Interview mit Dr. Alexander Rahr über das 18. Valdaiclubtreffen:“Russische Experten reden von einem möglichen Verteidigungskrieg gegen die NATO“- „Die Ukraine darf nicht Mitglied der NATO werden“

Interview mit Dr. Alexander Rahr über das 18. Valdaiclubtreffen:“Russische Experten reden von einem möglichen Verteidigungskrieg gegen die NATO“- „Die Ukraine darf nicht Mitglied der NATO werden“

Global Review hatte erneut die Ehre, Prof. Alexander Rahr, Russlandexperte, Politologe, Mitglied des Valdai-Clubs, Putin-Berater für Gazprom bei der EU über das 18. Treffen des Valdai-Club-Treffen in Sotschi 2021 zu interviewen. Alexander Rahr ist Honorarprofessor am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen und Wirtschaftshochschule. Er studierte an der Ludwigs- Maximilians- Universität München, arbeitete 1980-1994 für das Forschungsinstitut für Radio Freies Europa, das Bundesinstitut für Osteuropa- und Internationale Studien. Er war Berater der RAND Corporation, USA. Von 1994 bis 2012 leitete er das Russisch-Eurasische Zentrum beim Deutschen Rat für Auswärtige Politik. Anschließend beriet er die Wintershall Holding und später Gazprom Brüssel zu europäischen Angelegenheiten. Darüber hinaus war er auch als Gesprächspartner ein häufiger Gast bei Putin. Seit 2012 ist er Programmdirektor des Deutsch-Russischen Forums. Er ist Mitglied des Petersburger Dialogs, des Valdai Club, des Yalta European Strategy Network, Autor mehrerer Bücher über Russland.

Global Review: Dr. Rahr, bevor wir auf den jetzigen 18. Valdaiclub kommen, wollten wir noch die beiden zuvorigen Valdaiclaubs zu Zentralasien und dem Balkan thematisieren. In Zentralasien war ja der Abzug der US-und NATO truppen in Afghanistan vorhersehbar. Wie hat sich Russland darauf eingestellt und welche Rolle hat Zentralasien bei der damaligen Valdaikonferenz eingenommen. Hat man da Optionen entwickelt, wie man mittels der SCO oder anderer Mittel eine mögliche Desatbilisierung dieses Krisengürtels vornehmen könnte? Gab es da programmatische und visionäre Ideen? Auch in Hinblick mit China?

Dr. Rahr: Zunächst freue ich mich, dass ich an dieser Stelle über die Arbeit der internationalen Valdai Clubs, den es seit fast 20 Jahren gibt und in dem auch zahlreiche andere deutsche Politologen vertrete sind, berichten darf. Russland betrachtet die Länder Zentralasiens, die ja seit dem 19. Jahrhundert Teil des russischen, und dann sowjetischen Imperiums gewesen sind, als wichtige strategische Partner. Niemand in Moskau will Länder wie Kasachstan oder Uzbekistan wieder zurück ins Imperium holen. Aber wichtig für Russland ist, dass diese Länder sicherheitspolitisch bei Russland bleiben und nicht in ein pro-NATO Bündnis abdriften. Russland hat nach den Terrorangriffen auf die USA am 11 September 2001 den Recht zugestanden, Militärbasen gegen den islamistischen Terrorismus in Afghanistan in Zentralasien einzurichten. Die Versorgung dieser Militärbasen erfolgte über russisches Territorium, so gut waren Anfang des Jahrhunderts die Beziehungen zwischen den ehemaligen Rivalen des Kalten Krieges. Heute sperrt sich Russland gegen Wünsche der USA, nach dem Rückzug der NATO aus Afghanistan, amerikanische Militärbasen oder Horchposten in Zentralasien einzurichten. USA und Russland vertragen sich nicht mehr. Moskau will das Problem des internationalen Terrorismus im Mittleren Osten nicht mehr mit den USA zusammen angehen, sondern nur im Rahmen der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit (Shanghai Cooperation Organisation). In dieser, im Westen kaum wahrgenommenes Organisation, spielen Beijing und Moskau die Führungsrolle. Alle Länder Zentralasiens, außer Turkmenistan, sind Mitglieder dieser Sicherheitsstruktur. Ein russischer Experte beklagte auf der Sitzung des Valdai Klubs zu Zentralasien, dass man in Zentralasien so hervorragend gemeinsame Sicherheitspolitik mit China betreiben kann, dass aber mit der NATO im Europa es keine Kooperation, nur Feindschaft gebe. Auf der Konferenz wurde darüber gesprochen, dass die Shanghaier Organisation den Nukleus für ein neues kollektives Sicherheitssystem für Asien bilden könnte. Afghanistan sollte in diese Sicherheitsstrukturen eingebunden werden. Dass eine Delegation der Taliban derzeit in Moskau über eine internationale Anerkennung und über Wirtschaftshilfe verhandelt, zeigt, dass die „moderaten Islamisten“ sich schneller mit Moskau und Beijing, als mit NATO, USA und EU verständigen könnten. Heute sehen die Russen in den Islamisten eine kleinere Gefahr als die Möglichkeit einer NATO Einkreisung vom Süden. 

 
G.obal Review: Der Balkan bleibt ja ein Pulverfass. Russland wird vorgeworfen dies zugunsten einer russischen Welt und zugleich „serbischen Welt“ in Kooperation mit Serbien umgruppieren zu wollen, zumindestens eine weitere EU- oder NATO- Expansion unmöglich zu machen. Es gab einen versuchten russischen Putschversuch in Montenegro, nun die Auseinandersetzung um den serbischen Patriachen in Montenegro, zugleich drohten die Serben der NATO in einem 24 Stunden-Ultimatum mit einem Krieg mit Kosovaalbanien, was vorerst deeskaliert wurde seitens der EU. Jedoch sehr ungewöhnlich. Zudem unterstützt Putin in Nordmazedonien den ehemaligen Regierungschef, der mehr prorussisch war. Bisher gab es Ultimaten gegen Serbiens seitens der Habsburger oder der NATO und nicht umgekehrt. Ware die Serben so frech, weil sie Putins Unterstützung hatten? Wobei die Kosovoalbaner scheinbar auch die Serben provozieren wollen und auch Überlegungen haben , sich mit Albanien zu vereinigen., zumal Albin Kurti auch einen albanischen Pass hat und solche Ideen schon auf Al Jazeera verbreitet. Jedenfalls gab es einen offenen Brief von 300 Intellektuellen aus dem B Westbalkan, die auf eine rasche EU-Mitgliedschaft drängten, da ansonsten diese Grenzfragen anders geklärt werden würden und der Balkan in Gefahr sie, wieder in Konflikte wie in den 90err Jahren hineinzukommen. Dennoch hat die EU beschlossen, dass die Westbalkanstaaten nicht in die EU reinkommen, da man keine weiteren autoritären und instabilen Regierungen mit Vetorecht ala Ungarn und Polen mehr haben will, mit Ausnahme Orban- Ungarns und dass man eher ein Infrastrukturprogramm in Höhe von 30 Mrd. Euro auflegen solle, um den Westbalkan an die EU anzubinden und gegen Russland und Chinas Neue Seidenstrasse auf dem Balkan etwas entgegenzusetzen. Wie war die Diskussionen des Valdaiclubs zum Balkan und wie wurde dies seitens Russland gesehen.?

