Ukrainekrieg- Interview mit General a.D. Domroese: „Nur ein neuer Präsident kann Gespräche, Verträge und ein „faires Miteinander“ ermöglichen“

Ukrainekrieg- Interview mit General a.D. Domroese: „Nur ein neuer Präsident kann Gespräche, Verträge und ein „faires Miteinander“ ermöglichen“

Global Review hatte die Ehre mit General a. D. Domroese ein weiteres Interview über die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs zu führen.

General Hans-Lothar Domröse ist ein ehemaliger General des Heeres der Bundeswehr. Er war Kommandeur des Alliierten Joint Force Command Brunssum (2012-2016). 2011 wurde General Domröse zum deutschen Militärvertreter MC / NATO und EU in Brüssel ernannt. Er übernahm das Kommando des Eurokorps in Straßburg (2009-2012). Während eines Einsatzes in Afghanistan im Jahr 2008 war er Stabschef des ISAF-Hauptquartiers. General Domröse erhielt während seiner Militärkarriere eine Vielzahl von Auszeichnungen und Ehrungen. Er ist Senior Berater in der Consultingfima Friedrich 30, zu der auch Ex-BND-Präsident Schindler gehört und im Globalen Netzwerk der Agora Strategy Group der Munich Security Conference.

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Global Review: General Domroese, zuerst wollen wir einmal eine „Fehleranalyse“ der westlichen oder auch deutschen Russlandpolitik anstellen. Es gibt da im wesentlichen 2 Positionen. Die eine besagt, dass Russlands Kriege gegen Georgien, in Syrien, auf der Krim und nun in der Ukraine nichts mit den Aktionen des Westens zu tun hätten, sei es nun Kosovokrieg, NATO-Osterweiterung, Irakkrieg oder der von den USA verfolgten Hegemoniestratgie zur amerikanischen Vorherrschaft wie sie Brzezinski in seinem programmatischen Buch „Chessboard“entwarf, in der die Ukraine die zentrale Rolle spielt, sondern nur einem lange gehegten Hegemonieplan Putins oder imperialen Denkens der russischen Eliten, das vom Westen übersehen worden oder verdrängt worden sei. Die andere Position ala Mearsheimers offensivem Realismus besagt, dass Grossmächte immer so wie Russland reagieren würden, wenn sie die Perzeption einer existentiellen Bedrohung hätten und der Westen schuld an dem Ukrainekrieg sei. Welcher Position neigen Sie zu. Oder ist es ein dialektisches Wechselspiel?

HLD: Nun, ich denke es ist noch viel zu früh eine umfassende Fehleranalyse mit Blick auf „unsere“ Russlandpolitik abzugeben. Einige gravierende Fehler stechen gleichwohl ins Auge: die extreme Ressourcenabhängigkeit – insbesondere Gas – , die quasi lautlos von unter 30% auf über 40% gestiegen ist. Oder unsere leeren Gasspeicher, die „man“ nicht bemerkt hat.

Klar ist allerdings auch, dass es tatsächlich eine „existenzielle Bedrohung“ für den Kreml gibt: FREIHEIT! Menschenrechte, Unabhängigkeit der Justiz/Gewaltenteilung, Freie Meinungsäußerung etc. sind doch KEINE Bedrohungen im klassischen Sinne. Es ist also NICHT Russland bedroht in dem Sinne einer „fremden Machtübernahme“, sondern die diktatorischen Machthaber und Strukturen sind bedroht vom Freiheitswillen der Bürger. Eine freie und prosperierende Ukraine ist gewissermaßen ein Alptraum für Präsident Putin und seine Cliquen. Daher hat er Lukaschenko gestützt, als dieser die Wahlen gefälscht hatte und sein Volk niederknüppelte und einsperrte. Und genau deswegen hat er die Ukraine überfallen. Die bekannte Argumentation, er (Putin) musste handeln, um seine Bürger zu schützen und die Nazis zu vertreiben folgt alter sowjetischer Logik. „Unsere milde Reaktion“ auf die völkerrechtswidrige Annktion der Krim im Jahr 2014 mag ihn bewogen haben, erneut anzugreifen nach dem Motto: es wird schon nicht so schlimm kommen.Unsere „Schwäche“ ist aber nicht der Auslöser seiner Invasion.

