Irrationalismus: Bedrohung oder höchstes Stadium bürgerlicher Wissenschaft?

Irrationalismus: Bedrohung oder höchstes Stadium bürgerlicher Wissenschaft?

Nachdruck der Studentenzeitschrift Streitblatt Juni 2000

Geschichte des Irrationalismus

Die Welt ist oft nicht so, wie es die Menschen gerne hätten. Der Alltagsverstand nimmt´s hin, weil´s halt so ist, der Intellektuelle nörgelt und der Philosoph versucht den Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu führen. Das ist freilich so einfach nicht. Selbst verschuldet, das heißt, das Individuum ist selber Schuld, jedenfalls im Prinzip: wenn man´s nur abstrakt genug sieht und von allen konkreten Bedingungen absieht. Die Leute haben also Schmarren im Kopf. Und um die Welt besser zu machen, brauchen sie sich den bloß aus dem Kopf zu schlagen. Das ist der Idealismus.

Idealistische Theorien blamieren sich zwangsläufig vor einer Welt, die anders aussieht, als es der Theorie nach sein sollte. Wenn dann die Jahre ins Land gehen und die tollen Ideen sich nicht durchsetzen konnten, kommt der ein oder andere auf die Verdacht, da sei was faul. Wer dann, z.B. weil er Philosoph ist, keine materialistische Kritik auf die Reihe kriegt, steckt in der Klemme. Einerseits sieht man alles durch Bewusstsein, Ideen, Vorstellungen, kurz: Gedanken bestimmt; andererseits scheint es nicht vernünftig zuzugehen. Die daraus entstehende Alternative: Selbstbeschränkung der Vernunft auf rationale Kernbereiche und Unterwerfungen des Gesamtzusammenhangs unter Schicksal, Zufall und die Schlechtigkeit des Menschen, prägt das bürgerliche Denken. Konsequent ignoriert werden in den empirisch konstatierten Phänomenen liegende gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten und ihre Wirkung auf die Welt der Gedanken.

Der Widerspruch zwischen aufklärerischen Idealen und offensichtlich unveränderbarer Realität wird scheinbar in der Romantik und ihren Spielarten aufgelöst. Das sich an diesem Widerspruch abarbeitende Individuum landet bei romantischer Ironie, Dekadenz und Beliebigkeit oder beim Sprung in den Traum oder das Absolute. Hier schlummert, zunächst noch verdeckt, die irrationale und reaktionäre Gedankenwelt. Sie ist reaktionär, insofern sie das in der aufklärerisch-idealistischen Tradition noch vorhandene kritische Material aufgibt und das Bestehende verherrlicht: und je zurückgebliebener das Bestehende ist, desto mehr wird es verherrlicht wenn die gesellschaftlichen Widersprüche verschwinden. Es ist irrational, weil diese Versöhnung nur durch Aufgabe des Denken gelingt: Die Welt wird nicht mehr erkannt, sondern nur noch gefühlt, intuitiv erschaut. Unmittelbarer Zugang ist gefragt, und dass Kritik so nicht möglich ist, macht gerade die Stärke dieses Vorgehens aus: dass die Vernunft am Bestehenden was auszusetzen hatte, war ja der zu überwindende Widerspruch. Jetzt ist nur noch die richtige Einstellung gefragt: think positive!, kein Fleisch mehr essen, oder dem Wohle der Gemeinschaft unterordnen, etc um sich wohl zu fühlen: da man sich dem Zwang als Naturgesetz unterordnet ist von den Widersprüchen nichts mehr zu sehen.

Der Irrationalismus in der bürgerlichen Gesellschaft

Die historische Entwicklung von Philosophie, Wissenschaft und Ideologie, lässt sich aus der Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft ableiten; diese Ableitung kann jedoch nicht als starre, statische Widerspiegelung aus einer Momentaufnahme der kapitalistischen Widersprüche geschehen. Die unterschiedlichen Formen und Ausmaße des Irrationalismus lassen sich überhaupt nur verstehen, wenn begriffen wird, dass positive Wissenschaft und Irrationalismus keine Methoden sind, derer sich das Bürgertum je nach Situation bedient und die je nach Entwicklungsstand der bürgerlichen Gesellschaft sich abwechseln, sondern selbst ein dynamisches Verhältnis miteinander eingehen. Irrationale Philosopheme werden nicht in Krisenzeiten ausgepackt, sondern sind immer schon Teil der bürgerlichen Ideologie und Wissenschaft.