Dr. Rahr: Ich freue mich, auch über unsere Balkan-Konferenz des Valdai Klubs berichten zu können. Eigentlich ist die Sache sehr einfach. Russland sieht sich wieder als europäische Großmacht und möchte auf dem Balkan seine traditionelle Gestaltungsrolle – wie Anfang des vergangenen Jahrhunderts – einnehmen. Anders als viele Mittelosteuropäer, die mit aller Kraft in die NATO und EU drängen und nichts mehr mit Russland zu tun haben möchten, wollen die Serben sowohl mit dem Westen als auch mit Russland gute Beziehungen haben. Serbien wird in absehbarer Zeit nicht in die NATO eintreten, dafür gibt es in der Bevölkerung keinen Konsens. Auch die Erinnerungen an den NATO Krieg gegen Serbien sind noch viel zu präsent. Für Russland ist das essentiell. Solange Serbien außerhalb der NATO steht und freundschaftlich mit Moskau verbunden ist, wird der strategisch wichtige Westbalkan kein NATO Aufmarschgebiet gegen Russland. So sehen es die russischen Strategen. Die serbischen Politiker übertrafen sich auf unserer Konferenz in Belgrad in Sympathiebekundungen Richtung Russland. Manche forderten sogar noch stärkeren Einfluss Moskaus. Was der Westen nicht versteht: Russen und Serben betrachten sich als orthodoxe Glaubensbrüder. Was China angeht, so möchte Russland mit China auf dem Balkan und in Osteuropa kooperieren. Russland unterstützt die chinesische Seidenstraßen-Strategie, weil sie für Moskau weniger Konfrontation darstellt, als die westliche Östliche Partnerschaft der EU. Dass die Westbalkanstaaten nicht in die EU aufgenommen werden, weil Frankreich es nicht will, öffnet Moskau und China Investitions- und Entfaltungsmöglichkeiten in dieser Region. In den nächsten Jahren, vielleicht Jahrzehnten, werden EU und Russland/China um Einfluss auf dem Westbalkan heftig ringen. 



Global Review: Das 18. Treffen des Valdaiclubs stand unter dem Motto: “Global Shake-Up in the 21st Century: The Individual, Values, and the State.”. In der ersten Runde ging es darum, wie Covid und seine Effekte zu bewerten seien, auch geopolitisch, ob man vielleicht auch vorbereitet sein müsse auf noch schlimmere Epidemien in der Zukunft und wie die Welt und Russland darauf sich einstellen müssten.. Was waren da die wesentlichen Positionen?

Dr. Rahr: Das COVID-Thema war das dominierende auf der diesjährigen Valdai-Konferenz. Es gab viele gute Vorträge zu diesem Thema, sowohl von russischen Experten, als auch von westlichen. Besonders gefallen haben mir die nüchternen Analysen der teilnehmenden Briten. Sie sehen die Lage ähnlich wie die Russen: die Gesundheit der Bevölkerung, der Schutz vor der Pandemie sein natürlich wichtig, aber nicht so wichtig, um dafür die Wirtschaft zu opfern. Der Moskauer Oberbürgermeister Sobjanin erklärte auf unserer Konferenz, man müsse zwar immer wieder temporäre Lockdowns einführen, um die Todesfälle an Covid in den Krankenhäusern zu begrenzen. Aber eine kaputte Wirtschaft als Folge des Kampfes mit der Pandemie würde dem nationalen Interesse mehr Schaden zufügen. Wie sehen russische Politiker und Experten die Gesamtlage in der Pandemie. Der wissenschaftliche Berater Putins erklärte, die Menschheit würde jahrelang mit der Pandemie leben müssen. Schon im nächsten Jahr würden neue hochgefährliche Mutanten von Corona im Süden des Planeten entlehne und die Menschheit im Norden angreifen. Neue Vaccine müssten schnell entwickelt werden. Dazu käme der Klimawandel. Für Russland hätte er verheerende Auswirkungen. Die Sommer in Sibirien würden künftig wärmer und länger werden. Die dort lebenden Menschen seien für diese epochalen Naturveränderungen nicht vorbereitet. Russland Problem, und darüber wurde offen gesprochen, ist die fehlende Impfbereitschaft der Bevölkerung. Nur ein Drittel der Russen seien geimpft, der Rest misstraut der russischen Vaccine Sputnik V oder Impfstoffen im Allgemeinen. Eine Mehrheit befürchtet schlimme Nachwirkungen durch die schlecht getesteten Vaccine. Andererseits scheint Russland einer Herden-Immunität nahe zu sein. Millionen von Russen gelten als Genesen, Millionen haben sich zuhause auskuriert, ohne den Behörden Auskunft über ihre Krankheit gegeben zu haben.  Im Grunde genommen zeigt sich Russland enttäuscht, dass die Corona-Pandemie die bestehenden politischen und geopolitischen Gräben nicht zugeschüttet hat. Dass der Reiseverkehr durch die Pandemie Schaden genommen hat, wird als riesiges Problem betrachtet. Gleichzeitig habe ich mich persönlich sehr über die überfüllten Passagierflugzeuge von Russland nach Deutschland gewundert. Viele Russen fliegen zum Impftourismus nach Ungarn und Serbien, lassen sich dort mit Pfizer Impfen und dürfen sich so problemlos innerhalb der EU bewegen. Achten muss man allerdings auf zahlreich falsch ausgestellte Impfbescheinigungen. Offensichtlich blüht hier auch die Korruption. Dass Sputnik V mal in der EU anerkannt wird, darauf hoffen die Russen nicht mehr. Sie fühlen, dass ihrem Wirkstoff bürokratische Hürden seitens der EU Bürokratie entgegengestellt werden.



Global Review: Das 18. Valdaiforum kam jedoch schon schnell auf die Post-Covidwelt, den Übergang zu einer multipolaren Welt zu sprechen, wobei einige Sprecher diese ja als durchaus konfliktträchtig sahen, nicht zuletzt wegen des sinoamerikanischen Konflikts, einige sich auch für eine Vermittlerrolle Russlands zwischen den Polen, vor allem China und den USA aussprachen. Doch schon schnell kam die Frage nach dem postsowjetischen Raum, wie dieser aussieht und ausssehen solle aussehen, wie dieser zu gestalten sei und welche Mission Russland haben solle. Darüber gab es auch divergierende Ansichten, acuh über die Rolle des Kaulasus, der Eurasischen Wirtschaftsunion sowie der Türkei? Lawrow hatte ja nach den zunehmenden Spannungen mit der Türkei, sowie der Krise zwischen Iran und Aserbeidschan vorgeschlagen eine Wirtschaftsallianz mit Türkei, Iran, Aserbeidschan, Armeinien, Georgien und amöglicherweise anderen Kauasusstaaten zu gründen. Welche Hauptpositionen lassen sich ausmachen und welche sind dominant, bzw. dominanter?

