Interview mit Prof. Dr. van Ess: „Die Kommunistische Partei Chinas ist eine kommunistische Partei, die Leitlinien des Marxismus-Leninismus sind ihre Zielvorgaben“

Interview mit Prof. Dr. van Ess: „Die Kommunistische Partei Chinas ist eine kommunistische Partei, die Leitlinien des Marxismus-Leninismus sind ihre Zielvorgaben“

Global Review hatte die Ehre, ein Interview mit Prof. Dr.van Ess, Sinologe und Präsident der Max-Weber-Stiftung über China, die KP China und ihr Verhältnis zum Kommunismus, Konfuzianismus, Nationalismus und Futurismus zu führen.

Prof. Dr. Hans van Ess

Jahrgang 1962 
1983 -1986Studium der Sinologie, Turkologie und Philosophie in Hamburg (Stipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes)
1986MA in Sinologie
1986 -1988Studium an der Fudan Universität Shanghai (Stipendium des DAAD)
1992Promotion
1992 -1995Länderreferent beim Ostasiatischen Verein Hamburg
1995 -1998Assistent am Sinologischen Seminar der Universität Heidelberg
1998Habilitation (Universität Hamburg)
seit 1998Lehrstuhl für Sinologie, Ludwig-Maximilians-Universität München
2003-2005Dekan der Fakultät für Kulturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München
2007-2009Vizepräsident der Ludwig-Maximilians-Universität München
seit 2013Vizepräsident der Ludwig-Maximilians-Universität München für den Bereich Internationales
seit 01.03.2015Präsident der Max Weber Stiftung
  • Ehrenprofessor, Sun Zhongshan University Guangzhou (2014)
  • Halls-Bascom Professor, University of Madison, Wisconsin ( seit März 2014)
  • Herausgeber der Reihe Lun Wen (Studien zur chinesischen Literatur- und Geistesgeschichte), Wiesbaden: Harrassowitz-Verlag
  • Mitglied folgender Editorial Boards: Minima Sinica (Bonn); Bulletin of the Museum of Far Eastern Antiquities (Stockholm); Archiv orientální (Prag); Journal of Chinese Philosophy (Honolulu); T’oung Pao (Paris); Guoxue xuekan (Research in the Traditions of Chinese Culture)
  • Schatzmeister der European Association of Chinese Studies (1998-2004)
  • Mitglied der Deutschen Vereinigung für Chinastudien (DVCS)
  • Mitglied der Deutschen Morgenländische Gesellschaft (DMG)
  • Mitglied der Association for Asian Studies (AAS)
  • Mitglied der Mongolian Society

Forschungsschwerpunkte:

Konfuzianismus, chinesische Geschichtsschreibung, Zentralasienkunde (Mongolei, Mandschuren mit Bezug zu China, 17.-19. Jahrhundert)

Global Review: Prof. Dr. van Ess, als Präsident der Max-Weber-Stiftung dürfte Ihnen die Religionsoziologie Max Webers und seine Ansichten zur Entstehung des Kapitalismus, protestantischer Arbeitsethik und Konfuzianismus ein zentrales Anliegen sein. In den 50er Jahren wurde der Konfuzianismus als ökonomisches und politisches Entwicklungshemmnis betrachtet, heutezutage als ökonomisches Erfolgsmodell , wenngleich die KP China diesen politisch auch als Legitimation für ihr autoritäres System verwendet, während Taiwan sich als Demokratie ebenso auf Meister Konfuzius beruft. Oskar Weggel unterschied zudem zwischen Großem Konfuzianismus, der nicht mehr existierte und Kleinem Konfuzianismus, der die Lebens- und Bildungswelt der Chinesen durchdringe.

Welche konfuzianischen Elemente wurden damals als entwicklungshemmend und werden heute als entwicklungsfördernd angesehen und was ist davon zu halten? Ist der witschaftliche Erfolg dem Konfuzianismus zu verdanken oder der Wirtschaftspolitik oder einer Mischung aus beidem?