Es gibt keine Geistesgeschichte des Irrationalismus. Veränderungen der bürgerlichen Gesellschaft zeigen sich unter andrem in Wissenschaft und Ideologie, insofern die Erfordernisse des Produktionsprozesses oder die Zurichtung des Staatsvolkes Modifikationen erfahren. Im Ungenügen der bürgerlichen Wissenschaft steckt ihre Negation. Der Irrationalismus ist eine falsche Negation. Die bürgerliche Wissenschaft kann die gesellschaftlichen Widersprüche nicht aufheben. Weil die Erkenntnis der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten auch verbaut ist, dass diese Ursachen der Widersprüche als gesellschaftliche Naturgesetze erscheinen, droht stets der Übergang in den Irrationalismus. Der Irrationalismus verwirft das Denken um die gesellschaftlichen Widersprüche zu bewältigen und eignet sich eben darum als Kampfinstrument gegen ein Denken, das die Widersprüche erklärt.

Die bürgerliche Geisteswelt ist wegen der Widersprüche, die sie nicht lösen kann, ständig in Bewegung und schwankt zwischen Idealismus und Romantik. Nur der Irrationalismus zu kritisieren geht an der Sache insofern vorbei, als die Beziehung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und bürgerlicher Wissenschaft außen vor lässt und das schon in der bürgerlichen Wissenschaft angelegte irrationale Moment kritisiert. Eine als Kritik missverstandene Ablehnung des Phänomens Irrationalismus droht in eine Methodendiskussion auszuarten, die gleich der in der bürgerlichen Wissenschaft verbreiteten Erkenntnistheorie als Kontrollinstanz dient.

Der Irrationalismus ist eine Reaktion auf Veränderungen, die darauf abzielt, altes zu erhalten, obwohl es wissenschaftlich unhaltbar ist, aber auch der Versuch, Antworten gegen zu können, die wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen sind.

Irrationalismus und Ideologie sind im Kapitalismus vielfältiger, als sie es z.B. im Feudalismus waren. Sie sind ein Reflex auf die Zerrissenheit der bürgerlichen Gesellschaft, während sie im Feudalismus als Rechtfertigung herhalten mussten. Die Gesetze des Kapitalismus erscheinen dagegen als natürliche Zwangsgesetze, weswegen Religion und dergleichen im Kapitalismus möglich, aber nicht notwendig sind.

Irrationalismus und Kultur

Die Positivismus-Irrationalismus-Dichotomie erhält ihre scheinbare Plausibilität durch die freiwillige Selbstbeschränkung bürgerlicher Physiker und Chemiker, die dann Sonntags auch gern mal ihrem örtlichen Pfaffen zuhören. Nur: das passiert halt nicht immer. Mittlerweile sind Physiker und Chemiker, Biologen und Geisteswissenschaftler mit einem ganzheitlichen Anspruch nicht selten. Der wahre Kern im Begriff des Irrationalismus steckt in der Borniertheit, die sich rational auftretende Systeme mit geschauten Wahrheiten von Sektenpredigen und Kartendeutern teilen: die Sehnsucht nach dem unmittelbaren Zugang zum Gegenstand. Ein solcher Zugang hat freilich mit Denken nichts zu tun, das ja gerade auf die Vermittlung der objektiven Gegenstände an das Subjekt abzielt. Diese, meinetwegen Irrationalismus genannte Borniertheit bestimmt sich aber nicht aus der Negation des Gegenstandsbereichs oder der Methode positiver Wissenschaft. Der gleiche Gegenstandsbereich wird irrational bearbeitetet. Die Sehnsucht nach dem Unmittelbaren ist dort verbreitet und nötig, wo eine echte Erklärung nicht geht: bei den gesellschaftlichen Verhältnissen, deren Widersprüche einer Klärung nicht zugänglich sind, weil ihre Gesetze als Naturnotwendigkeiten gelten. Klar, dass man sich da dann besser auf unmittelbare Evidenz, auf Harmonie mit der Natur und ähnlichen Krampf verlässt. Das ist aber, wie gesagt, keine ursächlich methodische Verfehlung, sondern eine inhaltliche. Die Gesetze der bürgerlichen der bürgerlichen Gesellschaft sind eben keine Naturnotwendigkeit. Das ist der Grundirrtum der bürgerlichen Wissenschaft. Aus dem daraus folgenden Konflikt zwischen Vernunft und Wirklichkeit den Schluss zu ziehen, dass die Vernunft eben nichts taugt, macht den Irrationalimus aus.