Kurz: ich sehe eine ganze Melange von Gründen – nicht nur Position a oder b. Sicher hat auch die gemeinsame Geschichte der Russen und Ukrainer eine besondere Bedeutung gespielt. Wie auch immer: ich sehe KEINEN einzigen Grund, der diesen unprovozierten Krieg rechtfertigen könnte. Diese Entscheidung wird Moskau noch auf die Füße fallen mit ihren langfristigen unerwarteten Effekten.


Global Review: Vertreter der westlichen Unschuld weisen auf  völkerrechtliche Vertragswerke hin, die in den 90er Jahren unter Jelzin unterzeichnet wurden, wie die NATO-Russland-Grundakte mit freier Bündniswahl oder das Budapester Memorandum, das  infolge der Krimannektion und des Ukrainekriegs gebrochen wurde. Russland wiederum weist auf Völkerrechtsvertragsbrüche der USA und der NATO mit Verweis auf den Kosovokrieg und den Irakkrieg hin und reklamiert dasselbe Recht. Fand die eigentliche Reorientierung der russischen Aussenpolitik nicht schon in der Endphase unter Jelzin statt, als dieser während des Kosovokriegs russische Truppen nach Pristina entsandte, die der damalige US-Oberbefehlshaber Wesley Clark vertreiben wollte, was ein britischer General verhinderte mit dem Verweis erst wolle mit Russland keinen Krieg? Zumal Jelzin damals tobte, gleich nach China reiste, demonstrativ eine neue Interkontinentalrakete die Topol testen liess und auch schon Atomkriegsdrohungen gegen den Westen ausstiess, die aber seinem exzessiven Wodkakonsum zugeordnet und nicht ernst genommen wurden. Muss man einen Unterschied machen zwischen Jelzin und Putin, den er ja als Nachfolger auswählte und der dann den Tschetschenienkrieg, den auch schon Jelzin begonnen hatte erfolgreich und brutal zu Ende führte?

HLD: Es gibt keine Gleichheit im Unrecht.

Die Geschichte ist lang von Verstößen gegen geltendes Recht – auf allen Seiten. Insofern ist es mir auch immer sehr wichtig, auf solche Fehlentscheidungen hinzuweisen. Mit Blick auf den jüngsten russischen Angriff auf die  Ukraine sehe ich diesbezüglich keinen „Erkenntnisgewinn“ – egal, ob Putin Jelzin ähnelt oder nicht. Dass der Kreml sämtliche Verträge der jüngeren Zeit gebrochen hat, ist klar. Der gesamte „Helsinki-Prozess“ ist nach fast 50 Jahren zerplatzt wie eine Seifenblase. Wir stehen vor einem politisch-strategischen Scherbenhaufen: der Traum einer gemeinsamen Sicherheitszone von Portugal bis Wladiwostock ist Geschichte.

Fakt ist: der Kreml hat vor acht Jahren einen Krieg mit der Ukraine ausgelöst. Sein strategisches Ziel, „Entwaffnung & Denazifizierung“ der Ukraine wird er nicht erreichen – wohlmöglich eine Teilung in Ost- und Westukraine; und damit einen „frozen conflict“. Mit einem „freien, selbstbestimmten Westen“ und einem „besetzten, nicht befreiten Osten“ als Vasallenstaat oder Teil Russlands.
 

Global Review: War die deutsche Ostpolitik nur naiv oder nicht die Hoffnung deutscher Kreise wie Schröder eine eurasische Achse als Gegengewicht zu den USA herzustellen, wie sein Vorschlag, die G7 zu einer G 9 mit Russland und China zu erweitern und im Gegenzug deren Zustimmung für eine UNO-Reform und deutschen Sicherheitsratssitz zu bekommen? Und gab es nicht auch in den US zwei Fraktionen. Die eine, die meinte, dass man China und Russland zugleich bekämpfen sollte, während die andere meinte, man müsse Russland von China auf Distanz bringen, bestenfalls neutral halten in einem kommenden sinoamerikanischen  Konflkt? Ähnlich äusserte sich ja auch der deutsche Chef der Marine Schönbach. Sind dies Einzelmeinungen oder grundsätzliche Positionen breiterer Elitekreise?