Prof. Dr. van Ess: Das zwanzigste Jahrhundert ist in China in der Tat durch sehr gegensätzliche Auffassungen hinsichtlich des Nutzens und des Schadens des Konfuzianismus geprägt. Zu Beginn des Jahrhunderts sah man den Konfuzianismus als Modernisierungshemmnis an, weil man meinte, dass er hierarchische Strukturen in der Gesellschaft zementierte. Die sogenannten „Fünf Beziehungen“ forderten den bedingungslosen Gehorsam des Untertanen gegenüber seinem Herrscher, des Sohnes gegenüber dem Vater, der Frau gegenüber dem Mann, der Jungen gegenüber den Alten, aber auch von Freunden untereinander. Besonders stark kritisiert wurde die Unterordnung der Frau unter den Mann. Von Anhängern des Konfuzianismus wurde dann aber betont, dass diese Analyse nur die negativen sozialen Auswüchse des Konfuzianismus beschreibe und dass dabei dessen geistige Ebene unberücksichtigt bleibe. Konfuzianische Geistigkeit betone universale Werte wie die Harmonie, aber auch die Bedeutung der Arbeit des Einzelnen an seiner eigenen Person. Konfuzianische Beharrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit und der unbedingte Lernwillen des Konfuzianers seien wichtige Voraussetzung für die Modernisierung Chinas und für den Geschäftserfolg des Einzelnen. In Taiwan haben Philosophen die Bedeutung einer anderen Tugend hervorgehoben, nämlich der loyalen Kritik, die ein Untertan an seinem Herrscher zu üben habe, wenn etwas falsch laufe. Insofern könne man im Konfuzianismus auch demokratische Werte erkennen. Gehorsam ist also im Konfuzianismus mit einer Aufforderung zur Ermahnung verbunden, die der Untertan vorbringen muss, wenn er sieht, dass sie nötig ist. Er hat sie aber im Rahmen des sozial Akzeptablen vorzubringen, radikale Forderungen, die dazu führen, dass die Herrschenden ihr Gesicht verlieren können, führen zu unbarmherziger und gesellschaftlich akzeptierter Strafe.

Ob man den wirtschaftlichen Erfolg dem Konfuzianismus verdanken kann, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Letztlich ist die VR China einem wirtschaftspolitischen Entwicklungspfad gefolgt, der zuerst von Japan und dann von Taiwan, Korea und Singapur vorgezeichnet worden ist. All diese Länder haben darauf gesetzt, mit planwirtschaftlichen, vom Staat vorgegebenen Strategien die wirtschaftlichen Freiheiten einheimischer Unternehmen zu unterstützen und einzurahmen. Dabei machte der Staat Vorgaben dahingehend, dass Importe das Finanzbudget der Länder nicht sprengen sollte und dass umgekehrt durch konsequente Exportförderung Kapital ins Land geholt wurde. Traditionell gepflegte Tugenden, die ich oben genannt habe, dürften bei dieser strategischen Planung geholfen haben.

Global Review: Helmut Schmidt fragte mal Deng Xiaoping, warum sich denn die KP China nicht in Konfuzianische Partei Chinas umbenenne. Inwieweit ist die KP China kommunistisch und inwieweit überhaupt konfuzianisch geprägt?

Prof. Dr. van Ess: Die Kommunistische Partei Chinas ist eine kommunistische Partei, die Leitlinien des Marxismus-Leninismus sind ihre Zielvorgaben. Tatsächlich ist aber in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkt die Ansicht vertreten worden, Marxismus und Leninismus einerseits und Konfuzianismus andererseits schlössen sich gegenseitig nicht aus, sondern seien eigentlich mit einander verwandt. Beide betonten zum Beispiel die Bedeutung der Akzeptanz politischer Vorgaben im Volk, für beide sei die moralische Ausbildung der Kader der zentrale Mechanismus, über den die Regierungspolitik ins Volk getragen werden könne. Viele Chinesen meinen, dass die Hegelsche Lehre von These, Antithese und Synthese im deutschen Idealismus nur deshalb entstehen konnte, weil dieser über Leibniz und dessen Korrespondenz mit der Jesuitenmission mit ursprünglich chinesischen Ideen gefüttert worden ist. Aber am Ende baut die von der KP Chinas etablierte Staatsstruktur des demokratischen Zentralismus auf reinem Stalinismus auf. Historische Erklärungsmodelle sind sämtlich marxistisch eingefärbt, Chinesen haben durch ihre Schulbildung sehr viel Marxismus im Kopf, oft ohne dass sie das bemerken. Eine echte konfuzianische Prägung sehe ich eigentlich kaum.