Dr. Rahr: Mich haben die haarscharfen geopolitischen Analysen auf der Valdai-Konferenz beeindruckt. Echt schade, dass in Deutschland und der EU nicht entsprechend analysiert und nachgedacht wird. Ich bringe ein Beispiel. Der US Politologe Mearsheimer lieferte auf der Konferenz eine brilliance Analyse darüber, wie die Weltordnung von morgen aussehen wird. Die USA würden weiterhin über Europa bestimmen, weil die Europäer das noch lange so wollten. Ein chinesischer Experte schlug den Europäern eine Achse Berlin-Moskau-Beijing vor. Er unterstrich, dass die Weltherrschaft des Westens nach 500 Jahren Kolonialgeschichte zu Ende sei, China würde der Welt seinen Stempel einer „harmonischen Welt“ aufdrücken. Die Russen sagten, sie fühlten sich aus Europa heraus gedrängt und suchten nach einem Zweckbündnis mit China. EU Vertreter sahen in der Diskussion schwach aus, palaverten von Werten, Normen und Multilateralismus, gerieten aber sofort in Bedrängnis, denn die asiatischen Teilnehmer forderten, dass die künftige Weltordnung eben nicht auf den alten Normen und Werten des Westens basieren sollte. Die Russen wurden gefragt, ob sie nicht doch in die NATO und EU wollten; denn dann wäre alles in Ordnung. Doch auch Russland wünscht sich eine multipolare Weltordnung, in der Moskau ein eigenständiger Pol sein könnte. Die EU scheint die Russen heute weniger zu interessieren als die Erschaffung eines neuen Gross-Eurasiens mit China, Indien, Türkei und Iran. Als darüber diskutiert wurde, glühten bei den russischen Fachleuten die Augen. Auch ich als gelernter Historiker war elektrisiert. Ich habe viel Wissen für meine künftigen Bücher und Artikel angeeignet. Kaum zu glauben, aber Putin beschrieb am Ende der Klubsitzung die künftige Weltmission Russlands. Er möchte die alte traditionelle Werte-Welt erhalten, einen Abwehrwall gegen den westlichen Postmodernismus errichten. Russland wolle sich gemäß seiner Geschichte und seiner Mentalität modernisieren. Bedauerlicherweise sah er zur gegenseitigen Abschreckung im Verhältnis zum Westen momentan keine Alternative. Im Kampf um die neue multipolaren Weltordnung sieht sich Russland nicht als Vermittler zwischen China und USA, sondern als Verbündeter Chinas. Im Südkaukasus möchte Russland mit der Türkei enger kooperieren, das ließ manchen aufhorchen. In Zentralasien ist China Russlands zentraler strategischer Partner. Der russische Außenminister Lawrow sagte ebenfalls Interessantes. Er meinte, die UNO müsse als Weltregierung weiterbestehen, der UN Sicherheitsrat aber reformiert werden. Auf die Frage, ob Deutschland und Japan als G-7 Mitglieder endlich Vollmitglieder im UN-Sicherheitsrat werden sollten, erwiderte Lawarow, dass Moskau dagegen sei, denn Berlin und Tokio wären zu westlich, zu pro-amerikanisch und nicht eigenständig. Vielmehr befürworte Russland eine UN Sicherheitsratsmitgliedschaft von Brasilien, Süd-Afrika, Indien, vielleicht der Türkei (wenn Ankara der NATO den Rücken kehren würde). Hochspannend die Gespräche! Wir wollen demnächst eine Valdai-Klub-Sitzung in Berlin mit deutschen Politikwissenschaftlern und Politikern durchführen, um die Welt von morgen genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich freue mich jetzt schon auf die Diskussionen. 



Global Review: Ein Runde war mit dem Moskauer Bürgermeister Sobyanyin, der neben Lawrow und Schoigu als möglicher Nachfolger Putins gehandelt wird. Zudem meinte eine Sprecherin überraschenderweise, dass sich Westen und Osten, wenn man ihre Referenzrahmen betrachte, näher kämen als dies in den 90er Jahren war, wobei sie die Probleme und Visionen von Moskaus Bürgermeister Sobayanin zitierte und meinte, dies wären auch die Fragen der meisten Großstädte in der Welt. Welche nNhalte hatte Sobyayins Vortrag und wie verlief die Diskussion danach?

Dr. Rahr: Der Moskauer Oberbürgermeister war ziemlich schmallippig, wo es um Fragen der großen Politik ging. Als er nach seinen Präsidentschaftsambitionen gefragt wurde, wollte er naturgemäß auf diese Frage keine Antwort geben. Er redete mehr über die Modernisierung der russischen Hauptmetropole, einer der schönsten der Welt. Er sagte, man wolle den europäischen Modernisierungskurs einschlagen, auf eine grüne Infrastruktur setzten, daneben auf eine immer bessere Digitalisierung. Fahrradwege gehören heute zum Erscheinungsbild Moskaus, es gibt zahlreiche Grünflächen und der historische Altkern der Stadt wird renoviert. Moskau, so Sobjanin, sei ein Hub zwischen Europa und Russland, 90 Prozent des Warentransportes verliefe über die Metropole. Sobjanin wurde gefragt, warum Moskau den ärmeren Regionen des Landes nicht finanziell unter die Arme greifen würde. Moskau würde die Wertschöpfungsketten auf sich vereine. Der Oberbürgermeister widersprach heftig. Russland brauche eine starke und glänzende Metropole. Nur ein mächtiges Moskau könnte den nationalen staatlichen Interessen behilflich sein. Was ist mit den vielen Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien, die Moskau unsicher machten, wollte ein Teilnehmer wissen. Sobjanin sagte, im Westen würden Migranten in staatliche Sozialsysteme flüchten. In Moskau sei das komplett anders. Die Migranten kämen als Gastarbeiter, willig die Drecksarbeit in der Stadt zu verrichten, die Moskauer Bürger scheuten. Und COVID-19? Der Oberbürgermeister nahm kein Blatt vor den Mund. Ältere Menschen über 60, die bei Ansteckung das Risiko einer schweren Erkrankung hätten, sollten in Selbstisolation. Doch das Leben des Normalbürgers müssen weitergehen, die Wirtschaft der Stadt dürfe nicht kollabieren. 