HLD: Mit dem Begriff „Ostpolitik“ verbinde ich die Bemühungen deutscher Regierungen, insbesondere der SPD-geführten Koalitionen, ein „gutnachbarschaftliches Verhältnis“ zu Polen und Russland zu etablieren – als deutliches Zeichen der Abkehr von Nazi-Deutschland. Willy Brandts Kniefall in Warschau steht sinnbildlich für diese neue Politik. Als ich Jahrzehnte später dort als NATO-Befehlshaber einen Kranz am Grab des unbekannten Soldaten niederlegte, erfuhr ich hautnah die großen Erfolge dieser Politik: You have changed, sagten mir die Leute. Und sie meinten: Deutschland hat sich gewandelt: vom Feind zum Freund. Vom Nazi-Deutschland zum demokratischen Staat. Vom Aggressor zum Stabilitätsanker in der Mitte Europas. Seit Adenauer war es das Ziel deutscher Ostpolitik, ein gutes, freundschaftliches Verhältnis zu beiden „Erzrivalen“ herzustellen: zu Frankreich im Westen – zu Polen und Russland im Osten.

Russland hat sich jedoch NICHT gewandelt. Und das macht den Unterschied. Unsere polnischen Verbündeten wussten das schon immer, was „wir“ nicht glauben oder sehen wollten. „Wandel durch Handel“ lautete unser Credo – und so wissen wir spätestens heute: das war ein Irrweg. Mit dem erneuten Überfall auf die Ukraine, mit Rückkehr von Krieg, Elend und Vertreibung nach Europa wird sich die europäische, deutsche, ja globale Außen- und Sicherheitspolitik via-á-vis Russland um 180 Grad drehen. Zugleich wird man sehr aufmerksam verfolgen, wie sich das kommunistische Regime in Peking entwickelt. Auch unsere China-Politik wird sich vom rein wirtschaftlichen Profitstreben hin zu einem mehr Werte bestimmten Handeln umorientieren. Stichwort: Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Wirtschaftliches Handeln wird auf politische Implikationen hin überprüft werden.

Global Review: Inwiefern ist den die NATO- Osterweiterung militärisch und sicherheitspolitisch gesehen eine existentelle Bedrohung wie von Mearsheimer postuliert, auch wenn die Ukraine NATO-Mitglied geworden wäre? Faktisch würde doch, falls der erste NATO-Soldat an der Ostgrenze oder eben der Ukraine die russische Grenze überschreitet, Russland massiv mit Nuklearschlägen antworten? Oder nicht? Oder ist die existentielle Bedrohung eher in dem Sinne imperialen Denkens gemeint, die Interessenssphären und Vorräume und Hinterhöfe sieht, die man als Pufferzonen will, also mehr das sogenannte Denken des 19. Und 20. Jahrhunderts? Russland behauptet ja, dass die internationale Weltordnung der Pax americana seitens der USA die ganze Welt als ihre Interessenssphäre und Hinterhof erkläre, während die Russland nicht zugestanden werden sollte?

HLD: Machtpolitisch betrachtet hat Europa, das bis in die 1990iger Jahre getrennt war, u.a. durch die friedliche polnische Revolution, angeführt durch Lech Walesa, „gewonnen“: an Freiheit, Wohlstand, Einfluss und Kohäsion – ohne dass ein einziger Schuß gefallen wäre.

Das neu entstandene Russland hat im Westen und Süden an Macht und Einfluss verloren.  Der russische Hegemon in Gestalt von Präsident Putin kann und will das nicht akzeptieren. Er ist „bedroht“ einzig von der Freiheit – nicht von Waffen ! Und genau dies ist der wesentliche Unterschied zur pax americana: die Vereinigten Staaten von Amerika sind (auch) eine soft power ersten Grades. Russland dagegen nur Militärmacht; sonst nichts. Das unterscheidet es auch deutlich von China, das wirtschaftlich ein Riese mit enormer Innovationskraft ist.

Wo wollen denn junge Leute leben: in den USA oder Russland? Die Garantie der Menschenrechte ist nirgends deutlicher als in den USA oder Europa. Die Durchsetzung von Recht und die Begrenzung staatlicher Macht/Gewalt sind der Markenkern des „Westens“ – und das macht den Unterschied.  Insofern haben wir es eher mit einem System-Wettbewerb zwischen Russland & China einerseits und den USA & Europa andererseits zu tun. Und genau dort, wo beide „Lebensformen“ aneinanderstoßen, ist es brandgefährlich.

