Was tut China in den Lagern in der Autonomen Provinz Xinjiang?

Was tut China in den Lagern in der Autonomen Provinz Xinjiang?

Autor: Prof. Hans van Ess

Originalartikel: (Hans van Ess. Die 101 wichtigsten Fragen China, C.H.Beck, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. 2020),

Xinjiang bedeutet “Neue Territorien”. Diesen Namen erhielt das Gebiet, als die Truppen der Qing-Dynastie die dort nomadisierenden mongolischen Dsungaren zwischen dem Ende des siebzehnten und der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ihrer eigenen Herrschaft unterworfen hatten. Schon während der Han-Dynastie hatte es vor zweitausend Jahren in den wahrscheinlich vor allem von iranischen Völkern besiedelten Oasenstädten auch chinesische Militärkolonien und Gouverneure gegeben, die jedoch in Zeiten militärischer Schwäche wieder abgezogen wurden, ohne dass der chinesische Kultureinfluss jemals völlig untergegangen wäre. Während der Mongolenzeit im dreizehnten Jahrhundert bis zum Untergang der Ming-Dynastie im siebzehnten Jahrhundert war die Grenze zwischen chinesischem Reich und benachbarten turkstämmigen Dynastien durch den östlichen Teil des Gebietes verlaufen, in den südwestlichen Gebieten entfaltete sich die muslimische Kultur von Völkern, die mit den Usbeken verwandt waren. Die heutige Provinzmetropole Urumchi ist wohl erst im achtzehnten Jahrhundert als mandschurische Verwaltungsstadt erbaut worden. Uigurisch-türkischer Bevölkerungsschwerpunkt war immer die Gegend um die Städte Kashgar, Aksu und Khotan im äußersten Südwesten der heutigen Provinz, während weiter nördlich vor allem mongolische, kirgisische und kasachische Nomaden Viehzucht betrieben. Ergänzend kamen die sogenannten “Dunganen” hinzu, wie die autochthon chinesischen Muslime in westlichen Sprachen genannt werden.

Die weiten und zu größeren Teilen leeren Flächen Xinjiangs weckten schon im frühen neunzehnten Jahrhundert Phantasien chinesischer Literaten, die hofften, durch Umsiedlungen dort das Problem des rasanten Bevölkerungswachstums in China lösen zu können. Solche Pläne wurden jedoch nicht umgesetzt. Stattdessen lag der Westen Xinjiangs im Zuge des sogenannten “Great Game” um den Zugang nach Zentralasien am Rande der Interessensphären Russlands und Englands. Mehrere muslimische Aufstände, bei denen die Dunganen allerdings zum Teil auf chinesischer Seite standen, wurden während des 19. Jahrhunderts unter hohen Kosten niedergeschlagen. Als die Qing-Dynastie 1911 zusammenbrach und sich viele der in Xinjiang ansässigen Chinesen oder Mandschuren aus der Provinz zurückzogen, bildete sich eine Gruppe Uiguren heraus, die zum Teil mit Unterstützung der jungen Sowjetunion versuchten, die Unabhängigkeit als Republik Ostturkestan zu erlangen. Diese Versuche, die indes nur auf sehr kleine Gebiete im Westen Xinjiangs beschränkt blieben, brachen schnell in sich zusammen. Internationale Anerkennung blieb aus, und drei aufeinander folgende chinesische Warlords behielten die Oberhand, bis Mao Zedong 1949 die in Xinjiang stationierten Truppen der Guomindang Jiang Kaisheks und der uigurischen Befreiungsfront dazu überreden konnte, die Herrschaft der Volksrepublik China über das Gebiet anzuerkennen. Er rief 1955 die Uigurische Autonome Region aus. Gleichzeitig begann ein Programm zur Ansiedlung von Han-Chinesen, im Rahmen dessen sich die demographischen Daten des Landesteils allmählich verschoben. Anfänglich dürfte dies vor allem die demographischen Verhältnisse von vor 1911 wiederhergestellt haben. Schon 1954 wurde das Xinjiang Produktions- und Aufbaukorps gegründet, eine nach traditionell chinesischer Organisation und in Anlehnung an die mandschurische Militärkolonisation aufgebaute halbmilitärische Einheit mit 175000 Männern und Frauen, die dünn besiedelte Gebiete urbar machen sollten. Doch im Laufe der Zeit nahm der durch attraktive staatliche Gehälter angeheizte Kolonialisierungsdruck aus den dicht bevölkerten chinesischen Inlandsprovinzen so zu, dass sich viele Uiguren fremd im eigenen Land zu fühlen begannen. Nach Zahlen aus dem Jahr 2015 sind von den ca. 24 Millionen Einwohnern der Provinz über 11 Millionen Uiguren, ca. 8,6 Millionen Han, 1,6 Millionen Kasachen und 1 Million “Dunganen”, also ethnische Chinesen muslimischen Glaubens. Sogar in der uigurischen Metropole Kashgar gibt es neben der uralten Uigurenstadt ein modernes chinesisches Viertel, in dem das Leben in gänzlich anderen, Han-chinesischen Bahnen verläuft. Allerdings konzentriert sich die Mehrheit der Uiguren auf die angestammten Siedlungsgebiete in Südwest-Xinjiang, während die Mehrheit der Han-Chinesen im ethnisch stark unterschiedlichen Nordteil des Landes lebt, in dem auch schon früher wenig Uiguren siedelten. Fast die Hälfte der Han sind Einwohner der Provinzhauptstadt Urumchi, wo der uigurische Bevölkerungsanteil nur etwa ein Zehntel ausmacht.