Global Review: China war ja zur Zeit der Ming-Dynastie, als der muslimische Eunchenadmiral Zheng He zur See fuhr, auf dem besten Wege eine See- und Handelsmacht zu werden. Gleichzeitig ist heute umstritten, ob es der Barbarensturm oder aber konfuzianische Beamte waren , die aufgrund des Handels eine Störung der himmlischen Ordnung des Feudalismus fürchteten und dieser Entwicklung ein Ende setzten? Welche Rolle spielten in den konfuzianischen Lehren Händler, Geschäftsleute,  Wirtschaft und das Militär? Gab es eine konfuzianische Wirtschaftslehre oder Ansätze dazu oder vergleichbare Schriften wie Sun Tses „ Die Kunst des Krieges“?

Prof. Dr. van Ess: Ob China feudalistisch organisiert war, ist umstritten. Nach marxistischer-leninistischer Theorie muss China natürlich als ein Feudalstaat angesehen werden, aber eigentlich hatte die Einführung eines bürokratischen Systems das Lehnswesen in China schon 221 v.Chr. beseitigt. Seitdem gab es keine Lehnsherren mehr, zumindest der Theorie nach rekrutierte sich die Elite anders als im Feudalismus aus einem nach den Prinzipien der Meritokratie im Rahmen eines Prüfungssystems ausgewählten Personenkreis. Das ist das  Gegenteil von Feudalismus. Die Elite der Ming-Dynastie scheint tatsächlich gefürchtet zu haben, dass Händler gegenüber dem Staat eine unkontrollierbare Macht aufbauen und ihm Schaden zufügen könnten. Traditionell galten Händler als unterste Gesellschaftsschicht, ähnlich wie übrigens auch im alten Rom, wo ebenfalls die Landbesitzer, vornehm als „Ackerbauern“ verbrämt, als gesellschaftlich wichtige Schicht angesehen wurden, weil sie einerseits den Staat und das Volk mit Nahrung versorgten und andererseits leichter zu besteuern waren als Händler. Beamte, die aus konfuzianisch gebildeten Händlerfamilien kamen, haben deshalb lange Zeit alles daran gesetzt, die Profession der Familie zu verbergen. Das blieb in der Rhetorik so bis zum Ende des Kaiserreichs 1911, allerdings bildete sich um die Wende vom Ende der Ming-Dynastie zur Fremdherrschaft der mandschurischen Qing-Dynastie im siebzehnten Jahrhundert trotz dieses Ressentiments eine starke Kaufmannsschicht heraus, aus der die chinesische Elite eigentlich stammte. Diese Kaufleute waren im Idealfall mit konfuzianischen Werten imprägniert. Wirtschaftstexte, die man las, hat es bereits im chinesischen Altertum gegeben, die „Kunst des Krieges“ dürfte allerdings eher weniger dazu gehört haben. Interessant ist, dass die KP Chinas heute versucht, an diese Tradition der „konfuzianischen Kaufleute“ anzuknüpfen, um das reine Gewinnmaximieren einzuhegen.

Global Review: Wie erklärt sich die Tatsache, dass chinesisch-stämmige Südostasiaten im wesentlichen die Wirtschaften Südostasiens dominieren und kontrollieren und auch als „die Juden Asiens“ angesehen werden? Konfuzianismus, Geheimgesellschaften und Triaden oder welche Erklärung gibt es dafür?

Prof. Dr. van Ess : Vermutlich sind für dieses Phänomen die starken Familienbande verantwortlich, welche die Unternehmerfamilien in Südostasien untereinander, aber auch mit ihren Heimatgemeinden in der VR China und auf Taiwan zusammenhalten. Geheimgesellschaften mögen eine Rolle spielen, wichtiger sind aber die internationalen Netzwerke, die diese Familien unterhalten und mit denen sich Angehörige gegenseitig unterstützen. Etwas Vergleichbares haben die provinzielleren Einheimischen häufig nicht vorzuweisen – und hier mag der Vergleich mit den Juden der Vormoderne, den viele Chinesen in der Tat selber ziehen, vielleicht zutreffend sein.

