Interview mit Alexander Rahr: Neue Ostpolitik-“ Russland und Westen brauchen Cohabitation!““Gemeinsamer Wirtschaftsraum von Lissabon bis Schanghai“

Interview mit Alexander Rahr: Neue Ostpolitik-“ Russland und Westen brauchen Cohabitation!““Gemeinsamer Wirtschaftsraum von Lissabon bis Schanghai“

Global Review hatte die Gelegenheit mit dem Politikwissenschaftler Alexander Rahr ein Interview über Rußland und eine Neue Ostpolitik zu führen.

Alexander Rahr ist international angesehener Politikwissenschaftler, Politik- und Unternehmensberater, Publizist und  Buchautor.Die wichtigsten Lebensdaten:

Geboren am 2. März 1959 in Taipeh/Taiwan, verheiratet, zwei Kinder.

Aufgewachsen in Tokio, Eschborn im Taunus, München. Lebt seit 1999 in Berlin.

1980 – 88 Studium an der Ludwig–Maximilian-Universität München (Geschichte, Slawistik, Politik)
1977 – 90 Projektmitarbeiter, Bundesinstitut für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien, Köln

1982 – 94 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut von Radio Free Europe/Radio Liberty, München

1989 – 91 Forschungsaufenthalte in RAND Corporation (USA), Sowjetparlament (UdSSR), East-West Institute (USA)

1994 – 12 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Programmdirektor Russland/Eurasien-Zentrum (Berthold-Beitz Zentrum) am Forschungsinstitut der DGAP, Bonn/Berlin

2012 –  Projektleiter (Chefredakteur Russlandkontrovers.de) beim Deutsch-Russischen Forum, Berlin

2012 – 15   Senior Advisor Russia, Wintershall Holding, Kassel

2015 –   Senior Advisor, Gazprom Brussels (Berater für Deutschland und EU-Angelegenheiten)

Mitbegründer des Petersburger Dialogs, Valdai-Klubs, Yalta European Strategy, Berliner Eurasischer Klub, Verbands der Russischen Wirtschaft in Deutschland

Träger des Bundesverdienstkreuzes

Ehrenprofessor an der Moskauer Diplomatenhochschule MGIMO

Ehrenprofessor an der Moskauer Hochschule für Ökonomie

Global Review: Herr Rahr, in seiner Bundestagsrede 2001 umriß Putin neben der Schaffung einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok auch sehr grundsätzlich seine Vorstellungen von dem Verhältnis der EU zu Rußland: „Niemand bezweifelt den grossen Wert Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa einen Ruf als mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturresourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotentialen Russlands vereinigen wird“. Das klingt danach, als ob Putin damit rechnete, dass sich die EU mittel- und langfristig aus der NATO löst und mit Rußland eine europäische Sicherheitsarchtiektur, vielleicht einen eurasischen Block gründet, vor dem Brzezinski in seinem Buch „Chessboard“ ausdrücklich warnt.Gorbatschow hatte die Idee eines „gemeinsamen europäischen Hauses“,die Linkspartei befürwortet eine „europäische Sicherheitsordnung“, AfD- Vorsitzender Gauland beruft sich auf Bismarcks Rußlandpolitik, befürwortet zwar noch eine NATO-Mitgliedschaft, aber nur mit dem Ziel mit Rußland zu einer „europäischen Friedensordnung und -sicherheitsarchtitektur“zu kommen. Wie realistisch sind diese Vorschläge und werden sie von den USA, der NATO und den Transatlantikern nicht als Bedrohung gesehen, die vielleicht sogar in einem Krieg münden könnte?