Als die zentralasiatischen Turkstaaten als Ergebnis der russischen Perestroika unabhängig wurden, regten sich auch in Xinjiang neue Abspaltungstendenzen, die in den 90er Jahren in antichinesischen Demonstrationen gipfelten, denen die chinesische Regierung mit Polizeigewalt zu begegnen versuchte. Zwischen 2007 und 2014 kam es zu einer Reihe von nationalistisch motivierten Anschlägen durch Uiguren mit zahlreichen Toten in Xinjiang, aber auch in Peking und im südwestchinesischen Kunming. Polizei und Militär in Xinjiang hatten durch verschiedene Maßnahmen versucht, der Lage Herr zu werden. Abriss und Neugestaltung größerer Teile der mittelalterlichen Altstadt von Kashgar im Jahr 2010 hatten einerseits sicherlich, wie von chinesischer Seite behauptet, das Ziel, die bauliche Sicherheit zu erhöhen, dienten aber gleichzeitig auch einer leichteren Überwachung der Bewohner. Die Umgestaltung wurde von uigurischer Seite zumindest als unsensibel empfunden – wie überhaupt eine Wurzel des Konflikts darin begründet ist, dass sich die ethnischen Gruppen der Uiguren und der Han in Xinjiang äußerst schwer mit einem gegenseitigen Verständnis tun. Schweinefleisch, Bier und Kopftücher wirken auch in Xinjiang spaltend. Chinesen glauben, dass sie sich alle Mühe geben, Uiguren zum Beispiel durch Universitätszugangsquoten gute Startbedingungen für ein Leben in der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China zu verschaffen und sind empört über die vermeintliche Undankbarkeit ihrer uigurischen Landsleute. Uiguren wiederum bemerken, dass eine Teilhabe am chinesischen Wohlstand nur über Sprachkenntnisse und eine weitgehende Assimilation zu erlangen ist. Was diese für Uiguren bedeutet, können sich viele Han-Chinesen gar nicht vorstellen.

Chinesische Behörden waren besorgt, weil sich unzufriedene Uiguren in Syrien und dem Iraq dem Islamischen Staat anschlossen, bei Al Qaida mitmachten und auch in Kriegsgebieten des benachbarten Afghanistan aktiv waren. Dieser Sachverhalt ist in seinen wahren Ausmaßen indes schwer zu beziffern, er hat aber zusammen mit der Bedrohung durch Anschläge und im Zuge der stärkeren ideologischen Kontrolle unter Xi Jinping dazu geführt, dass die Zentralregierung in Peking auf Mittel sann, wie Xinjiang zu einem “sicheren” Gebiet gemacht werden könne, das auch für chinesische Touristen attraktiv bleibt. Angelehnt an George W. Bushs verhängnisvolles Wort vom “war on terror” rief Xi Jinping 2014 den “Kampf des Volkes gegen den Terror” aus. Im Jahr 2016 trat ein neuer Mann das Amt des Parteisekretärs in Xinjiang an, der alsbald begann, Lager zu errichten, in die zahlreiche Uiguren zu, wie die chinesische Seite es ausdrückt, Erziehungs- und Ausbildungszwecken verbracht wurden. Unabhängige Daten, wieviele Menschen in solchen Lagern bisher waren, sind nicht erhältlich, westliche Organisationen und Uigurenvertreter sprechen von bis zu einer Million Personen, ohne allerdings solide Quellen benennen zu können. Jedoch ist offensichtlich, dass der chinesische Kampf gegen den Terror mit aller Härte geführt wird. Wie mehrere andere prominente Uiguren, so wurde 2017 auch Tashpolat Tiyip, der Präsident der Xinjiang Universität in Urumqi, der gleichzeitig Vizeparteisekretär der KP an seiner Universität gewesen war, zum Tode verurteilt, bei einer Aussetzung der Todesstrafe für zwei Jahre. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Zeilen scheint sie nicht vollstreckt zu sein, der Vorgang zeigt aber den Ernst der Lage. Der Vorwurf lautete auf Separatismus und “Doppelgesichtigkeit”, ein Begriff, mit dem Uiguren angegriffen werden, die nach Han-chinesischer Auffassung rhetorisch für den chinesischen Staat eintreten, aber heimlich gegen die Zugehörigkeit Xinjiangs zu China zu Felde ziehen.