Global Review: Unter Hu Jintao schien es so, dass mit der „harmonischen Gsellschaft“ wieder mehr konfuzianische Elemente betont wurden. Unter Xi Jinping scheint es, dass man nun verstärkt wieder den Marxismus betont. Zumal in einer seltsamen Mischform aus „chinesischem Traum“, der dem Amerikanischen Traum und dem Exzeptionalismus angelehnt erscheint und dann mittels der nationalen Wiedergeburt scheinbar moderierte Anleihen an den historischen Materialismus des Kommunismus macht, in dem der KP China und China quasiteleologisch eine historische Mission und historische Vorhersehung zukommt. Ist dieser Eindruck richtig?

Prof. Dr. van Ess: Es ist wahrscheinlich zu früh, über die Regierungszeit Xi Jinpings zu urteilen, aber in der Tat scheint es so, als werde der Marxismus heute stärker betont als zu Hu Jintaos Zeiten. Die konfuzianisch klingende Losung der „Harmonischen Gesellschaft“, die Hu Jintao ausgegeben hatte, hing stark mit den sozialen Verwerfungen zusammen, die der kapitalistische Ruck verursacht hatte, den die KP zugelassen hatte, um das Land voranzubringen. Xi Jinping hat die Internationale Konfuzianismusvereinigung, eine schon seit Jiang Zemins Zeiten eng an die KP gekoppelte Organisation, anfänglich stark unterstützt, doch ist mein vorläufiger Eindruck, dass der Führung Bedenken gekommen sind, dass man die sozialistische Basis der Partei auf diese Weise auf die Dauer aushöhlen könnte. Das wäre für sie gefährlich. Der „chinesische Traum“ ist an die Stelle der „Harmonischen Gesellschaft“ getreten, weil damit dem chinesischen Bürger signalisiert wird, dass er den Aufstieg des Landes nicht mehr nur unterstützen soll, ohne sich über Ungerechtigkeiten zu echauffieren, sondern dass er auch selbst partizipiert. Natürlich ist die KP der Auffassung, dass sie die historische Mission hat, das Land wieder dahin zurückzuführen, wo es nach ihrer Auffassung vor dem Kolonialismus stand, nämlich an der Spitze der Welt.

Global Review: Waren die chinesischen Kommunisten eigentlich internationalistische Kommunisten oder mehr nationalistische Kommunisten? Zu Maos und Stalins Zeiten kam ja auch nie die Idee auf, die Sowjetunion und die VR China als Nationalstaaten abzuschaffen und zu einer kommunistischen Megasowjetunion zusammenzufassen. Wie beurteilen sie die Rolle des Nationalismus bei der KP China?

Prof. Dr. van Ess: Der Proletarier kennt kein Vaterland. Das gilt auch für das sozialistische China. Dennoch hat schon Mao die Vormachtstellung der Sowjetunion nicht akzeptieren wollen. Nationalismus ist in China eine negative Vokabel, an seiner Stelle spricht man von Patriotismus, den Stolz auf das eigene Land. Mao hat zwar gesagt, dass die Chinesen einem „weißen Blatt Papier“ glichen, auf das man jede Ideologie schreiben könne – auch die des Sozialismus. Aber er hat von den Vorgaben der chinesischen Kultur gelebt, die im Land an fast jedem Ort fassbar ist. Dies ist ein Element, das von der staatlichen Propaganda genutzt wird und in der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden fällt. Chinesen begreifen sich als Angehörige der weltweit einzigen alten Kulturnation, die kontinuierlich seit dem Altertum fortdauert. Insofern ist es sehr leicht, Chinesen im Inland auf die eigene Regierung schimpfen zu hören. Wenn man dieses Schimpfen aber als Ausländer übernimmt, erntet man leicht Befremden, denn dann stellt man von außen die Berechtigung des chinesischen Stolzes auf das eigene Land infrage.

Nationalistische Ressentiments sind Stimmungen, mit denen die KP sehr vorsichtig umgeht, denn wenn man ihnen freien Lauf lässt, besteht immer die Gefahr, dass sie aus dem Ruder laufen können. Mit Nationalismus spielt man nicht. Das hat natürlich nichts damit zu tun, dass man territoriale Ansprüche unter Rückgriff auf die eigene Geschichte begründet.

Global Review: In seinem Buch „The China Mirage“ zitiert James Bradley einen Brief Maos an den US-Präsidenten 1944 mit folgenden Worten:

“China must industrialise. This can be done … only by free enterprise and with the aid of foreign capital. Chinese and American interests are correlated and similar. They fit together, economically and politically … The United States would find us more cooperative than the Kuomintang. We will not be afraid of democratic American influence – we will welcome it.”