Alexander Rahr: Russland sieht sich, seit Peter dem Großen, als europäische Gestaltungsmacht. Tatsächlich wäre die Einheit Europas nur komplett, wenn der größte europäische Flächenstaat Russland in Europa integriert ist. Russland ist wirtschaftlich und kulturell eng mit Europa verbunden – und umgekehrt. In der Zukunft muss Europa, um seine Stabilität zu bewahren, einen gemeinsamen Sicherheitsraum mit – und nicht gegen – Russland konzipieren. Das ist im Wesentlich die Sicht Vladimir Putins. Von seinem Vorgänger, Boris Jelzin, unterscheidet er sich darin, dass Letzterer über eine Integration nach Europa auf der Basis eines Beitritts Russlands zur NATO und EU nachdachte. Die Europa-Strategie Russlands ist legitim, entspricht genauso den nationalen Interessen, wie der Wunsch der mittel – und osteuropäischen Staaten, einschließlich der Türkei, Teil eines gemeinsamen Europas zu sein. Ich wiederhole: darin gibt es nichts Verwerfliches. Das Problem besteht allerdings darin, dass eine Verschmelzung des westlichen und östlichsten Teils des europäischen Kontinents völlig neue Institutionen erfordert.  Ein solches Großeuropa wäre auch keine liberale Wertegemeinschaft mehr, sondern eine Interessensgemeinschaft – die sich gemeinsam gegen die globalen Herausforderungen stemmen würde. Die heutigen EU-Führungseliten sind jedoch nicht gewillt, wegen Russland Institutionen wie NATO und EU aufzuweichen und den Wertediskurs einzuengen.  Und nun zu den Amerikanern. Auch die USA haben selbstverständlich das Recht auf eine eigene Europa-Strategie. Sie haben schließlich den Wohlstand und die Freiheit Europas im Zweiten Weltkrieg und Kalten Krieg erstritten. Die USA wollen, dass Europa in einer größeren Institution – der transatlantischen Gemeinschaft – integriert bleibt, wo die USA als stärkste Macht das Sagen haben.  Der Beitritt eines so großen Landes wie Russland nach Europa würde die transatlantische Gemeinschaft zersetzen und ein Kontinentaleuropa schaffen, in dem der amerikanische Einfluss merklich zurückgehen würde. Damit wäre klar definiert, warum die USA sich gegen eine von Deutschland und Frankreich alle Jahre wieder ins Spiel gebrachte Idee von einem gemeinsamen Europa mit Russland sträuben. Ob es wegen dieser Auseinandersetzungen einen Krieg in Europa geben wird? Die Kriege in Georgien (2008) und Ukraine (seit 2014) können durchaus als Vorboten dieser fatalen Entwicklung angesehen werden.

Global Review: Nachdem Putin seine Ziele nicht erreichte, die Modernisierungsgemeinschaft, die Freihandelszone, das europäsiche Haus nichts wurde, scheint Putin nun auf die Zerstörung, zumindnestens aber auf die Schwächung der EU hinzuwirken, mittels Propaganda, Finanzierung von rechtsradikalen und nationalistischen Parteien wie den Front National, der aus NATO und EU austreten möchte. Was denken Sie hat Putins Kurswechsel bewogen? Waren es die NATO- und EU-Erweiterung, die er auch in der Ukraine und Weißrußland befürchtete, waren es innenpolitische Gründe, dass er seine sinkenden Zustimmungswerte mittels außenpolitischem Nationalismus entgegenwirken wollte, zumal er in der Demokratisierung der Ukraine ein gefährliches Gegenmodell für seine autoritäre Herrschaft in Rußland sah?