Im November 2019 veröffentlichte die New York Times einige vom stellvertretenden Parteisekretär Xinjiangs unterzeichnete Dokumente, die den Titel “Xinjiang Cables” erhielten. Sie gewährten der Zeitung zufolge einen nie dagewesenen Einblick in die Praktiken der Unterdrückung von Uiguren. Ein Blick in die im Internet frei verfügbaren Dokumente bestätigt allerdings interessanterweise, dass die Parteiführung meint, dass man im Kampf gegen den Terrorismus auf Berufsausbildung setzen müsse, damit Uiguren auf dem chinesischen Arbeitsmarkt erfolgreich sein können. Dafür brauche man Berufsbildungszentren für ein entsprechendes Training, in denen Sicherheit gewährleistet sei. Einerseits sei es der Polizei strikt verboten, die studentische Zone mit Feuerwaffen zu betreten, andererseits müssten sie die Flucht der Insassen verhindern. Ein Großteil der Dokumente betrifft administrative Anweisungen dazu, wie solche Lager zu führen seien, um gegen Feuer, Erdbeben, Epidemien oder Aufruhr gewappnet zu sein, ansonsten geht es in zentraler Form um die Art und Weise, wie konzentriertes Chinesisch-Studium mit genügend Zeit und qualitativ hochwertigem Unterricht sichergestellt werden kann. “Entextremisierung” solle integraler Bestandteil des Chinesisch-Unterrichts sein, neben technischen Fertigkeiten auch eine juristische Erziehung angeboten werden. Alle Personen in den Lagern sollen lernen, positiv zu denken, negative Gefühle der Vergangenheit abzulegen, Höflichkeit, Gehorsam und Freundschaft anzunehmen. “Studenten” sollten mit ihren Verwandten wenigstens einmal pro Woche über Telefon, Video Chats, Treffen oder gemeinsame Mahlzeiten in Kontakt kommen. Die Beendigung des Studiums solle nicht vor einem Jahr erfolgen, und die Gesamtpunktezahl den vorgeschriebenen Standards entsprechen. In der englisches Übersetzung eines Dokuments – in der chinesischen Originalfassung ist die Statistik geschwärzt – ist genau aufgelistet, wie viele verdächtige Personen man in einer Woche im Sommer 2017 in den vier wichtigsten Städten Südwest-Xinjiangs bemerkt habe (24.412), wieviele davon in Polizeigewahrsam genommen wurden (706) und wieviele demgegenüber zu “Erziehung und Training” geschickt wurden (15683). Festgestellt wurde auch, wieviele Personen eine bestimmte App genutzt hatten, über die nach chinesischer Auffassung separatistische Botschaften verschickt wurden (40.557.

Die Dokumente zeugen davon, dass die Kommunistische Partei überzeugt davon ist, mit den Lagern einen guten Weg im Kampf gegen den Terror gefunden zu haben – der Aspekt, dass man sie auch als Mittel der Freiheitsberaubung ansehen könnte, scheint den Erstellern der Leitlinien gar nicht recht in den Sinn gekommen zu sein. Man glaubt offenbar, den Uiguren in den Lagern etwas Gutes zu tun, oder zumindest, dass die angeordneten Maßnahmen unumgänglich sind, wenn China den Kampf um Xinjiang nicht verlieren möchte; und der verantwortliche Parteisekretär weiß, dass ein Versagen im Kampf gegen den Terror sein eigenes Karriereende bedeuten würde, während umgekehrt der Fall Hu Jintao’s anspornt, der sich die Sporen für den Posten des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei in Tibet erworben hat.

In den “papers” findet sich auch ein Dokument in uigurischer Sprache, das einen Gerichtsfall eines zuvor unbescholtenen Uiguren verhandelt, der am 9. August 2017 festgehalten wurde wegen des Verdachts, “eine Menge versammelt” zu haben, um öffentlichen Aufruhr zu erregen. Ihm wurde vorgeworfen, extremistische Gedanken bei seinen Kollegen angestachelt zu haben, indem er ihnen nahelegte, sie seien Ungläubige, wenn sie schmutzige Worte äußerten oder Essen annähmen von Frauen, die nicht beten, oder von Menschen, die rauchen und trinken. Der Mann, dem es offenbar darum ging, seine Kollegen zum Einhalten muslimischer Essgebote anzuhalten und gegen Han-chinesische Ess- und Trinkgewohnheiten einzunehmen, wurde wegen der Anstachelung zu Hass zwischen den Volksgruppen mit einer Gefängnisstrafe von 10 Jahren Haft belegt, ein Urteil, gegen das er Berufung einlegen durfte. Die Richter waren interessanterweise allesamt Uiguren. Vielleicht handelten sie auf Han-chinesische Anweisung. Wahrscheinlicher ist aber, dass die Xinjiang Cables einen recht authentischen Lagebericht aus einer zerrissenen Nation liefern, in welcher der Verlauf von Frontlinien weit weniger eindeutig ist, als man dies im Westen meint.

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