Die Ukraine als „Brücke“ zwischen „Ost“ und „West“ kam so unfreiwillig ins Visier russischer Machthaber. Und der russische Präsident verlangt sogar noch viel mehr: ein „Europa von 1997“; also ein unfreies Ost-Europa. Diese Forderung werden die Menschen, die für ihre Freiheitsrechte gekämpft haben, verhaftet und verfolgt wurden, niemals zulassen: einmal frei – immer frei! Diesen ungebrochenen Freiheitswillen erleben wir seit dem 24. Februar 2022 in der Ukraine. Der Widerstand ist so stark und tief verwurzelt, dass er sogar eine überlegene Weltmacht konventionell aufhalten kann – mit eigenen hohen und schmerzlichen Verlusten.  


Global Review: Geht es überhaupt nur um die Ukraine oder geht es nicht um den Gegensatz zwischen US- und russischem und nun auch chinesischem Imperialismus einander in Europe oder im Indopazifik einzudämmen oder rauszudrängen und eine neue Weltordnung zu errichten? Putin erklärte ja in seiner sogenannten Friedensrede im deutschen Bundestag 2001 in besten und unüberhörbaren Deutsch, dass Europe nur dann eine Rolle spielen in der Welt spielen könne, wenn es „seine Wirtschafts- und Verteidigungspotentiale mit denen Russlands vereinigt“. Das bedeutet doch nicht nur einen eurasischen Wirtschaftsraum, sondern auch die Herstellung eines eurasischen Militärbündnisses und Ersetzung der NATO. Ebenso gab es ein gemeinsame chinesisch-russisches Strategiepapier, in dem eine neue multipolare Weltordnung gefordert wurde . Auch Lawrow erklärte auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass erst eine neue multipolare Weltordnung und internationale Sicherheitsarchitektur gegründet werden müsse, bevor man sich über die Lösung regionaler Konflikte einigen könnte- genau in dieser Reihenfolge. Inwieweit können diese Gegensätze überhaupt in eine Art Balance oder friedliche Koexistenz gebracht werden oder ist das eine Illusion?

HLD: Mit dem UN Sicherheitsrat, insbesondere den sog. „P5-Veto-Mächten“, hatten bzw. haben wir ja eine Art multipolarer Weltordnung – mit dem Nachteil, dass „man“ gegen eine Atommacht nur im äußersten Falle etwas bewirken kann. Also wird man wohl akzeptieren müssen, dass die verbliebenen drei Hegemons in ihrem jeweiligem Einflussbereich herrschen. So ist es im Fall der Ukraine. Und so war es bei Hong Kong. Im Falle einer Krise „auf der Naht“ zwischen zwei Hegemonen wird es eine Frage der Koalitionsbildung und vor allem des politischen Willens sein, die über den Ausgang entscheidet. So geschehen in Syrien.

Putins, Lawrows und alle anderen Vorschläge aus diktatorischem Hause wollen nur eins: Machterhalt und Unterdrückung – und das am liebsten mit Zustimmung der „Opfer“. Der amerikanische, im weitesten westliche, Ansatz stellt jedoch das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Mittelpunkt ihrer Strategie. Somit gleichen OST/WEST-Ansätze einem Null-Summen-Spiel; es gibt im Kern keine/kaum überlappenden Prinzipien. Vielleicht in der Wirtschaft, im Handel. Aber auch auf diesem Feld darf es keine Abhängigkeiten geben; win-win lautet die Devise.

Die Frage heute lautet: COMPETITION or/and COOPERATION. Das politische Klima wird „rauher“. 


Global Review: Welche Rolle spielt China? Glauben Sie, dass Xi Putin während der Winterolympiade grünes Licht für den Ukrainekrieg gegeben hat, in der Hoffnung auszutesten, wie belastbar der Westen sei, er auch von einem Blitzkrieg ausging, der Schwäche des Westens und der Ukrainer, um den Westen in Schockstarre zu versetzen, US-Truppen in Europa zu binden, um so den Weg im Indo-Pazifik und in Taiwan frei zu haben und nachdem die Rechnung nicht aufging, sich vorerst zurückhält? Wäre China wie von einigen Experten vorgeschlagen überhaupt für eine Vermittlerrolle geeignet oder würde man da nicht den Bock zum Gärtner machen?