Alexander Rahr:Ihre Frage erscheint mir zu suggestiv, zu einseitig formuliert. Ich bezweifele, dass Putin eine Zerstörung Europas als strategisches Ziel ins Auge gefasst hat. Die Unterstützung rechtsradikaler Parteien scheint mir eher marginal zu sein. Würde es größere Geldströme in diese Parteien hinein aus Moskau geben, hätte der Westen das längst bemerkt. Versetzen wir uns in Putins Kopf. Russland möchte mit Europa handeln und in ferner Zukunft eine sicherheitspolitische Partnerschaft ausloten. Die gegenwärtigen EU-Führungseliten, sowie die Amerikaner, wollen Russland auf Abstand halten. Die deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft hat Deutschland einseitig aufgekündigt, weil Russland den Weg zur Demokratie verlassen hat. Also versucht die Kremlführung sich mit den Kräften in Europa zu einigen, die noch nicht an der Macht sind, irgendwann einmal jedoch über größeren Einfluss in Europa verfügen könnten. Diese Kräfte suchen ja selbst den Kontakt nach Moskau. Schauen Sie: seit dem Ende des Kalten Krieges hat der Westen sich in die inneren Angelegenheiten der osteuropäischen Staaten eingemischt, seine liberale Weltanschauung über Konferenzen, Stiftungsaktivitäten, Fellowships an ausgewählte Elitevertreter, in diese Länder hineingetragen. Daran ist nichts Verwerfliches, im Gegenteil. Schauen Sie, wie Russland gierig die europäische Modernität aufgesogen hat. Vergleichen Sie das Bild der Städte in den 1990er Jahren und jetzt, blicken Sie auf die moderne russische Dienstleistungsgesellschaft, auf die Unterhaltungsindustrie, Versicherungssysteme – alles vom Westen übernommen. Jetzt macht es Russland umgekehrt, es will auch seine Vorstellungen nach Westen importieren. Es trägt eine unterschiedliche Werteauffassung in unsere Gesellschaften hinein. Wir schäumen vor Wut, nennen das Propaganda, drohen mit Verboten. Ich sehe das sportlich. Russland kommt ja nicht mit feindlichen Absichten.  Was wir brauchen, ist ein ehrlicher Dialog über den Zeitgeist von Europa, über postmoderne und christliche Werte, über gemeinsame Ziele. Nicht mit dem Kreml – sondern mit der russischen Zivilgesellschaft, die übrigens selbst Träger des konservativen Gedankenguts in Russland ist. Ohne den Versuch sich zivilisiert zu verständigen, rutschen wir immer weiter in eine Konfliktspirale hinein.  Und so behält der verstorbene Hans-Dietrich Genscher recht, als er sagte: leider brauchen Menschen immer Feindbilder.

Global Review: Wie beurteilen Sie die Rußlandpolitik Trumps? Anfangs bestand ja die Hoffnung, dass Trump mit Putin zu einem Deal über die Ukraine und Syrien kommen könnte, nun aber verschärft sich die Frontenstellung zwischen den USA und Rußland in Europa und im Nahen Osten, wie auch in den USA eine regelrechte antiruussische Hexenjagd tobt, wobei die Demokraten ja scheinbar ihr eigenes schlechtes Abschneiden bei den Wahlen nicht in eigenen Fehlern suchen, sondern nun eine Desinformationskampagne Rußlands über soziale Medien und Wikileaks vermuten.

Alexander Rahr:In einigen Jahren wird die Ära Trump von Historikern aufgearbeitet werden. Ich vermute, wir werden dann spätestens erkennen, dass der amerikanisch-russische Konflikt ein gigantischer Hype, eine grandiose Farce war. Der NSA hat amerikanische Verbündete jahrelang ausspioniert. Der CIA-Agent Edward Snowden, der die Sache aufdeckte, erhielt in Russland Asyl. Die USA standen am Pranger. Sie drehten den Spieß geschickt um. Heute sind die Abhöraktionen der Amerikaner vergessen, dafür spricht die ganze Welt von russischen Hackerangriffen. Wikileaks und ihr Gründer Julian Assange sind zu Agenten Moskaus abgestempelt worden. Am Schlimmsten für das mächtige US-Establishment ist die Tatsache, dass das amerikanische Volk – das Freiheitlichste auf Erden – den falschen Mann zum Präsidenten gewählt und die Favoritin des Establishments, Hillary Clinton, so blamiert wurde. Vieles was in Amerika jetzt gegen Russland läuft, besonders die neuen Sanktionen gegen den systemtragenden russischen Energiesektor, zielt auf blinde Rache.  Und ist Teil der amerikanischen Innenpolitik. Die US-Führungseliten haben sich gegen den eigenen Präsidenten verschworen. Die ganze Welt muss sich dieses makabre Schauspiel ansehen.