Global Review:  Beim jetzigen 18. Valdaiclub hat Russland den ehemaligen US- unterstützten afghanischen Präsidenten Karsai eingeladen. Welches Signal will es damit setzen? Russland scheint ja aufgrund seiner muslimischen Ex-Sowjetrepubliken eine Islamisierung zu befürchten und ist in Sachen Taliiban scheinbar nicht so euphorisch wie Peking, welches hofft, Taliban-Afghanistan für ein Projekt der Neuen Seidenstrasse einbinden zu können, während Russland ja nicht derart wirtschaftliche Perpsektiven in Aussicht stellen kann,. Russland und China schienen sich von den Taliban viel zu erhoffen, da beide anders als der Westen nicht werteorientiert sind, Frauen- und Menschenrechte ignorieren und darauf auf eine eurasische Gemeinschaft mit Afghanistan, Iran und der Türkei hoffen, ähnlich wie dies Samuel Huntington in seinem Clash of Civilizations im Zusammenwachsen autoritärer bis totalitärer Regime des Ostens und der muslimischen Welt kommen sah. Inwieweit war dies Thema bei dem Valdaiclubs?

Dr. Rahr: Ex-Präsident Karsai erschien leider nicht zu unserem Valdai-Meeting. Wie es hieß, steht er in Kabul unter Hausarrest wegen Korruptionsvorwürfen. Wir fanden das schade, denn er gehört dem Valdai Klub als langjähriges Mitglied an. Was die Lage in Afghanistan angeht, so fürchtet Russland dort ein Wiederaufflammen des Islamismus, der Russland vom Süden ernsthaft bedrohen würde. Putin sagte aber, Russland habe den islamischen Terrorismus Anfang des Jahrhunderts besiegt, die Taliban seien bislang unter Kontrolle. Gleichzeitig versteht Russland, dass im Falle neuer extremistischer Angriffe aus Afghanistan gegen den Westen und Russland, Moskau die Ordnungsrolle der Amerikaner in der Region übernehmen müsste. Die russischen Politiker argumentierten, der Westen solle aus seinen Fehlern in Afghanistan lernen. Der Westen solle mehr Demut zeigen, ansonsten würde ihm in der Ukraine dasselbe Desaster drohen, wie in Afghanistan. Der Westen soll die Ukraine nicht in die Nato aufnehmen, auch nicht versuchen, die slawisch-orthodoxe Bevölkerung dieses Landes zu westernisieren. Überhaupt solle sich der Westen nicht mehr in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen. US-Präsident Biden habe Putin gesagt, er verstanden sie russischen Befindlichkeiten und die Andersartigkeit Russlands. Trotzdem müsse er, aus innenpolitischen Gründen heraus, weiter auf Menschenrechtsverletzungen in Russland schimpfen. 



Global Review: Der Abzug der USA und der NATO aus Afghanisatn wurde ja seitens Russlands und Chinas als Niedergang der Pax Americana und des Westens gefeiert. Die Global Times titelte sogar: „Vietnam yesterday, Afghanistan today, Taiwan tomorrow” und Putin entsandte 100 000 Truppen an die Grenze der Ukraine und hielt die Sapadmanöver mit Weissrussland in neuer Größenordnung von 200 000 Truppen ab, was die USA, die EU und die NATO in Alarmzustand versetzte. Wie beurteilen Sie, Putin und Lawrow den Abzug der USA und NATO aus Afghanistan , auch im Hinblick auf einen Übergang zu einer multipolaren Welt? Besteht nicht die Möglichkeit, dass sich der Westen und die USA wieder aufrichten, wie schon damals nach der Weltwirtschaftskrise 1929 und nach dem Vietnamkrieg unter Reagan?

Dr. Rahr: Meine Sichtweise auf die Weltordnung von morgen habe ich in früheren Interviews mit Ihnen offengelegt. Die Welt wird dreigeteilt sein – in einen geschwächten transatlantischen Block, in eurasische Allianzen und in Afrika und im Mittleren Osten wird der Islamismus eine Größe sein. Der Westen wird meiner Meinung nach vereint bleiben, aber nicht mehr die Weltpolitik dominieren. Im Übrigen wird auch China nicht so dominieren, wie es heute den Anschein hat. Alle Großmächte werden sich zwangsläufig verständigen müssen. Was für die meisten Teilnehmer des Valdai-Klubs zwingend erscheint, ist ein ordentlicher und kein chaotischer Übergang in eine multipolaren Weltordnung. Putin erzählte uns, er hätte die Zusage aller Staatschefs der fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates bekommen, dass man sich trifft und über die Konturen einer künftigen gerichteten Machtaufteilung und Weltordnung einigt. Das Problem wäre, dass die USA das Treffen unbedingt bei sich zuhause durchführen wollten. Russland und China wollten die Versammlung eher auf neutralem Boden abhalten. Putin plädiert für Wien oder Genf. Ein Missverständnis existiert noch. Die westlichen Staaten glauben, die alte Jalta-Ordnung von 1945 habe sich aufgelöst nach dem Ende des kalten Krieges. Die neue Europäische Architektur basiere auf den Ideen der Pariser Charta von 1990. Russland missfällt diese Argumentation. Von der Pariser Charta hat Moskau längst Abstand genommen. Putin schwebt eine Weiterentwicklung der Jalta-Ordnung entlang der neuen Realitäten vor. Der permanente UN-Sicherheitsrat solle sich von fünf auf 12 Länder erweitern, aber das Vetorecht der stärksten Großmächte sollte erhalten werden.



Global Review:  Ein Thema war Russland und die EU und wie sich beide voneinander entfernt haben. Was werden als Hauptgründe benannt und was sind die Folgen. Und besteht eine Möglichkeit sich nach dem New Green Deal und dem Entschluss der EU eine grüne und digitale Wasserstoff- EU und Dekarbonisierung vorzuenhemen , mit Rzssland wieder zusammenzukommen oder spaltet dies mehr? Die EU und die deutschen Parteien haben erklärt, dass die EU eine klimaneutrale grüne Wasserstoffwirtschaft, eine ökologische und digitale 4. Industrielle Revolution in der EU zustande bringen wollen. Eine grüne EU soll damit dem Klimaschutz dienen und zugleich Geschäftmöglichkeiten in Billionenhöhe und Exportmärkten generieren, wie auch den Wirtschaftsstandort Deutschland/EU unabhängig von fossilen Brennstoffen machen.Diese Idee ist nicht nur dem Club of Rome, Greta, Friday for Futures oder den Grünen entsprungen oder jenen Verischerungsgesellschaften, die als erste für die menschengemachten Klimaschäden zahlen mussten, die auch Putin anders als Trump als menscchengemacht sieht, und auch das Pariser Abkommen unterzeichnet hat, , sondern die eigentlichen Triebkräfte sind Kapitalgesellschaften wie Schwabs DavosReset, Blackrock, Rockefeller, Soros, Elon Musk, Siemens, BASF und viele andere Unternehmen, die sich da riesige Wachstumsmärkte und ein neues Geschäftsmodell erhoffen, das Klimaschutz mittels eines New Green Deal so richtig profitabel macht. Und alle Parteien mit Ausnahme der AfD und die EU teilen dieses Ziel. Abgesehen davon, ob dies realistisch ist, wird Russland doch mit diesen Forderungen konfrontiert sein, wie auch etwa die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ein programmatisches Paper einer möglichen EU-russischen Wasserstofftechnolgiekooperation publiziert hat. Wie steht Putin und Russland zu diesen EU-Ziele und inwieweit sind Kooperationen möglich und nicht? Andere Experten sehen jedoch in den explodierenden Energiepreisen eine Strategie Putins um den New Green Deal zu sabotieren, auszubremsen und ein Gasmonopol in Europa zu errichten, in dem er den EU-Rechtsrahmen verändert .Was ist davon zu halten?

