 290 für Griechenland, erscheinen die 50 Milliarden für Namibia fast noch erschwinglich, aber der anerkannte Völkermord an den Nama und Herero durch die deutschen Kolonialtruppen liegt auch bereits mehr als 110 Jahre zurück.


Deutschland hat sein damals durchaus ansehnliches Kolonialimperium mit dem ersten Weltkrieg verloren, was uns, im Gegensatz zu Großbritannien, Frankreich oder den Niederlanden, die schwierigen und blutigen Entkolonisierungskriege erspart hat. Der Eindruck, daß allein das reiche Deutschland mit erheblichen Reparationsforderungen konfrontiert wird und die großen Kolonialmächte nicht, stimmt allerdings nicht ganz. Auch Japan gehörte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den Kolonialmächten, da es von 1910 bis zum Kriegsende 1945 Korea besetzt und ausgebeutet hat. Die koreanischen Reparationsforderungen beziehen sich nicht nur auf die zwangsrekrutierten „comfort women“ in den japanischen Armeebordellen sondern auch auf Hunderttausende von Zwangsarbeitern, die für die Kriegsproduktion der Besatzer schuften mussten. Die Zusammenarbeit der damals eng verbündeten Achsenmächte Japan und Deutschland erstreckte sich auch in Bereiche wie Waffenentwicklung und medizinische Experimente an Gefangenen, oft aus Korea, die eindeutig als Kriegsverbrechen einzuordnen sind. Japan, ohne Holocaust und als Opfer der ersten Atombomben, hat sich bis heute weitestgehend der Verantwortung entzogen, was das bilaterale Verhältnis zu Korea immer wieder schwer belastet und in den letzten Monaten zu einem erheblichen Handelsdisput geführt hat.
In den USA sind Regressansprüche der dezimierten Indianerbevölkerung in ihren abgelegenen Reservaten durch die Vergabe von Casino-Lizenzen auf Eis gelegt worden. In Australien sind erst kürzlich durch höchstrichterliche Entscheidungen millionenschwere Entschädigungen an Kläger der Urbevölkerung festgesetzt worden, und zwar nicht nur für Landbesitz sondern auch die kulturellen und spirituellen Schäden. Nach diesen Präzedenzfällen wird mit weiteren Klagen gerechnet.

Eine ungleich größere Auseinandersetzung zeichnet gegen Großbritannien ab.  Der historisch größten aller europäischen Kolonialmächte, wird seit einiger Zeit eine Rechnung aufgemacht, die bisher noch nicht zu konkreten Forderungen geführt hat, aber in der Schadenssumme ganz erheblich über die Dimensionen der Forderungen an Deutschland hinausgeht. So erwähnte der indische Außenminister Jaishankar in einem Vortrag beim Atlantic Council in Washington am 2. Oktober 2019, daß die Briten während ihrer fast 200 Jahre dauernden Herrschaft über Indien das Äquivalent einer Gesamtsumme von rund 45 Billionen US$ in heutiger Währung extrahiert hätten. In der internen indischen Diskussion liegen die Schätzungen mit bis zu 350 Billionen noch deutlich höher. Indien sieht sich als Opfer des britischen Kolonialismus, der durch die rücksichtslose Ausplünderung des Landes den Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht weitgehend allein finanziert habe. Wie ist es zu dieser monumentalen Ausplünderung Indiens gekommen? Im 16. und 17. Jahrhundert, beginnend mit den Portugiesen, haben zunächst fast gleichzeitig auch Briten, Franzosen, Niederländer und Dänen versucht, das riesige, damals wirtschaftlich prosperierende Land für ihren Handel zu erschließen. Der Wettlauf wurde auch gegeneinander mit Härte und militärischen Konflikten ausgetragen, aber schließlich durch die geballte Macht der East India Company (EIC) sehr deutlich für die Briten entschieden.

Im Januar 1600 mit einem königlichen Monopol für den Ostasienhandel versehen, wuchs die junge EIC, eine Aktiengesellschaft Londoner Kaufleute, rasch zum ersten veritablen international tätigen Großunternehmen heran, unterhielt in ihren besten Jahren eine riesige Flotte und eine private Armee von bis zu 260.000 Mann, und unterwarf schließlich fast ganz Indien. Entscheidend für die Übernahme war die Schlacht von Palashi (englisch Plassey) 1757, in der die EIC mit 750 britischen und 2100 indischen Soldaten unter Bestechung eines indischen Generals ganz Bengalen eroberte. Die Untersuchungen zur Kolonialgeschichte sind auf der indischen Seite sehr detailliert. Sie zeigen den Abstieg Indiens als Wirtschaftsmacht mit einem Anteil an der Weltwirtschaft von 23% bei der Ankunft der Briten, der bei der Unabhängigkeit 190 Jahre später, 1947, auf 4% geschrumpft war. Zwischen 1900 und 1947 stagnierte das Pro-Kopf-Einkommen der Inder auf niedrigem Niveau, trotzdem wurden erhebliche Summen als Steuern eingetrieben und nach England transferiert. Die lokalen britischen Verwaltungsbeamten hießen bezeichnenderweise „collector“, und aus der verarmten Landbevölkerung ließen sich leicht Soldaten für die Kolonialarmee rekrutieren, die so genannten Sepoy. Sie wurden zunächst von der EIC eingesetzt, später auch in der britischen Armee, sowohl in den Kolonien als auch noch in beiden Weltkriegen.