Inwieweit war Mao und die KP China überhaupt ein Verfechter eines kommunistischen Wirtschaftssystems oder sahen sie in der Wirtschaft nur ein Mittel für die Industrialisierung und den Aufstieg der Nation und da die USA sich nicht mit ihnen verbündete, sondern nur die Sowjetunion, wählten sie die Planwirtschaft und nicht den Kapitalismus? War das ernst gemeint oder nur eine Finte? Waren nur Deng Xiaoping und Liu Shaoqi die „capitalist roaders“?

Prof. Dr. Van Ess: Nein, es ist zwar umstritten, wieviel Mao von sozialistischer Theorie wirklich verstanden hatte, aber der Sozialismus hatte in den 30er und 40er Jahren eine erhebliche Anziehungskraft, nicht nur auf Mao Zedong, sondern auch auf Männer wie Chiang Kai-shek, der einen seiner Söhne zum Studium nach Moskau schickte. Und letztlich waren ja auch der amerikanische New Deal und Hitlers National-„sozialismus“ Abkömmlinge ähnlicher Ideen. Die freie Entfaltung des Kapitalismus ist ein Konstrukt der 50er Jahre, als die USA den Krieg hinter sich hatte. Eine Aussage aus dem Jahr 1944 kann man nicht dahin deuten, dass Mao eigentlich den Kapitalismus als Gesellschaftsmodell anstrebte. Auch Deng Xiaoping und Liu Shaoqi waren sozialistischen Idealen verpflichtet. Dass sie es nicht gewesen sein sollen, ist kulturrevolutionäre Propaganda. Dass man allerdings mit kapitalistischen Elementen im Rahmen des Staatssozialismus experimentieren konnte, ist ein Gedanke, dem viele chinesische Kommunisten gegenüber aufgeschlossen waren. Das passt ja auch zur marxistischen Ideologie, denn dass ein erfolgreicher Sozialismus sozusagen einen nachholenden Kapitalismus braucht, damit die Theorie wieder funktioniert, liegt ja auf der Hand.

Global Review: Die KP China befindet sich offiziell in einer kapitalistischen Übergangsphase, die angeblich immer noch das Endziel des Sozialismus habe. Angesichts der aufkommenden KI und des sozialen Bonussystems beschweren sich schon einige ausländische Betriebe, dass die KP China neben Parteizellen in den Betrieben auch schon einige indikative wirtschaftliche und ökologische Sollwerte vorgeben will. Schon Rudi Dutschke diskutierte mit osteuropäischen linken Oppostionellen 1968 über die Möglichkeit einer neuen Planwirtschaft angesichts der neuen Computertechnologien. Während Dutschke da sehr euphorisch war, lehnten die osteuropäischen linken Dissidenten dies ab, da sie nur eine Zuspitzung der ohnehin schon nicht funktionierenden Planwirtschaft des Comecons sowie eine Perfektionierung des Überwachungsstaates befürchteten. Unter dem sozialistischen Präsidenten von Chile, Salvador Allende wurde noch vor Aufkommen des Internets ein Kybernetikberater eingestellt, der ein Computernetzwerk Cybersync ersann, das die staatliche Planung der größten 400 nationalisierten Betriebe in einem volkswirtschaftlichen Plan, zumal unter Arbeiterbeteiligung versuchte. Die neue Denkschule der 2010er, die Akkzelerationisten berufen sich in ihrem Manifest für den Akzelerationismus auf dieses chilenische kybernetische Cybersync- Experiment, dessen Zentralcomputer nach dem Militärputsch unter neoliberaler Agenda Pinochets und der Chicagaoboys von Milton Friedmann als „kommunistische Teufelsmaschine“ angesehen und zerstört wurde. Hier lebt eine alte Idee  einer neuen Planwirtschaft auf, die KI, Big Data und Computernetzwerke mit kybernetischen Algorithmen neu auferstehen lassen will. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die KP China solch einen kybernetischen Sozialismus mit chinesischen Besonderheiten als Endziel anstreben könnte?