HLD: Während der olympischen Winterspiele in Peking haben beide Präsidenten offensichtlich eine weitreichende Allianz gegründet, die das strategische Zusammengehen beider Staaten auf allen Feldern unterstreicht. Das ist etwas Besonderes. Ob man diesen Schritt als „grünes Licht“ für den russischen Überfall auf die Ukraine werten darf, daran habe ich eher meine Zweifel. Überhaupt würde ich – zumindest im Nachhinein – sagen: all die russischen Träume/Ziele sind nicht aufgegangen – im Gegenteil. Und mit Blick auf eine mögliche chinesische Invasion auf Taiwan ist ebenso festzustellen: Die USA stützen sich auf den Taiwan – Relation -Act und würden die Kräfte massiv vom ersten Tag an unterstützen, wobei viele westliche Staaten mit Sicherheit dieser „Coalition der Willigen“ beitreten würden. Kurz: der Schuß ist nach hinten losgegangen.

Mit Blick auf eine Vermittler-Rolle Chinas im Ukraine Krieg bin ich nicht zu optimistisch: Einfluss kann und wird China sicher nehmen – hinter den Kulissen. Vordergründig halten beide Seiten eng zusammen. Daher fallen die Chinesen als „faire, unparteiische Vermittler“ aus. Eine UN-Friedenstruppe könnte ich mir nach einem Waffenstillstand vorstellen.


Global Review: Indien hält sich ja wie China in einer Verurteilung und in Sachen Sanktionen gegen Russland zurück, ja durchbricht auch die Sanktionsfront mittels des Kaufs von russischem Erdöl und inzwischen wird auch über ein vom US-Dollar abgekoppeltes eigenes eurasischen Finanzsystem nachgedacht? Glauben Sie, dass es zu solch einer eurasischen Achsenbildung kommen kann wie sie schon Primakow in seinem RIC (Russland- Indien- China)- Modell gefordert hat oder nun einige Eurasier über die BRICS befürworten?

HLD: Indien muss seit jeher sehen, wie es sich politisch zwischen China und Russland positioniert- unabhängig von der Ukraine-Entwicklung. Mit China steht es im Dauerkonflikt, ebenso mit Pakistan. An der Seite der USA sind sie starke Partner in der US-geführten QUAD zur Eindämmung Chinas. Auch mit Russland strebt Indien seit Jahren „gut-nachbarschaftliche Beziehungen“ an, um nicht eines Tages „zwischen die Fronten“ zu geraten. All das hat Tradition und kann akzeptiert werden, wenngleich mehr „Distanz“ wünschenswert wäre. Eine finanzielle Bindung, wie von Ihnen angedacht, sehe ich nicht. Geld verdient man mit dem Westen – nicht mit Asien und schon gar nicht mit Russland. Das wissen die Inder auch. Klar ist allerdings auch: Russland „schmückt“ sich mit guten Beziehungen zu Indien und will damit demonstrieren: wir sind nicht isoliert. Reines Ablenkungsmanöver…


Global Review: Timothy Snyder und Norbert Röttgen forderten auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine Neue Ostpolitik, die drei Säulen haben sollte: 1) Ein starkes europäisches Militär, um Diplomatie auch machtpolitisch zu untermauern und überhaupt glaubwürdig zu machen. 2) Eine Stärkung der osteuropäische Staaten 3) Eine neue Russlandstrategie auf neuer Grundlage. Aber auf welcher Grundlage sollte dies geschehen? Mit Putin, ohne Putin, mit welchen möglichen Nachfolgern oder soll man den russischen Nationalismus und Expnsionismus als historisches Gen der Russen sehen, das man grundsätzlich und immer eindämmen müsste, d.h. auch keine Integration mehr in de Westen beabsichtigen sollte oder Wandel durch Handel oder Annäherung?

HLD: Der Absicht, eine neue, andere Außenpolitik zu formulieren, kann ich nur zustimmen. O.a. drei Elemente dieser neuen Russlandpolitik halte ich für absolut richtig. Wir sind desillusioniert – und doch bleibt das riesige Russland mit seinen 140 Mio Menschen ein geo-strategischer Faktor, mit dem wir auch Morgen leben müssen und wollen. Am Besten in Frieden und Sicherheit. Kontakte auf wissenschaftlich-kulturellem Gebiet sollten wir weiter unterstützen.