Der Irrationalismus sucht eine Antwort auf die Krisenerscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft, ohne deren Gesetze als ihr spezifische zu erkennen. Unter dieser Bedingung können die Widersprüche nur gewaltsam versöhnt werden, entweder mittels direkter Gewalt oder aber durch Unterwerfung unter ein übergeordnetes Prinzip.

Irrationalismus und bürgerliche Wissenschaft

Die Geisteshaltung des bürgerlichen Subjekts wird durch die Positivismus-Irrationalismus-Dichotomie nicht richtig erfasst. Die bürgerliche Wissenschaft trägt einen kritikablen, durch das Kapitalverhältnis erklärbaren Charakter, der sich mitunter, aber keineswegs immer als Positivismus äußert. Auf der anderen Seite speist sich eine reaktionäre Ideologie aus der romantischen Antwort auf die Widersprüche der Gesellschaft. Weltflucht, die nicht mehr im Traum endet, sondern die Zwänge als Chancen sich zurechtlegt, sich manchmal gleich in Volksgemeinschaft, manchmal in anderen Gruppen und Prinzipien äußert, stets aber die gesellschaftlichen Zwänge subjektiviert und sich affirmativ dem Bestehenden unterwirft.

Am weitesten gehen dabei die Ideologien, die real-existierende Verhältnisse versubjektivieren: vor allem die Ideologie des Nationalismus, die Volksgemeinschaft aus Sachzwang durch den Sachzwang aus Volksgemeinschaft ersetzt und schon in jedem demokratischen Patrioten, dem ein „wir“ stets leicht von den Lippen kommt, einen potentiellen Anhänger hat.

Was seine Ursachen in den Erfordernissen des Produktionsprozesses an Lehre und Forschung und im Zweck des Staatsvolkes hat, äußert sich in Beliebigkeit und Pluralismus auf der einen, Kriegsbereitschaft und Antisemitismus auf der anderen Seite.

Eine Kritik an einem bloß methodischen Mangel bleibt unzureichend. Selbst in der romantischen Haltung ist das fortschrittliche Moment noch nicht ganz verschwunden. Die Romantik bewahrt – zunächst – die Ideale auf, mit denen die Aufklärung an der Realität gescheitert ist; in dieser Verneinung der herrschenden Zustände unterscheidet sie sich vom taktischen Realismus der als politischer Zynismus die affirmative Verdopplung des als schlecht erkannten betreibt.

Zu kritisieren ist statt des methodischen Mangels die Ursache der ideologischen Misere: der nach den Bedürfnissen des Produktionsprozesses gestaltete Wissenschaftsbetrieb und die Funktionsweise des bürgerlichen Staats samt seinem Volk.

Irrationalismus und Esoterik

Eine Kritik an den irrationalistischen Erscheinung im Kapitalismus kommt gerne als Kritik an der Esoterik daher. Diese Kritik ist sehr unverbindlich, richtet sie sich doch auf etwas, über dessen Ablehnung man sich mit seinen Lesern schon von vornherein einig ist. Will man sich nicht nur argumentativ in der Ablehnung des Phänomens bestätigen, kann Irrationalismuskritik nur Kritik bürgerlicher Wissenschaft und Gesellschaft sein. Der sogenannte Irrationalismus entspringt einem Mangel bürgerlicher Wissenschaft und hat seine Ursache in den Fetischen der bürgerlichen Gesellschaft, wenn auch der Irrationalismus weit über das hinausgeht, was den Menschen tatsächlich verkehrt erscheint.

Die verbreitete Irrationalismuskritik, die sich zudem noch auf die Esoterik kapriziert, droht selbst irrational zu werden, indem sie die bürgerliche Wissenschaft, samt ihrer, wenn nicht irrationaler so doch unwissenschaftlicher Momente, für paradigmatisch nimmt. Irrationalismuskritik ist eine bürgerliche Kritik, die ihre Wissenschaft ohne genaueres Ansehen retten will. Sie ist eine saturierte Bewegung, die nicht auf die Kritik des bürgerlichen Betriebs, sondern auf dessen Rettung vor äußeren Feinden abzielt. Die rationale Wissenschaft ist, als Analogon zur sogenannten Zivilgesellschaft, der Platz an dem der moderne Intellektuelle es sich lauschig eingerichtet hat.

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