Global Review: Um aus dieser Eskalationsspirale herauszukommen, hat Heribert Prantl von der SZ eine „Neue Ostpolitik“ gefordert, jedoch nicht formuliert, wie diese aussehen sollte. Ich habe mir dazu Gedanken gemacht und halte dafür folgende wichtige Elemente für wichtig:

Neue Ostpolitik

1) Deutschland setzt sich innerhalb der EU und der NATO dafür ein, dass die Ukraine einen neutralen Status erhält vergleichbar Österreichs in der Nachklriegszeit und als Brücke zwischen Eurasischer Union und EU dient

2) Deutschland setzt sich innerhalb der EU und NATO und gegenüber der Ukaine  dafür ein, dass Russland seinen Schwarzmeerhafen auf der Krim garantiert bekommt, unabhängig von den jeweiligen ukrainischen Regierungen und im Gegensatz dazu die Annexion der Krim rückgängigmacht und die Unterstützung für die prorussischen Rebellengruppen in der Ostukraine einstellt Vorrausetzung und erster Schritt dazu: Einhaltung des Minsker Abkommens

3) Abrüstungsinitiative–Deutschland setzt sich innerhalb der EU, der UNO und der NATO dafür ein, dass sowohl Russland wie auch die NATO abrüsten, bzw. sich an die bisherigen Verträge zur konventionellen und atomaren Rüsstungsbegrenzung halten, bzw., diese neuverhandeln mit dem Ziel einer weiteren Rüstungsreduktion– mit Einbeziehung des Cyberspaces und des Weltraums

4) Wiederaufnahme der Modernisierungspartnerschaft, vor allem im wirtschaftlichen Bereich–Verhandlungen über das langfristige Ziel einer Freihandelszone oder eines gemeinsamen Marktes von Lissabon bis Wladiwostok

Können Sie dem zustimmen oder was würden Sie daran ändern?

 Alexander Rahr:Nicht nur Heribert Prantl, auch viele andere kluge Köpfe basteln an einer neuen Ostpolitik. Ich verweise da auf den hochrangig besetzten deutschen Arbeitskreis „Gemeinsamer Raum von Lissabon bis Wladiwostok“, auf die „Potsdamer Begegnungen“, welche einen Back-Channel zwischen der deutschen und russischen Regierung in schwierigen Zeiten aufbaut, auf das deutsch-russische Rohstoffforum. Dort reden wir über genau dieselben Punkte, die Sie einbringen: Festschreibung der ukrainischen Blockfreiheit oder Neutralität, Abrüstung, vor allem im Cyberspace-Bereich, Konzeption eines erweiterten Europas – wenn Sie wollen einer strategischen Partnerschaft zwischen NATO und Russland. Russland könnte, beispielsweise in die neue Sicherheitsstrategie der EU, PESCO, für gemeinsame Terrorbekämpfung, aufgenommen werden. Das sind langfristige Ziele. Kurzfristig muss der Minsker Prozess in der Ostukraine endlich umgesetzt werden. Was ist dafür besonders erforderlich? Die Stationierung einer UN-Friedenstruppe, zunächst an der Frontlinie zwischen Separatisten und ukrainischer Armee, dann, nach der Gewährung der Autonomie an den Donbass durch das ukrainische Parlament, Amnestie, Wahlen etc.  – Blauhelme im gesamten Gebiet der Aufständischen. Wenn der Minsker Prozess ins Rollen kommt, muss der Einstieg in den Ausstieg aus den Wirtschaftssanktionen erfolgen. In diesem Punkt gibt es ein Problem: die US-Sanktionen. Diese haben mit der Ukraine-Krise wenig zu tun, sondern dienen einzig und allein dem neuen erklärten Ziel der Amerikaner, den Erzrivalen geopolitisch einzudämmen und zu beschädigen. Hier muss Europa vermitteln. Aber auch Europa ist gespalten, zwischen Staaten die eine Normalisierung mit Russland wünschen und solchen, die Russland aus Europa für immer vertreiben wollen.

Global Review: General a. D. Kujat schrieb mir zu dem Entwurf einer Neuen Ostpolitik:

„Ich bin mit Ihrem Ansatz sehr einverstanden.
Ich würde allerdings eine neue deutsche Ostpolitik eingebettet sehen in eine neue Entspannungspolitik der NATO. Damit wären auch die USA eingebunden.
Deshalb habe ich die Bundeskanzlerin im vergangenen Jahr vor dem NATO-Gipfel in Warschau aufgefordert, die 50jährige Wiederkehr des Harmel-Berichts 2017 zum Anlass für eine neue Politik der NATO gegenüber Russland zu nehmen. „Sicherheit und Entspannung“ ist etwas völlig anderes als „Dialog und Abschreckung“.
Die vom Harmel-Bericht ausgelöste Entspannungspolitik hat erst die deutsche Ostpolitik ermöglicht. Ebenso den KSZE-Prozess, die konventionellen und nuklearen Abrüstungsvereinbarungen bis hin zur Beendigung des Kalten Krieges.
Aber wir betreiben ja keine aktive, gestaltende Außen- und Sicherheitspolitik. Wie die Bundeskanzlerin vor einiger Zeit bei Anne Will sagte, sie reagiere lediglich auf die Entwicklungen in der Außenpolitik“

Wie beurteilen Sie diese Modifikation?

Alexander Rahr: Ehrlich gesagt, hätte ich es mir gewünscht, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel, anstelle des nach New York abgewanderten Christoph Heusgen, einen solch erfahrenen und versierten Mann wie General a.D. Harald Kujat zu ihren außen- und sicherheitspolitischen Berater gemacht hätte. Zweifellos brauchen wir dringend eine Entspannungspolitik. Sie sollte die Grundlagen zu einem Miteinander mit Russland entwickeln: gemeinsame Sicherheit für alle – für uns, für Moskau und die kleinen Staaten dazwischen. Die gegenwärtige europäische Sicherheitsarchitektur befindet sich in einer Schieflage. Sicherlich: niemand kann den kleinen osteuropäischen Staaten verbieten, ihre Bündniszugehörigkeit selbst zu wählen. Das heißt jedoch nicht, dass die NATO solche Staaten in ihre Reihen aufnehmen muss, deren Beitritt die Sicherheitslage erschweren würde. Nehmen wir als Beispiel Israel. Der Westen, vor allem Amerika, wird immer zu Israel stehen, auch militärisch. Aber ein formeller NATO-Beitritt Israels würde unweigerlich zu schweren Erschütterungen im Nahen Osten führen und die israelische Sicherheitslage nicht wesentlich verbessern.

Global Review:Ein ehemaliger deutscher Botschafter bei der NATO, Afghanistan und Südkorea kommentierte General Kujats Vorschläge derfolgt:

„der Verweis auf den Harmel-Bericht wirkt etwas aus der Zeit gefallen und dürfte bei zahlreichen NATO-Partnern keine bzw. eher eine negative Reaktion hervorrufen. Dennoch wäre es richtig, im NATO-Rahmen (und flankierend in der OSZE) eine vergleichbare, breite Diskussion unter dem Motto „Sicherheit und Dialog“ zu initiieren.

Wichtig erscheinen mir dabei folgende Punkte:

– Das abrüstungs- und rüstungskontrollpolitische acquis der 80er Jahre muss erhalten bleiben. Leider wird es von verschiedenen Seiten in Frage gestellt.

– Der territoriale Status der Ukraine (einschließlich der Krim) darf nicht aufgrund einseitiger russ. Gewaltaktionen in Frage gestellt werden. Verhandelbar erscheinen mir allerdings Fragen, die den Status der Russisch sprechenden Bevölkerung auf der Krim und in der Ostukraine genauer regeln. Hier besteht auf der Grundlage des Minsker Abkommens m.E. erheblicher Handlungsspielraum, der in einem institutionellen Rahmen unter dem Dach der OSZE ausgelotet und ergebnisorientiert genutzt werden sollte (Minderheitenschutzabkommen wie etwa in Südtirol, Regelungen wie im Mährischen Ausgleich von 1905 etc.).

– Eine deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft (Wandel durch Kooperation) erscheint mir mittel- bis langfristig weiterhin wünschenswert, ist aber realistischerweise erst dann möglich, wenn die o.g. Punkte geklärt sind bzw. in positivem Geist verhandelt werden.

Leider sehe ich sowohl in der russischen als auch in der US-amerikanischen Führung und Öffentlichkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum Bereitschaft, die o.g. Punkte ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Die ideologischen und politischen Weichen scheinen in Richtung eines neuen Kalten Krieges gestellt zu werden. Dass ich dies für hoch problematisch halte, versteht sich eigentlich von selbst.“

Wie beurteilen Sie diesen Vorschlag oder welche eigenen Vorstellungen haben Sie?