Mir fehlt allerdings die Phantasie, mir vorzustellen, wie das mit einem Präsidenten Putin zukünftig möglich sein soll. Unsere Beziehungen sind seit dem 24.02.2022 auf dem „Nullpunkt“ angekommen. Selbst wenn morgen ein Waffenstillstand vereinbart würde, bliebe doch Putin der Aggressor. Und welchen Friedensschluß sähen denn die Russen vor? Mit anderen Worten: nur ein neuer Präsident kann Gespräche, Verträge und ein „faires Miteinander“ ermöglichen. Selbst dann bleibt es schwierig, neue politische Ansätze gemeinsam zu eruieren. Entscheidend wird doch die Frage sein: welche Kriegsschuld akzeptiert Russland? Welche Verantwortung übernimmt der Kreml? Wie kann Versöhnung aussehen? Es liegt ein langer, anstrengender Weg vor uns – ein Weg vollen Misstrauens. ein Weg des harten Wettbewerbs – nicht der leichten Kooperation. Präsident Putin ist in Demokratien isoliert – Assad, Lukaschenko und Kim halten zu ihm…China wird erkennen, dass Putin „ein Klotz am Bein“ ist – die wirtschaftlichen Einbrüche stehen dafür.


Global Review: Man wird auch sehen, welche Abschreckungsstrategie die NATO bei ihrem Gipfel im Juni 2022 wählen wird, zumal einige Strategen und Ex-Generäle wie Breedlove oder Ben Hodges  der Ansicht sind, dass die alte Abschreckungsstrategie angesichts der russischen Nukleardokrtin des „escalate to deescalate“ angepasst werden müsse, einige US-Generäle sich auch wieder der Doktrinen der begrenzten Atomkriege und Airland Battle der Reganära und Colin S. Gray besinnen wollen, wobei die Frontline und der Raum für begrenzte Atomkrieg nun nach Osten, direkt an die Grenze Russlands gewandert ist und die Frage ist, ob dies Konzepte überhaupt noch tauglich wären. Zudem stellt sich auch die Frage, ob die NATO-Russland-Akte von 1997 nun aufgekündigt wird, um damit ständige Militärbasen, Kriegsgerät, NATO- Truppen in Osteuropa dauerhaft zu stationieren. Umgekehrt gibt es russische Scharfmacher wie der Putinberater Karaganow, der Putin sogar eine nukleare Eskalation gegen NATO-Staaten und selbst die USA nahelegt, da er glaubt, dass die USA Artikel 5 des NATO-Vertrages nicht realisieren und feige zurückzucken würden. Was erwarten Sie von der neuen NATOstrategie ? Und inwieweit wird es zu einer neuen Abschreckungsdokrtin jenseits der flexible response kommen, vielleicht im Sine einer präemptiven oder offensiven Abschreckung?

HLD: Die Arbeiten an der neuen NATO Strategie haben lange VOR der Russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 begonnen – die russische Annektion der Krim im Jahr 2014 war der Auslöser für die Neu-Orientierung der Allianz. Eine NEUE Strategie ist überfällig.

DETERRENCE / Abschreckung wird eine zentrale Rolle einnehmen. Dabei behalten Nuklearwaffen ihre überragende Bedeutung. Prä-emptive Aktionen werden NICHT in Erwägung gezogen – es bleibt m.E. dabei, dass die NATO, wenn angegriffen, ihre Ziele selbst auswählt und entscheidet, wie und wann sie wo reagiert (…according to our choosing…).

Als dritte Aufgabe der NATO stand im alten Konzept: coperative security. Das muss angepasst werden.

Das Kapitel Partnerschaften muss völlig neu formuliert werden; was Partnerschaft 

bedeutet, muss beantwortet werden. Und natürlich müssen die Ziffern 33ff, die sich mit „Russland“ beschäftigen, aus dem alten Konzept herausgenommen werden. Russland ist eine Bedrohung ! Das muss so formuliert werden. Ich wünschte mir, dass der NATO-Russia-Founding-Act bestehen bliebe – zumindest mit Blick auf „no nukes“ in den 1997-Ländern wie Polen.

Und schließlich erwarte ich einige klare Sätze zu unserem Verhältnis zu China.

Insgesamt wird das Strategic Concept unseren bekannten Prinzipien folgen – eine Überraschung sehe ich nicht. Die Neue Strategie wird im Kern angepasst an die Wirklichkeit – nüchtern, stark und klar.