Prof. Dr. van Ess: Die künstliche Intelligenz ist für die KP China nur ein Mittel zum Zweck, nicht der Zweck selbst. Sie kann mit Momenten wie dem auf KI teilweise aufbauenden Sozialpunktesystem operieren, weil die chinesische Bevölkerung in alter sozialistischer Tradition sehr technikfreundlich erzogen ist. Die Unterstützung der Bevölkerung ist bisher groß, weil individuell wahrgenommene Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft weit verbreitet sind und sich viele Menschen erhoffen, der Computer werde die eigene Lebensleistung stärker ins rechte Licht rücken. Die Computertechnologie wird als objektivierendes Element angesehen.

Global Review: Wie sieht es mit der chinesischen Opposition im Exil und in China aus? Wie uns Vertreter mitteilten, habe diese sich gewandelt. Neben den nun schon gealterten Mauer der Demokratie und 1989er Veteranen, die teilweise schon verstorben sind, der Zerschlagung der Demokratischen Partei Chinas 1998  und nachdem sie mit dem Tod Liu Xiaobo und seiner Charta 2008 einen wichtigen Anführer verloren haben, ist nun auch die fundamentalreligiöse Falungong, Exiloligarchen wie Guo Wengui, den viele als chinesischen Trump einschätzen und die jungen Hongkongrevolutionäre dazu gekommen. Wie schätzen Sie die Potentiale und die Chancen einer neuen Oppositionsbewegung in China ein– auch angesichts von Trumps Handelskrieg und neuen Überwachungstechniken?

Prof. Dr. Van Ess: Ehrlich gesagt sehe ich im Moment keine chinesische Opposition, die aus dem Ausland heraus erfolgreich agieren kann. Alles, was sich da regt, wird von der KP als vom CIA gesteuert angesehen und bekämpft. Das gilt auch für die Bewegung in Hongkong, von der man vermutet, dass sie ein großangelegter US-amerikanisch/britischer Versuch war, die fortschreitende Integration Hongkongs in das chinesische System zu stoppen und im Idealfall von ihr ausgehend Unruhe auch in China selbst zu stiften. Wir haben gesehen, wie es den Protagonisten der Tian’anmen- Bewegung ergangen ist, aber auch der Falungong Bewegung. Sie sind in die USA oder andere westliche Staaten ausgewandert, haben dort zum Teil ihre Stimme wieder erheben können, sind aber in China in der Bedeutungslosigkeit versunken. In China selbst wüsste ich ebenfalls nicht, wie momentan eine Oppositionsbewegung entstehen könnte.

Gefährlich könnte dem Regime ein Scheitern seines wirtschaftspolitischen Modells werden, aus dem es seine Legitimation bezieht. Ich begreife die autoritären Maßnahmen Xi Jinpings als ein Eingeständnis der KP, dass der Entwicklungspfad der Ära Jiang Zemin und Hu Jintao so nicht dauerhaft fortzuführen ist und dass die chinesische Bevölkerung darauf eingeschworen werden muss, sich auch mit geringeren Wachstumsraten zufriedenzugeben, weil sonst der gesellschaftliche Konsens verlorengehen würde, der die KP bisher getragen hat. Ein solcher Schwenk von einer Politik, die lange Zeit versprechen konnte, dass der Wohlstand immer weiter wächst, zu langsamerer oder gar stagnierender Entwicklung ist nicht leicht zu bewerkstelligen.

Dennoch denke ich, dass es für den Westen besser ist, auf Veränderungen in China in kooperativer als in konfrontativer Form zu setzen. Wenn westliche Staaten in der Lage sind, China Reformvorschläge zu machen, die die Führung selbst als hilfreich erachtet, weil sie die enorme Last der Verantwortung, die auf ihr lastet, verringern kann, bringt das mehr als Konfrontation. In einer konfrontativen Situation schafft es die KP nämlich nach wie vor, große Teile der eigenen Bevölkerung hinter sich zu bringen.

Global Review: Mit dem Übergang von einer autoritären 1- Parteiendikatur der kollektiven Führung scheint sich nun eine 1- Mann-Dikatur auf Lebenszeit unter Xi Jinping samt Ideologie der Xi-Gedanken und sozialem Kreditsystem als neototalitäres System herauszubilden. Geschieht dies ohne Widerstand oder existieren innerparteiliche Gegenströmungen oder Widerstand, der diese Entwicklung bremsen oder umkehren könnte?