Alexander Rahr: Was unterscheidet die heutige Zeit von der des Kalten Krieges? USA und UdSSR waren ungefähr gleich stark, respektierten sich – trotz Feindschaft, und verhandelten über Abrüstung und Entspannungspolitik, wenn auch zähneknirschend, auf gleicher Augenhöhe. Die Kuba-Krise konnte in letzter Sekunde, bevor es zu einem atomaren Waffengang gekommen wäre, durch ebenbürtige Verhandlungen beigelegt werden. Was ist das Problem heute? Der Westen nimmt Russland nicht mehr ernst: für den Westen ist Russland eine zerfallene Großmacht, ohne richtiger Wirtschaft, ohne Verbündete, ohne Wachstumschancen – eine absteigende Regionalmacht, die in der Weltpolitik nichts mehr zu sagen hat. Putin versteht den Westen jedenfalls so, was ihn empört und zu aggressiver Gegenpolitik verleitet. Wie wir das fatale vorherrschende Negativbild Russlands in der westlichen Öffentlichkeit gradebiegen können, weiß ich, ehrlich gesagt, nicht. Die Russlandexpertise hat im Westen erschreckend abgenommen, ich treffe haufenweise Menschen im Westen, die noch nie in Russland waren und dort nicht hinfahren werden. Im Kalten Krieg lebten wir in Feindschaft – aber dennoch im gegenseitigen Respekt miteinander. Hier liegt der Hund begraben, hier benötigen wir einen kategorisch anderen Ansatz. Die OSZE wäre eine Plattform, wo West und Ost einen konstruktiven Dialog, abseits der vorherrschenden Konfrontation, starten könnten. Ich plädiere natürlich auch für die Wiederkehr der Politik des „Wandel durch Handel“. Als ersten, notwendigen Schritt, sehe ich einen Kooperationsvertrag zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Letztere ist inzwischen ein Fakt, wir können sie nicht länger ignorieren. Als zweiten Schritt sehe ich die Konzeption eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes – nicht von Lissabon bis Wladiwostok – sondern von Lissabon bis Schanghai. Die chinesische Strategie der neuen Seidenstraße über Zentralasien und Russland nach Europa ist ebenso Fakt. Überlassen wir doch den Aufbau dieses Raumes nicht den Chinesen und Russen, sondern krempeln die Ärmel hoch und machen ganz einfach mit. Über gemeinsame Wirtschaftsprojekte, eine Freihandelszone, bekommen wir eine hohe Friedensdividende.

Global Review: Die Frage ist ebenso, wer eine solche Neue Ostpolitik initieren und welche politischen und ökonomischen Träger sie unterstützen würden? Hier ist ja nur an Teile der SPD, der Linkspartei, der CSU, der AfD und die FDP unter Christian Lindner zu denken, wobei aber eine Koalition sowohl politisch, wie auch arithmetisch ausgeschlossen scheint. Unter welchen Umständen wäre auch die CDU zu bewegen und ist dies unter Merkel überhaupt möglich? Zumal Merkel ja auch eher reaktiv, denn aktiv agiert. Oder wären dazu auch Kräfte in der EU zu suchen, wie etwa Frankreichs Präsident Macron, der ja auch mit EU-Initiativen recht agil is?

Alexander Rahr: Ich plädiere für ein Neues Denken in Europa. Merkels rein werteorientierter Ansatz in ihrer Außenpolitik ist gescheitert, vor allem nach Trumps Machtübernahme. Die EU kann ihre Partnerschaft gegenüber einem anderen Land nicht ausschließlich davon abhängig machen, ob dort liberale Demokratie herrscht, oder nicht. Die gute alte Interessenspolitik ist mitnichten im 20. Jahrhundert untergegangen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erinnert so manchen an den jungen De Gaulle. Sein großes Europa-Reformprojekt scheint mir ein anderes Konstrukt zu sein, als das gebetsmühlenhafte Beschwören des liberalen Zeitgeistes in der Idee der Vereinigten Staaten von Europa, wie bei SPD-Chef Martin Schulz. Auch wenn ich Gefahr laufe, mich zu wiederholen: die EU braucht einen strategischen Interessensausgleich mit anderen großen europäischen Mächten wie Russland und Türkei, wenn Sie wollen auch dem Vereinigten Königreich nach dem Brexit. In Deutschland herrscht ähnliches Denken bislang nur in der SPD, beispielsweise bei Sigmar Gabriel.