Global Review: Auch wenn Putins Truppen angeblich „festgefahren“ sind, bleibt doch zu fragen, was das Verhandlungsergebnis sein soll? Zum einen wird noch von der territorialen Integrität ukrainischerseits gesprochen, aber NATO-Mitgliedschaft ist schon abgeschrieben und beim Donbass will man Zugeständnisse machen. Putin dürfte als erstes Ziel wohl Donbass mit Landbrücke Mariopoul-Krim haben wollen und vielleicht noch Odessa, um die Ukraine landlocked zu machen. Ob dies dann noch Teil der Ukraine sein wird mit Minderheitenautonomieregelung ist eher unwahrscheinlich. Wahrscheinlich unabhängig als Ostukraine oder eben Teil Russlands. Und danach? Selensky will ja jetzt Sicherheitsgarantien durch die Hintertür ,aber selbst wenn die USA sich dafür erwärmen könnten, wäre das so bedeutungslos wie das Budapester Memorandum und weniger als der Taiwan Relations Act. Nicht mal strategische Ambiguität. Und dass Selensky über den Artikel 42 militärische Sicherheitsgarantien der EU durch die Hintertür bekommen will ,ist doch genauso desperat. Kann es überhaupt wirkungsvolle oder glaubwürdig militärischen Sicherheitsgarantien für die Ukraine geben , ja gar über die EU ? Oder wird sich Putin erst Mal die Ostukraine nehmen, dies als gesichtswahrenden Sieg verkaufen und auf seine nächste Chance in der Zukunft warten?

HLD: Das scheint die 64.000 Dollar Frage zu sein… Die Gesamt-Ukraine war im Prinzip neutral. Von 2004 bis 2013/14 als das Volk gegen das herrschende Regime aufbegehrte. Unterstützt vom Westen. Gleichzeitig bestanden pro-russische Kräfte auf der Krim und in Donezk/Luhansk auf „Unabhängigkeit“. Mit der Annektion der Krim durch Russland steht die „Rest-Ukraine“ im Krieg seit 2014. Die Neutralität war nur noch formal gegeben: im Kern ging es den Kiewer Regierungen um Westbindung (EU) und Sicherheits-Garantien  

durch die NATO. Dieses Szenario war dem Kreml ein Horror – daher marschierte er großräumig am 24. Februar 2022 in die Ukraine von Norden, Osten und Süden ein, um sie zu „denazifizieren und zu entwaffnen“. 

Die reizvolle Idee, die Ukraine als „Brücke zwischen West und Ost“ zu etablieren, ist krachend gescheitert. Leider. Nach Tod und Vertreibung, nach Greueltaten und Zerstörung ist das „Handtuch zwischen der Ukraine und Russland“ für die handelnde Generation zerschnitten. Ob und wann es je zur Aussöhnung zwischen beiden Staaten kommt, steht in den Sternen.

Nach Waffenstillstand werden beide Seiten unverändert „alles“ fordern – und nicht erreichen. Das strategische Ziel der Russen, die gesamte Ukraine zu entwaffnen und zu denazifizieren werden sie nicht erreichen. Auch Präsident Selensky wird nicht die „ganze Ukraine“ bekommen. Also wird es wohl oder übel zu einer Teilung in West- und Ost-Ukraine kommen. So, wie Deutschland damals. Die West-Ukraine wird über kurz oder lang der EU und NATO beitreten, denn nur die Allianz kann Freiheit in Sicherheit garantieren. Und sie wird weiter ihren Anspruch auf die gesamte „Ukraine in den Grenzen von 2004“ Aufrecht erhalten

Die russische Strategie „roll-back to 1997“ wird die trans-atlantischen Beziehungen fordern und gleichzeitig stärken – einen konventionellen Angriff auf beispielsweise das Baltikum oder Polen kann Russland in den nächsten 5-10 Jahren nicht erfolgreich bestehen. Zu groß sind die Verluste, zu schlecht das operativ-taktische Können, zu angeschlagen die Moral. Dennoch wird die Allianz nicht erneut in den Dornröschenschlaf verfallen. Russland hat sich langfristig mehr geschadet, als es gewonnen hat. Nicht auszuschließen ist, dass sich die Menschen in Belarus erheben – so wie sie es schon einmal getan haben. Eine prosperierende West-Ukraine strahlt auch nach Minsk aus. Lukaschenko kann es gehen wie Janukowitsch…Ob Putin im Amt bleibt ist aus meiner Sicht eher unwahrscheinlich. Nur ein neuer Präsident kann Russland aus der Isolation führen…