Dr. Rahr: Auf eine solche Frage kann man ausgiebig antworten. Sie wollen die russische Haltung zum Klima – und Umweltschutz hören. Nun, sie wurde auf der Valdai-Konferenz gegeben. Im Übrigen finde ich es wichtig, dass wir auf den Seiten von Global Review seit einigen Monaten eine gute Diskussion über die Ansichten und Interessen Russlands führen. Ich hoffe, dass sich mein russischer Kollege, Dr. Vladimir Kulikow, der jahrelang das internationale forum „Dialog der Zivilisationen“ auf Rhodos organisierte und gerade dort den Anstoß zum Grünen Dialog zwischen Ost und West gab, sich unserer Diskussion anschließt. Nun – Putin machte klar: Klima und Umweltschutz stehen auch in Russland ganz oben auf der Agenda. Der CO2 Fußabdruck Russlands sei geringer als der andere führender Industriestaaten. Doch Russland wird, nicht wie die EU, mit Verboten und einem Ausschluss von fossilen Energiestoffen seine Umwelt und das Weltklima in Ordnung bringen. Russlands grüne Strategie zielt auf eine enorme Aufforstung der sibirischen Wälder. Putins Berater für Umwelt sagte uns, die Europäer würden diese grüne Politik Russlands geringschätzen. Statt Sinnlos Gelder in Windkrafträder und Sonnendächer in der EU zu investieren, sollte sich die EU finanziell an der Rettung der russischen Wälder, die Riesenmengen von giftigen CO2 absorbieren könnten, beteiligen. Russland misstraut der westlichen Grünen Revolution. Umwelt – und Klimaschutz sollten evolutionär betrieben werden. Alle wichtigen Staaten müssen überzeugt und mitgenommen werden, sonst scheitere das Pariser Klima-Abkommen. Statt einer weiträumigen, futuristisch anmutenden Wasserstoffstrategie, bevorzugt Russland den Ausbau der Erdgaspartnerschaft mit dem Westen. Öl und Kohle könnten reduziert werden, Gas nicht. Russlands Wirtschaft funktioniert auf Gas und Atomkraft, und das wird die nächsten Jahrzehnte so bleiben. Russland glaubt, dass Deutschland und die EU schon diesen Winter begreifen wird, dass die radikale Energiewende weg von allen fossilen Energieträgern unbezahlbar ist. Nicht nur das: die hohen Energiepreise führen zu Produktionsengpässen und Zerfall von Lieferketten in den westlichen Volkswirtschaften. Schon im Frühjahr 2022 werden Düngemittel, die mittels Methan erzeugt werden, knapp sein, mit verheerenden Folgen für die westliche Ernährungswirtschaft. In Moskau ist man bestürzt darüber, dass westliche Politiker so unprofessional sind und die Lage so falsch einschätzen. 

 
Global Review: Global Review hat mit dem Vizepräsidenten des Club of Rome Deutschland, Mitglied bei Desert Tech und dem Waldaufforstungsprogramm Plant for a Planet Frithjof Finkbeiner ein programmatisches Papier einer möglichen EU- Russland- Ökokooperation auf der Webseite des Thinktanks des russischen Aussenministeriums RIAC publiziert, dessen Link inzwischen gelöscht wurde, , in dem als Schwerpunkte der Dekarbonisierung und Wasserstoff- und Methanoltechnologiekooperation auch die Aufforstung und Rettung der Grünen Lunge des Planeten und Eurasiens, der sibirischen Wälder als auch eine Kooperation in der Artis vorgeschlagen wurden. Die Stiftung für Wesenschaft und Politik (SWP) hat nun ein Papier für eine neue deutsche Aussenpolitik herausgegegeben, inder neben ihrem Papier auch die Frage gestellt wird, ob sich die EU und Deutschand eher in eine nordtransatlantische maritime Kooperation/Konfrontation mit Russland um die Arktis mittels EU und NATO reinbegeben sollte oder mehr eine Indopazifikorientierung gegen China einschlagen sollte, wobei ja China auch einen eigenen Aktionsplan für die Arktis publiziert hat. Zudem hat die EU nun angekündigt, dass sie gegen alle Öl-und Gasförderungen in der Arktis eintrten wird. Inwieweit verträgt sich eine EU-Russlandkkoperation in der Arktis mit Russlands Konzept eines Ressourcen-Empires ,auch in Hinblick auf die Exploration der Arktis? Und inwieweit ist Russland bereit da Kompromisse einzugehen oder darauf zu verzichten, insofern auch die USA und Kanada sich in dieser Richtung zurückhalten?

Dr. Rahr: Genau diese Frage wurde Putin gestellt. Der russische Präsident reagierte fuchsteufelswild. Die EU sei in der Arktis nicht vertreten, auch nicht dabei, das sei Sache der Anrainer. Die Nordostpassage in der Arktis verlaufe an der russischen Küste, Russland würde entscheiden, wer und wie sich dort beteiligen kann. Eine Energieförderung in der Arktis liege im russischen Interesse. Dass die allgemeine Weltlage sich während der Pandemie enorm verschlechtert hat, wurde von allen Valdai-Teilnehmern betont. Im indopazifischen Raum entsteht ein neues Militärbündnis AUKUS, was eine zweite „asiatische“ NATO gegen China bedeutet. Die USA wollen die Ukraine und Georgien in die NATO holen – und sie gegen Russland, falls nötig, mit Atomwaffen verteidigen. Ein Wahnsinn, was da geschieht. In der Arktis will die NATO verhindern, dass Russland sich dort die Rohstoffe des 22. Jahrhunderts aneignet und sich weiter als Energiesupermacht manifestiert. Im Grunde genommen treibt der Westen Russland in die Arme Chinas – mit verheerenden Folgen für die eigene  Sicherheit. Viele einfache Russen sagten mir in den letzten Tagen, sie fürchten sich zum ersten Mal in ihrem Leben vor einem echten Atomkrieg. Ich befürworte mehr Analysen westlicher und russischer Experten zur Gefahrenlage, es ist ein Unding, wichtige Beiträge von den Webseiten zu entfernen. Auf dem Valdai Klub wurde dafür plädiert, einen Umwelt- und Klimaschutzdialog zu institutionalisieren, der die alte Entspannungspolitik revitalisieren könnte. Leider verharren unsere liberalen europäischen Führungseliten im Triumph des „Endes der Geschichte“ und Sieges im Kalten Krieg. Das blendet sie und verdreht den Realitätssinn. Natürlich muss man an dieser Stelle auch die russischen Führungseliten kritisieren. Sie ziehen sich auf Standpunkte und Interessen der Sowjetunion zurück: alle sind gegen uns, doch wir sind stärker. Viele Russen wollen eine Revanche nach der demütigenden Niederlage vor 30 Jahren, als die Sowjetunion zusammenkrachte. 