Prof. Dr. Van Ess: Ob Xi Jingping tatsächlich auf Lebenszeit zum Diktator wird, bleibt abzuwarten. Diktatoren herrschen normalerweise deshalb auf Lebenszeit, weil sie keine andere Option haben und in der Furcht leben, nach ihrem Abtreten einer sicheren Strafe entgegenzusehen. Das ist bei Xi Jinping nicht so, auch wenn es sicherlich unter den Anhängern Bo Xilais, der im Machtkampf 2011/12 unterlegen war, einen Parteiflügel gibt, der ihn hasst. Vielleicht gibt es auch mehr innerparteilichen Widerstand. Jedoch scheint dieser nicht so groß zu sein, dass Xi Jinping direkt etwas zu befürchten hätte, wenn er abträte. Er genießt viel mehr großes Ansehen. Da kann ich mich täuschen, aber nach meiner Wahrnehmung dürfte sich Xi Jinping während einer dritten Amtszeit genau überlegen, wohin der Weg gehen soll. Er ist heute 67 Jahre alt, beim Ende seiner zweiten Amtszeit 2022 als Generalsekretär wird er 69 sein – Jiang Zemin war zum gleichen Zeitpunkt 76. Während einer dritten Amtszeit wird sich herausgestellt haben, ob die Partei einen Nachfolger aufgebaut hat oder nicht. Das Sozialanrechnungssystem würde ich aus diesen Überlegungen herauslassen.

Global Review: Die KP China schien bei ihrer Eliterekrutierung von loyalen Parteiveteranen zu Naturwissenschaftlern und zuletzt auch weltoffeneren, kosmopolitischen Akademikern überzugehen. Welche Besonderheiten hat die heutige Eliterekrutierung der KP China und ist dieser Trend unter Xi rückläufig? Inwieweit kann innerhalb der Elite überhaupt noch Kritik geübt oder neue Gedanken eingebracht werden?

Prof. Dr. Van Ess: Innerhalb einer von der Partei unabhängigen Elite wurde auch vor Xi Jinping keine öffentlich relevante Kritik geübt bzw. geduldet. Ich sehe da keinen Unterschied. Die Führung der KP China bestand in der Vergangenheit zu großen Teilen aus Ingenieuren, heute gibt es in der Tat Sozialwissenschaftler wie den Ministerpräsidenten Li Keqiang. Die KP China hat über 80 Millionen Mitglieder, unter denen sich Intellektuelle aller Fachrichtungen finden. Innerparteilichen Dissens gibt es aber natürlich. Er ist möglich, solange bestimmte Tabus und der marxistisch-leninistische Grundkonsens gewahrt bleiben.

Global Review: Neben dem Ziel bis 2049 eine Militärmacht auf Augenhöhe mit den USA zu werden, scheint China sich nun auch als globale Öko-, Wohlstands- und Gesundheitsmacht profilieren zu wollen. Inwieweit ist dies realistisch und wird das chinesische System vielleicht auch weltweit so attraktiv wie es bisher der Westen und die USA waren?

Prof. Dr. Van Ess: Das letztere ist natürlich die Hoffnung der KP. Grundsätzlich ist es aber wohl so, dass die chinesische Führung einer Grundstimmung im chinesischen Volk folgen möchte, das sich um den Zustand der Umwelt dann Sorgen macht, wenn die eigene Gesundheit offensichtlich betroffen ist. Seit langem gibt es Bestrebungen, die Feinstaubbelastung zu senken, weil jeder chinesische Städter weiß, dass diese ein Problem für ihn ist – und zwar in völlig anderer Form als im Westen, dessen Großstädte chinesische Touristen als Luftkurorte empfinden. Bei Covid-19 hat China anfänglich nicht besonders brilliert, aber dann in der Wahrnehmung der eigenen Bevölkerung von den Versäumnissen westlicher Regierungen – einschließlich der deutschen – profitiert. Insofern könnte es durchaus sein, dass China im Systemwettkampf im Moment mit dem Westen in einigen Punkten mindestens gleichzieht. Es gibt aber noch genug Bereiche, in denen China nach wie vor Entwicklungsland ist, was übrigens die chinesische Regierung auch so sieht. Letztlich liegt es am Westen, sich vernünftig zu positionieren, und nicht darauf zu warten, dass China an ihm vorbeizieht. Das bedeutet aber für den Westen auch, sich zu überlegen, ob sich seine Regierungen in ihrem wirtschaftspolitischen Handeln wirklich auf Dauer an der Meinung von NGO’s orientieren wollen, wie das heute immer öfter der Fall ist. In China wird das sicherlich auf absehbare Zeit nicht geschehen, weil man dort der Meinung ist, dass die politische Elite die Konsequenzen ihres Tuns besser versteht, als dies außerhalb ihrer selbst der Fall ist.