Global Review: Falls Putin weiter im Amt bleiben sollte, erwarten Sie in Zukunft dann eine Invasion des Baltikums, wie dies etwa das CSBA in seiner Studie „Rethinking Armageddon“ oder Michael O Hannon in seinem Buch The Senkaku Paradox- Great Power Wars on small stakes mit Forderung nach einer integrierten Abschreckung schon jetzt kommen sieht. Oder die Eroberung der Restukraine im zweiten Anlauf? Oder einen nuklearen Demonstrationsschlag vor der Küste Skandinaviens, falls Schweden und Finnland der NATO beitreten wollen?

HLD: Nein, das sind alles Szenarien, die ich zwar nicht ausschließen kann, aber doch für unrealistisch halte. Militärisch – konventionell kann sich der Kreml die nächsten 5-10 Jahre keine direkte Konfrontation mit der NATO wünschen; er sollte sie auch nicht suchen. Die „West-Ukraine“ wird Sicherheitsgarantien bekommen, die einem Engagement nach Art V (Nato-Vertrag) gleichen – geht also auch nicht siegreich für Russland.

Was soll ein nuklearer Demonstrationsschlag ? Wem wollte Russland damit was beweisen? Seht her – ich kann ? Nein, das bringt doch gar nichts. Sollte Finnland nach diesem Demoschlag nicht in die NATO wollen oder, wenn schon Allierter, dann wieder austreten ? Obendrein wäre das ein GAME CHANGE, den selbst Peking nicht goutieren würde. Man „spielt“ nicht mit Nukes! Kurz: so verzweifelt ist Putin denn doch nicht, dass er „das große Besteck“ einsetzen müsste.


Global Review: Insofern Putin nicht doch noch durch einen russischen Stauffenberg oder wie die Viererbande in China oder ala Berija oder Ceaucescu ein vorzeitiges Ende nimmt, dürfte seine Perspektive sein, dass er noch 2 Jahre durchhält und auf eine Wiederwahl Trumps setzt, zumal dieser, wie auch seine Anhänger und Fox News samt Tucker Carlson wllfährig Putins Propaganda in den USA vertreibt und Biden, die Demokraten, den Liberalismus als Hauptfeinde sehen und nicht Putin, den er sogar öffentlich auffordert ihm zu helfen gegen Biden und Bidens Sohn Hunter vorzugehen. Könnte eine Wahl von Le Pen übernächste Woche das Ende der NATO und der EU einläuten und der historische game changer sein, auf den Putin noch setzen kann?

HLD: Die finanzielle Unterstützung von Front National durch den Kreml ist allseits bekannt; Madame le Pen wäre vordergründig gut für Putin. Aber nicht, weil le Pen russisches Handeln eher unterstützt als Macron, sondern weil Europa Gefahr läuft, sich zu spalten. Nationalisten wie Orban, le Pen, PiS und Serbien sind der Spaltpilz in der EU auf den das russische Regime setzt. Dennoch sehe ich weder FREXIT noch das Ende der NATO. Hier mag sich der Kreml verrechnen. Gleichwohl hoffe ich sehr, dass unsere französischen Freunde NICHT „rechts“ abbiegen.

Ähnliches gilt für Amerika: Trump hat die trans-atlantischen Beziehungen mehr als strapaziert – und doch wird – Putin sei Dank – die „Zeitenwende“ ein stärkeres europäisches Engagement in der NATO beflügeln. EIN Hauptkritikpunkt Trump’s wäre damit obsolet. Europa und Amerika kommen zu einem fairen burden sharing. Endlich. Das völkerrechtswidrige Morden in der Ukraine wird von der großen Mehrheit in den USA verurteilt – das könnte Trump auch nicht leicht „verzeihen“.

Kurz: Alles wäre möglich gewesen – VOR dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Jetzt gilt all das nicht mehr. Wiederum „unintended effect“. Dennoch setze ich auf starke Präsidenten in beiden Ländern, die dem Recht und der Gemeinschaft der Demokratien verpflichtet sind.

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