Global Review: Wäre eine derartige Neue Ostpolitik vielleicht nicht zu minimalistisch konzipiert und müsste einen mehr internationalen Ansatz haben, der dann aber im wesentlichen nur mittels der USA kommen könnte. So erlärte Rußlands Außenminister Lawrow auf der Münchner Sicherheitskonferenz:

„Manche, fährt er dann fort, würden ja glauben, der Ukraine-Konflikt müsse gelöst werden, dann werde alles wieder gut. „Es ist umgekehrt“, belehrt Lawrow das Publikum. Erst müsse wieder eine internationale Sicherheitsordnung hergestellt werden, dann folge auch die Lösung für die Ukraine.“

Putin geht es um eine neue internationale Ordnung, wie auch China—alles breit dargelegt im Papier „The New Type of Great Power Relations“ (siehe Webseite der Jamestown Foundation/China Brief/Conceptualizing “New Type Great Power Relations”: The Sino-Russian Model Publication: China Brief Volume: 14 Issue: 9) , auf das ich schon lange hinweise. Die Ukraine und Syrien ist da nur ein Unterpunkt. Lawrow hat klar gemacht: Wenn die USA und die EU nicht auf Russlands Vorstellungen einer neuen internationalen Ordnung eingehen, wird es eben einen neuen Kalten Krieg geben. Darum geht es im Kern: Eine neue internationale Sicherheitsordnung, die Russlands Sicherheitsvorstellungen nachkommt. Da aber Obama Russland zur „Regionalmacht“erklärt hat, ist dergleichen nicht in Sicht.Auch ist Mc Cains Vorschlag, die Ukraine mit Waffen zu beliefern zu wollen eskalationsfördernd und ist deswegen abzulehnen. Diesen Teilen des US-Imperialismus geht es ja gerade um eine gewollte Eskalation, um Russland in die Knie zu zwingen wie schon damals in Afghanistan, um es eben zur Regionalmacht zu degradieren, die keinen Einfluss mehr auf die internationale Sicherheitsordnung hat.Lawrow hat Merkels Friedensinitiative damit zu Makulatur erklärt und sein Addressat sind die USA, mit denen er auf Augenhöhe sprechen will. Denn eine internationale Sicherheitsordnung kann nur mit den USA und der NATO entstehen und geht über etwaige Vorschläge einer europäisch-russischen Freihandelszone deutlich hinaus. Wäre eine Neue Ostpolitik überhaupt sinnvoll ohne Rußlands Forderung nach einer neuen internationalen Sicherheitsordnung zu entsoprechen? Aber was versteht Rußland unter einer neuen internatioanlen Sicherheitsordnung? Eine UNO-Reform im Rahmen einer neuen multipolaren Welt, bei der Rußland einer der wesentliuchen Pole sein soll?

Alexander Rahr:Alle Punkte, die sie anführen, Sergei Lawrows Argumente – ihnen gibt es nichts hinzuzufügen. Nur eine völlig neue Friedensordnung kann die entstandenen Probleme, die wir in diesem Interview breit diskutiert haben, lösen. Eine solche Friedensordnung kann nur auf der Grundlage einer amerikanisch-russischen Einigung erfolgen. Die EU ist in diesen Fragen zu zerstritten oder zu schwach aufgestellt. Es sei denn, die künftigen europäischen Führungseliten begreifen den Ernst der Lage und beginnen eigenständig zu handeln. Im Ukraine-Konflikt sieht es nicht danach aus. Merkel und Macron haben die Initiative zur Friedenslösung ganz in die Hände der Amerikaner gegeben. Dass die Weltordnung sich von einer unipolaren, westlich dominierten, zu einer multipolaren entwickelt ist unbestreitbar. Amerika bleibt für ein weiteres Jahrhundert Weltmacht Nr. 1. China wird in den nächsten Jahren die zweite Supermacht, Indien die dritte. Die EU wird, um in der schwierigen Lage zu überleben, noch engere Bande mit den USA suchen. Meine Prognose ist, dass die EU noch stärker mit der transatlantischen Schicksalsgemeinschaft verschmilzt. Russland und China werden gemeinsam einen neuen eurasischen Raum begründen – wirtschaftlich und sicherheitspolitisch. Die Türkei, Indien, Zentralasien und der Iran werden sich dem anschließen. Die größte Herausforderung für die Weltgemeinschaft wird der islamische Extremismus sein – ein langer Spannungsbogen von failed states und Terrororganisationen wird sich von Marokko bis an die chinesische Grenze ziehen. Wenn wir keine gemeinsame Friedensordnung erschaffen – dafür ist es jetzt fünf vor zwölf – verwirklicht sich dieses Orwellsche Szenarium.