 
Global Review: Wäre eine Neue Ostpolitik möglich, vielleicht im Rahmen einer Art ehemaliger KSZE-Verhandllung, wo man 8 Verhandlungskörbe inklusive Menschenrechte hätte, nun auch um einen neunten Verhandlungskorb Ökologie und Klimaschutz erweitert. Wären eine neutrale Ukraine und eine Nichterweiterung von NATO und EU in den russischen Raum,eine ökologische Kooperation denkbar in Kombination mit einer eventuellen Freilassung von Nawalny. Sie haben ja mit Hans- Dietrich Genscher die Freilassung von Chodorkowsky bewirkt. Wäre dies auch im Falle Nawalnys heute möglich und wenn unterwelchen Bedingungen. Anna- Lena Baerbrock meinte ja, Menschenrechte wären nicht verhandelbar, dabei waren sie es in der Vergangenheit zumeist. Wäre eine eventuelle Freilassung von Nawalny nicht ein Zeichen und Entgegenkommen Russlands für eine Neue Ostpolitik mit der Ampelkoalition? Welche Mindestbedingungen, aber nicht Maximalbedingungen hätte Russland für eine Neue Ostpolitik mit Deutschland und der EU, auch im Hinblick auf China, mit dem es ja auch nicht so einfach seine Bindungen aufgeben will wie Trump dies mit seiner G 11 wollte? Wie könnte ein realpolirischer Kompromiss aussehen?

Dr. Rahr: Herr Ostner, natürlich hofft Putin darauf, dass die neue Bundesregierung einen freundlicheren Russlandkurs fahren wird. Die Russen könnten sich mit einer Neuauflage der Brandtschen Ostpolitik sofort anfreunden. Ich habe Putin nach seiner Einschätzung der nächsten Bundesregierung gefragt und bekam keine schlechte Antwort. Putin will zusammenarbeiten, nicht kämpfen. Er sieht Deutschland als Führungsmacht in Europa. Aber die Russen sagen auch: Deutschland rückt jetzt nach links, die Franzosen nach den Präsidentschaftswahlen im Mai nächsten Jahrs nach rechts. Polen liegt im Werte-Konflikt mit Deutschland, die EU hofft auf eine Wahlniederlage Orbans in Ungarn. Großbritannien entwickelt sich zum Konkurrenten der EU, da wird es m

Nicht mehr viel Gemeinsames geben. Was Deutschland angeht: die Russen waren auf dem Valdai Klub über die letzten Äußerungen von Kramp-Karrenbauer und Baerbock höchst irritiert. Beide fordern eine härtere Gangart Richtung Russland. Ich wurde von mehreren hochrangigen Russen angesprochen, warum diese beiden Frauen die neue Härte in die Russland-Politik hineintrügen. Ich murmelte etwas von Unprofessionalität in der Außenpolitik, lag aber mit dieser Einschätzung nicht sehr richtig. In der russischen Führung glaubt man, dass die deutsche Politik Russland falsch einschätzt, als Groß- und Gestaltungsmacht längst abgeschrieben hat. Daher auch der Mut vieler deutscher Politiker, auf Russland draufzuhauen, man kann das ungeschoren machen, im Gegenteil, von den Leitmedien bekommt man dafür nur Lob. Ob Nawalny freigelassen wird, kann ich nicht sagen. Ich denke – warum nicht. Genscher hat es richtig bei Chodorkowski gemacht. Er traf sich drei Mal im Geheimen mit Putin und sagte ihn: „Ob Chodorkowski auf legale Weise eingesperrt worden ist, vermag ich nicht zu sagen. Ich mische mich in die russische Rechtssprechung nicht ein. Aber ich bitte sie, Herr Präsident, Chodorkowski zu amnestieren, zu begnadigen.“ Diesen gangbaren Weg habe ich in der deutschen Öffentlichkeit mehrmals anklingen lassen, werde aber vollkommen ignoriert. Merkel hat den Fehler gemacht, die Causa Nawalny ganz oben auf die bilaterale Agenda zu heben, indem Sie die Freilassung Nawalnys gefordert hat. Doch Russland kann ja nicht sein Gesicht verlieren und sagen, seine Gerichte hätten illegal gehandelt. Nein, die neue Bundesregierung muss den Weg Genschers gehen, wenn ihr Nawalny wichtig ist. 

Global Review: Die NATO hat 8 russische Diplomaten bei der NATO wegen Spionage ausgewiesen, desweieteren eine neue Russlandstrategie beschlossen, die den verstärkten Schutz des NATO-Luftraums, vor allem im Baltikum und im Schwarzen vorsieht und einen Hitech-investitionsfonds in Höhr von  1 Mrd. Euro aufgelegt, um bei neuen Waffentechnologien mithalten zu können. Auch wurde die mangelnde Transparenz Russlands etwa bei Manövern an der Grenze zur Ukraine und mit Belarus kritisiert, Zudem hat US-Vertedigungsminister Austin die Diskussion um eine NATO_Mitgliedschaft der Ukraine wiederbelebt. Es sieht eher nach einer weiteren Verhärtung der Positionen aus Zumal: Kommt die Duskussion um eine NATO-Mitgliedchaft der Ukraine nicht zur Unzeit?