Global Review: Zur neuen Weltmacht braucht es noch Zeit bis 2049, zum 100. Gründungstag der VR China, um an die USA heranzureichen. Ob China dies will oder kann, bleibt auch eine umstrittene Frage, wobei Kishore Mahbubani der Ansicht ist, dass China eher einw neue Art evolutionärer Supermacht ohne militärische Dominanz und mehr an den ganzheitlichen Lehren Maos (Guerillataktik und permanente Revolution), des Daoismus (evolutionäre Kraft des Wassers und des Weichen) , Konfuzius ( Verachtung des Militärs und harmonische Gemeinschaft ) und Sun Tses ( Vermeide den Krieg durch den Einsatz von 8 Agenten, Führe nur Krieg, wenn du dich selbst und den Feind kennst und ihn gewinnen kannst) angelehnt sein will, während John Mearsheimer und sein offensiver Realismus dies für fernöstliches und esoterisches Weisheitsgeschwätze ansehen und eher der Ansicht sind, China werde die USA als Weltmacht auch in militärischen und anderen Angelegenheiten machtpolitisch kopieren wie jede aufsteigende Supermacht, werde nicht eine soft power-Supermacht, sondern eher eine hard power- Supermacht werden wollen. Welcher Position neigen Sie mehr zu?

Prof. Dr. Van Ess: China wird sich genau überlegen, wann es militärisch aktiv werden will, und dies vermeiden, wo es möglich ist, denn es glaubt, dass der Status quo für das eigene Land arbeitet. Mit Ganzheitlichkeit und Esoterik hat das alles wenig zu tun, eher mit einer realistischen Einschätzung seiner Möglichkeiten. Aber es gibt bestimmte Grenzlinien. In Hongkong hat man das gerade schön sehen können. Viele westliche Journalisten schrieben im Sommer 2019 so, als würden sie den Moment kaum erwarten können, da Chinas Militär mit Waffengewalt gegen die Demonstrationen vorgehen würde. Diese Erwartungen wurden enttäuscht. Stattdessen kam das Sicherheitsgesetz, über das der Westen zwar laut klagt, gegen das er aber nichts tun kann, weil die VR China das Völkerrecht nicht offensichtlich verletzt hat (und auch wenn es das getan hätte, könnte man nichts tun). Sollte Taiwan seine Unabhängigkeit erklären und dafür die Verfassung ändern (die taiwanesische Regierung sieht sich ja ihrer eigenen Verfassung zufolge immer noch als legitime Regierung Chinas) oder auf dem Weg dahin einen Schritt zu weit gehen, dann würde bei aller daoistischen Weltsicht eine massive militärische Reaktion erfolgen. Auch im Inselstreit mit Japan und im südchinesischen Meer oder beim Territorialkonflikt mit Indien lohnt sich ein Waffengang nur dann, wenn die andere Seite diesen offenbar will. Das Militär ist die wichtigste Stütze des Regimes und wird trotz Konfuzius nicht verachtet. Jeder kommunistische Führer seit Mao Zedong leitet die zentrale Militärkommission. Für Deng Xiaoping war dies das einzige wichtige Amt, das er behielt, als er alle anderen Ämter aufgegeben hatte. Das heißt nicht, dass man sich in militärische Abenteuer stürzen würde, nur um Generäle zufriedenzustellen. Natürlich versucht China im Rahmen des ihm wirtschaftlich Möglichen die USA auf militärischer Ebene einzuholen.

Global Review: Wissen Sie eigentlich,was aus der Konfuziusstatue geworden ist, die am Platz des Himmlischen Friedens in der Nähe des Maobilds aufgestellt wurde? Sie verschwand über Nacht und dann hieß es sie werde überarbeitet.

Prof. Dr. van Ess: Die Statue hat man ins Nationalmuseum gebracht, sie steht draußen in einer Nische, gar nicht weit weg von ihrem früheren Standort – aber nicht mehr so nah bei Mao Zedong und auch nur für Interessierte sichtbar.

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