Die detaillierten Wirtschaftsstudien zeigen neben dem enormen Nutzen für Großbritannien vor allem die Zerstörung der indischen Produktion in Landwirtschaft und Handwerk, etwa dem Niedergang der ehemals äußerst  exportstarken Baumwollindustrie, die vor allem mit den britischen Rohstoffimporten aus den Kolonien in Amerika und Ägypten sowie mit innovativer Verarbeitungstechnik in England bald nicht mehr konkurrenzfähig war. Ähnlich ging es dem hochentwickelten Kunsthandwerk, die indischen Möbel kamen aus der Mode und wurden in Europa nicht mehr nachgefragt.

Ersatzweise hatte die East India Company rechtzeitig einen neuen indischen Exportschlager entwickelt, dessen Produktion bestens organisiert werden konnte, allerdings für die Einheimischen alles andere als profitabel war, nämlich Opium. Ende des 18. und im frühen 19. Jahrhundert beginnt die East India Company den Opiumhandel auf industriellem Niveau. Da China keine britischen Waren, sondern nur immer knapper werdendes Silber akzeptiert, und um die steigenden Tee-Einfuhren zu bezahlen, wird der streng kontrollierte und steuerlich äußerst ergiebige Opiumanbau in Indien stark ausgeweitet.  China wird nach zwei Opiumkriegen (1839–1842 und 1856–1860) gezwungen, das indische Opium im Austausch für seine in England immer beliebteren Produkte, Tee, Seide und Kunsthandwerk zu kaufen. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Opiumrauchens waren für China katastrophal, weil es sich von einer Mode der Oberschicht zu einer Epidemie entwickelte und die Wirtschaft insgesamt erheblich schwächte. Für die EIC und die spätere britische Kolonialverwaltung entstand aus der „Not“ der vorangegangenen Silberverknappung eine unglaubliche win-win-win-Situation. Die Inder produzierten praktischerweise die „Opiumwährung“ für die Importe aus China und zahlten auch noch Steuern darauf. Im Spitzenjahr 1880 wurden unglaubliche 670 Tonnen Opium von Indien nach China exportiert. Nicht unerwähnt bleiben darf allerdings, daß Frankreich in Indochina und die Niederlande in Indonesien in ähnlicher Weise den Opiumhandel organisiert und besteuert haben, um damit einen erheblichen Teil ihrer Kolonialverwaltungen zu finanzieren.

Kolonialposten in Indien galten in England als gesundheitlich nicht ganz ungefährlich, aber als Königsweg zu Wohlstand nach Rückkehr ins Mutterland. Der Nabob hatte für den Rest seines Lebens ausgesorgt, unter ihnen auch der bekannte Stamford Raffles, der Singapur als sicheren Hafen in der Mitte zwischen Indien und China für Großbritannien erschlossen hatte.  Britische Handelshäuser profitierten natürlich erheblich von den vorteilhaften Bedingungen. Heute noch auf sehr hohem Niveau aktiv sind etwa die ursprünglichen Opiumhändler Jardine Matheson oder die Opiumbank Hongkong and Shanghai Banking Corporation HSBC.


Während Großbritannien derart prosperierte und sein Kolonialreich immer noch weiter ausdehnen konnte, ging es Indien entsprechend schlecht. Der Ärger der Kolonialkritiker richtet sich vor allem gegen den genannten ungleichen Transfer, daß England weitgehend allein profitierte und Indien arm blieb und seine eigene Unterdrückung auch noch selbst bezahlen musste. Die Ressentiments gehen teilweise auch gegen den kolonialen Verwaltungs- und Bürokratietransfer, der Indien lange paralysiert hat und erst in jüngster Zeit einer dynamischen Wirtschaftsentwicklung gewichen ist.

Aber noch einmal zurück zu den indischen Erwartungen an die ehemaligen Kolonialherren. Mindestforderung ist eine Entschuldigung, die bisher verweigert wird, und konkrete Reparationsforderungen sind, wie gesagt, noch nicht quantifiziert worden. Sie könnten aber in Anbetracht der hohen Schadensummen deutlich höher ausfallen als die gegen Deutschland. Der Parlamentarier Shashi Tharoor gehört zu den vehementesten Befürwortern von Reparationsforderungen, die er sich auch nicht scheut, bei Besuchen in Großbritannien offen anzusprechen. Der ehemalige UN-Diplomat hat dazu auch ein Buch veröffentlicht, „Inglorious Empire: What the British did to India“, das in seinem Land hohe Wellen schlägt. Premierminister Modi hat Tharoor als Patrioten gelobt, der für die Gefühle vieler Inder spreche. Das Echo in der ehemaligen Kolonialmacht war dagegen erwartungsgemäß reserviert, schließlich habe man Indien modernisiert, mit der englischen Sprache auch linguistisch geeint, und zur größten Demokratie der Welt gemacht. Die Muster gleichen sich offenbar sowohl in Asien mit Japan und Korea als auch zwischen Großbritannien und Indien, wobei hier Präzedenzfälle zu weiteren Forderungen aus den zahlreichen anderen Kolonien führen könnten. Die Forderungen gegen Deutschland liegen in beiden Bereichen, Schäden aus dem zweiten Weltkrieg und der ehemaligen Kolonie Namibia. Die Verhandlungen oder eben deren diplomatische und juristische Verhinderung werden wohl andauern und sich noch Jahre hinziehen.  

Kommentar von Global Review: Die Debatte in Indien nimmt ebenfalls heftige Formen an, da einige Medien und Historiker Winston Churchill mit Adolf Hitler vergleichen, der beschuldigt wird, 20 Millionen Bengalen in einer organisierten Hungersnot verhungert haben zu lassen, während er rassistische Kommentare zur Minderwertigkeit der Inder abgegeben haben soll, dass sie der Nahrung nicht wert wären.

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