Dr. Rahr: Es ist wirklich schade, dass kaum Deutsche zum Valdai fahren. Ansonsten hätten sie die unheilvolle Atmosphäre dort verspürt. Russische Experten reden von einem möglichen Verteidigungskrieg gegen die NATO. Putin habe auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 klare rote Linien gezogen. Die Ukraine darf nicht Mitglied der NATO werden. Die Ukraine liegt im Einflussgebiet Russlands. Als 1961 die Sowjetunion Mittelstreckenraketen auf Kuba stationiert hatte, sahen sich die USA genauso bedroht. Präsident Kennedy war bereit, den dritten Weltkrieg zu beginnen, um Amerikas Sicherheit zu garantieren. Die Sowjetunion zog die Raketen damals ab. Die Situation in der Ukraine ist ähnlich. Raketen können vom ukrainischen Territorium Moskau in zwei Minuten erreichen. Sollte die NATO die Ukraine, trotz russischer Warnungen, in die NATO aufnehmen (wie es der amerikanische Verteidigungsminister neulich vorschlug), kann man sicher sein, dass die Russen massiv zurückschlagen werden. 2014 haben sie das auf der Krim und im Donbas schon gezeigt. Ich wiederhole mich ungern, muss es aber tun: unser Problem in Deutschland ist, dass wir scheinbar Russland völlig unterschätzen. Wir glauben nicht an die Möglichkeit eines echten Krieges, wir nehmen russische Sicherheitsinteressen nicht ernst, wir glauben, dass Russland nicht mehr die Sowjetunion sein und somit schwach und unbedeutend. Ein Trugschluss. Verstehen Sie mich bitte richtig. Ich preise hier mitnichten die russische Politik an, wie mir oft fälschlicherweise vorgeworfen wird. Ich erkläre nur die Befindlichkeiten und Handlungsoptionen Russlands, wenn Sie wollen – unseres alten und neuen Gegners. Russland will nicht die Sowjetunion aufrichten, aber es will eine Sicherheitszone zwischen sich und dem Westen bewahren, also keine NATO- Erweiterung auf postsowjetischen Staaten zulassen. Die deutsche und europäische Ukraine-Politik muss grundlegend überdacht werden. Wir müssen versuchen, Moskau und Kiew in ein vertrauensvolles Gespräch zu bringen; am Ende muss Russland das alte Bukarester Memorandum mit den Sicherheitsgarantien für die Ukraine neu unterzeichnen, Kiew seinerseits sollte zum Neutralitätsstatus zurückkehren und nicht mehr in die NATO streben. 

Global Review: Russland hat sich nun aus dem Dialog mit der NATO herausgezogen.Carnegie meint, dass Russlamd nicht mehr mit den Europäern sprechen will, diese als reines Windowdressing der US-Macht betrachtet und mit den USA als der eigentlichen Macht direkt sprechen will. Während direkte Verbindungen zwischen dem US SACEUR und dem russischen Generalstab erhalten bleiben, verzichett man auf andere Kanäle. Ebenso beabsichtige Russland, dass das Normandieformat (Frankreich, Deutschland, Russland, Ukraine) um die USA erweitert werde, da man sich seitens der Europäer keine weiteren Forschritte erhoffe. Welche Rolle kann die EU und Deutschland nch dieser russischen Entscheidung überhaupt noch spielen?

Dr.Rahr: DIe Frage, nach der realen Macht Europas wurde uns, Westlern, von russischer Seite ständig gestellt. Auch Putin fragte immer wieder: seid ihr nun ein Zipfel und Anhängsel der Amerikaner, oder wollt ihr autonom in Sicherheitsfragen werden. Falls das Erste stimmt, werden wir Russen über euch nur noch mit den Amerikanern sprechen und verlieren für Gespräche über „Werte“ keine Zeit mehr. Oder ihr Europäer werdet autonom, dann reden wir wieder offen über das Konzept einer neuen Sicherheitsarchitektur vom Atlantik bis zum Pazifik. Russland kann sich eine Partnerschaft zwischen der OSZE und der Eurasischen Union oder der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit sehr gut vorstellen. Doch von den Europäern kamen bei der Valdai Sitzung unklare Signale: Ja, die EU wünsche mehr Autonomie, sogar eine eigene Europäische Armee. Aber nein, Europa kann keine Konkurrenz zur NATO aufbauen. Die Russen zucken da nur mit den Schultern. Übrigens glauben die Russen allen Ernstes, dass die Nato, wie es Macron einmal gesagt hat, den Hirntod stirbt. Die Angelsachsen würden – darauf habe ich auch anfangs des Interviews hingewiesen – die Pax Americana weltweit mit neuen Sicherheitsstrukturen der AUKUS bewerkstelligen. Ich glaube nicht, dass die Nato durch die Aufnahme des Westbalkans, der Ukraine und der Länder des Südkaukasus nach der Pleite in Afghanistan wiederbelebt werden kann. Aber offensichtlich sind Kramp-Karrenbauer und Baerbock da ganz anderer Meinung. 

Global Reviwew: Wie sieht es mit Rüstungskontrollverhandlungen aus? Russland und China testen Hypersonicwaffen und weitere neue Waffentechnlogie, in westlichen Zeitungen erscheinen Berichte, dass China ICBMsilos baut, um seine strategische Abschreckung zu erhöhen, wie auch Antisatelltenwaffen testet.Die USA sind aus dem INF-Vertrag und dem Openskyvertrag als auch anderen Verträgen ausgestiegen. China spricht angesichts von AUKUS von der Gefahr einer neuen Rüstungsspirale. War dies Thema beim Valdaiclub und falls ja, wie wurde dies komentiert?

Dr. Rahr: Russland wartet vom Westen auf Angebote für einen neuen Abrüstungsdialog. Moskau fordert die Europäer auf, sich da stärker zu engagieren. Im Moment liegt noch nichts Konkretes auf dem Tisch. In Moskau hofft man aber auf konstruktive Vorschläge seitens einer SPD-geführten Bundesregierung, hier setzt man auf Gesprächspartner wie den SPD Fraktionschef Mützenich. In den Start-Verhandlungen mit den USA ist die russische Linie unklar. Will Russland China in die nukleare Abrüstung einbinden, oder nicht? Putin sagt, die Entscheidung liege alleine bei den Chinesen, und die wollen nicht. Die USA scheinen erstmal ihre militärische Modernisierung vorantreiben zu wollen, um Russland totzurüsten. Reagan hatte in den 1980er Jahren damit Erfolg. Der Sicherheitsexperte Karaganov sagte auf dem Valdai treffen, Moskau würde kein zweites Mal in diese Falle tappen. Russland setze nicht mehr auf Parität mit den USA, bräuchte das für Selbstverteidigungszwecke gar nicht mehr. Die Hyperschallwaffen der Chinesen treiben aber das Wettrüsten an. Moskau scheint sich da zurückzulehnen, man habe selbst diese neue Waffengattungen im Arsenal. Die USA wüssten Bescheid. Auch im Cyberspace wird von den Großmächten heftig aufgerüstet. Eine Abrüstungsinitiative müsste gerade dort erfolgen. 


Global Review: In der Kürze des Interviews können wir gar nicht die ganze Breite der DIskussionsteilnehmer des Valdai Forums  und ihrer Debatten darstellen. Daher wollten wir fragen, welche Beiträge Sie bemerkenswert und eventuell innovativ fanden. Global Review sind da unter anderem auch ein brisantes Gemisch aufgefallen, nämlich zwischen Karaganow, der eine klare Eurasienorientierung, viel engeres Bündnis mit China bis hin zu gemeinsamen Militärstrategien und einer Militärallianz andenkt und nun auch die Ökologiefrage, wenngleich unter nationalistischem Vorzeichen entdeckt hat, aber am Resource Empire festhält, mehr Datschas und Wiederaufforstung und Katastrophenschutzmassnahmen als eigentlichen Klimaschutz befürwortet,  und John Mearsheimer mit seinem offensive realism, der Kissingers engagement  mit China  und antirussische Einstellung umdrehen will, da er glaubt, dass China der Hauptfeind ist und Russland sich  mittel- und langfristig selbst von China bedroht fühlen und sich in Richtung Westen und USA zubewegen wird, insofern der Westen da die richtigen Anreize setzt. Auch würde uns interessieren, was die chinesischen Vertreter an Positionen vertreten haben und welche anderen Beiträge sie als herausstechend empfanden.

Dr. Rahr: Ich denke, in den zurückliegenden Fragen habe ich Ihren werten Lesern schon viel Interessantes über den Verlauf der Diskussionen auf dem Valdai Forum erzählt. Im Übrigen verarbeite ich die Ergebnisse der Gespräche auch in meinen Büchern. Darf ich hier auf mein neues Buch hinweisen: „Anmaßung. Wie Deutschland seine Ansehen befinden Russen verliert“. Der Titel mag provokant erscheinen, ich entschuldige mich dafür. Das Buch präsentiert natürlich nicht nur deutsche Fehler im Umgang mit Russland, sondern auch umgekehrt. Sie wollen die chinesische Meinung auf dem Valdai Klub wissen? Nun, die chinesischen Teilnehmer reden immer offener in Russland. Sie warnen den Westen vor Versuchen, Moskau und Beijing zu spalten. Mit der EU setzen sie auf wirtschaftliche Kooperation. Ihr Gegner ist Amerika, die Idee von Chimerika ist ausgeträumt. Andererseits setzen die Chinesen darauf, dass die USA China endlich akzeptieren, immerhin waren die Chinesen immer, bis auf die letzten 400 Jahre Geschichte, eine Weltmacht gewesen. 2025 soll China die USA wirtschaftlich überholen. Ich bitte, Herr Ostner, um Verständnis, dass ich den Chatam House Rules, die für den Valdai Club gelten, gehorchen muss, ansonsten werden manche mit mir böse. Ich darf über die Inhalte der Gespräche offen Auskunft geben, sie aber keiner Person direkt zuordnen, ansonsten wird der Valdai Klub das Etikett eines vertraulichen „russischen Bilderberg Klubs“ verlieren. 



Global Review: Als Höhepunkt: Was waren das Thema und die Hauptinhalte von Putins und Lawrows Rede und wie wurden sie diskutiert? Gab es da schon eindeutigere Aussagen zur Mission Russlands im 21. Jahrhundert und dem postsowjetischen Raum? Könnten Sie eine ausführlichere Zusammenfassung der Reden geben und auch Ihre eigene Beurteilung ergänzen?

Dr. Rahr: Die Rede Putins ist auf der offiziellen Seite des Kreml veröffentlicht. Jedermann kann sie nachlesen. Lawrow Statements unterliegen den Chatam House Rules. Was ich sagen kann, ist, dass Lawrow bitte vom Westen enttäuscht ist. Eigene Fehler wird er niemals zugeben. Vor allem zeigte er sich von Deutschland enttäuscht. Denn Merkel hat nach der Krim-Annexion die Sanktionsspirale gegen Moskau in Gang gesetzt. Ich habe Lawrow nach seiner Einschätzung zu Baerbock, unserer künftigen Außenministerin gefragt. Mir schien, dass er sie gerne kennenlernen wolle. Er sagte, Russland bräuchte Klarheit – wo steht Deutschland. Will Deutschland Kooperation oder Härtedialog und Konfrontation. Putin und Lawrow wissen, dass Deutschland für ganz Europa wichtig ist, was in Berlin entschieden wird, wird in anderen EU Staaten außenpolitisch umgesetzt. 

Jetzt zu Putin. Ich verrate kein Geheimnis wenn ich sage, dass der Kremlchef auf dem Valdai Klub eine große Rede zu den ideologischen und zivilisatorischen Unterschieden zwischen Russland und dem Westen gehalten hat.  Einige traditionell gerichtete politische Kräfte in Europa werden ihm hier zustimmen. Putin griff den „Genderwahnsinn“ und den „Moralimperialismus“, sowie den „Liberalen Wertefetischismus“ im Westen massiv an. Er fragte rhetorisch, in welches verrückte Abenteuer der Westen sich mit seiner neuen Religion stürze. Russland würde bei sich zuhause das eigentliche Werteeuropa beherbergen – vor allem den Schutz der Familie. Im Westen hat kaum eine Zeitung seine Rede kommentiert. Auf dem Valdai Klub gab es Diskussionen darüber, ob die mittelosteuropäischen Staaten wie Polen sich nicht allmählich Richtung Russland und weg von der EU bewegen würden. Die Mittelosteuropäer, sagte jemand auf dem Valdai Treffen, hätten sich vom Kommunismus Richtung Westen befreit. Im Westen angekommen, sahen sie zunächst in Russland den ständigen Aggressor. Doch jetzt verstünden viele Mittelosteuropäer, dass sie unter ein ideologisches Diktat Brüssels – eine neue Breschnew Doktrin a la West – gekommen waren. Sie wollen da wieder raus und könnten sich bald wieder nach Russland hin orientieren.

Was hat mir beim Valdai Club diesmal besonders imponiert? Nicht nur die wunderschöne Landschaft – Berge und Meer – am Tagungshotel in 1200 Meter Höhe. Es waren die vielen Gespräche mit völlig unterschiedlichen Menschen. Ich habe mich lange mit dem ehemaligen iranischen Außenminister unterhalten, der gemeinsame Gespräche zwischen Russland, Türkei, Iran, Aserbaidschan, Armeinen und Georgien zur Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes in der kaukasischen Region begrüßte. Ein daneben stehender Europäer schüttelte nur den Kopf: dafür sei die östliche Partnerschaft der EU zuständig. Sehr interessant waren die Amerikaner, nicht nur Mearsheimer. Solche Typen sollten öfters auch in die deutschen Think Tanks eingeladen werden. Die US Experten sprachen davon, dass die USA den Russen weniger die Ukraine, als vielmehr die Einmischung in die Präsidentschaftswahlen 2016 nicht verzeihen wollten. Dabei sei es egal, ob eine solche Einmischung stattgefunden habe oder nicht. Das wäre ein festgefahrenes amerikanisches Narrativ, an dem nicht mehr zu rütteln sei. Ach ja, hochinteressant war der Auftritt des russischen Kinoregisseurs und Ehemanns von Xenia Sobtschak, Bogomolov. Er hat gilt als neuer Guru der russischen Mission in der Welt, ganz nach den früheren Schriften von Dostojevski. Sein anti-westliches Manifest hat in Russland Hochkonjunktur. Der Westen, so Bogomolov, sei kollektivistisch, wie die alte Sowjetunion. Im Westen würden die Bürger gezwungen, einheitlich zu denken. In Russland seien die Menschen wie früher im freien Westen: individualistisch, manchmal rebellisch – aber eben frei im Denken und Handeln.

Kommentare sind geschlossen.