Global Review: Es gab ja auch schon einmal weitergehende geopolitische Entwürfe.So gab es die Charta von Paris, die einen Sicherheitsraum und ein europäisches Haus von „Vancouver bis Wladiwostok“als Initiaive von Bush/Kohl mit Unterstützung von Jelzin vorschlug, zumal dann auch unter Kohls Chefberater Teltschik der Vorschlag erfolgte, Rußland als NATO-Mitglied aufzunehmen, zumal unter Rühe und Kohl auch angedacht war eine gemeinsame europäisch-russische  Militärflugzeugproduktion aufzubauen, wie auch rußische Truppen in das NATO-Kontigen in Bosnien-Herzegowina eingebettet wurden.  Auch plädierte Brzezinski in seinem Buch „Chessboard“ für ein Transeurasian Security System (TESS), sowie die Ausweitung der OSZE zu einer OSZEA unter Einschluß Asiens, wie auch einer UNO-Reform. Gerhard Schröder forderte ja neben der Erweiterung der G-8 um Rußland auch eine G-9, um China erweitert, schien also die G7 und den Westen eurasiiseren zu wollen.Inwieweit verträgt sich dies überhaupt mit den Interessen der USA und des Westens? Sind dies nicht geopolitische, utopische Wunschträume und Luftschlösser?

Alexander Rahr: Brzezinskis Denken hat die amerikanische Politikwissenschaft über Jahre geprägt. Er war ein außergewöhnlicher Zeitzeuge. Natürlich ist die Idee einer Transeurasian Security Partnerschaft genial. Im Übrigen hätten wir sie in den 1990er Jahren, als Ost und West sich nach dem Ende des Kalten Krieges buchstäblich in den Armen lagen, mit mehr Verstand und Weitsicht durchaus errichten können. Der künftige Weltkonflikt wird ein Nord-Süd-Konflikt sein, kein Ost-West-Konflikt. Die Herausforderungen für die westliche Welt kommen aus dem Süden, nicht dem Osten. Die Neuauflage der Auseinandersetzung mit Russland ist zwei Momenten geschuldet: der Orientierung Russlands weg von westlichen liberalen Werten hin zur Idee eines „traditionellen Europa“. Das ist keine Bedrohung des Westens. Zweitens: der westlichen NATO-Osterweiterung in die alte russische Einflusssphäre hinein. Wenn Brzezinski nicht verstorben wäre, hätte ich ihn gerne gefragt, warum die Nordatlantische Verteidigungsallianz NATO nicht einfach in eine Atlantisch-Pazifische APTO umbenannt worden war. Wir würden heute in Frieden leben.   

Global Review: Zuletzt: Sie wie auch Gerhard Schröder werden ja auch aufgrund ihrer engen Rußlandkontakte, zumal auch mittels Funktionen bei Gazprom oder Rosneft  als „Putinversteher“ oder als Lobbyisten Putins kritisiert. Befürchtet wird ein „Ausverkauf deutscher Interessen“ und eine Energieabhängigkeit von Rußland, die Europa erpreßbar machen und von den USA lösen würde, wobei auch das Projekt North Stream 2 sehr umstritten ist.Dabei ist interessant, dass ähnliche Kontakte des früheren grünen Außenminister Fischers nie derart im Zentrum der Kritik stehen, der ja bei Albright Consulting sich als Transatlantiker mehr als Lobbyist für die US-gesponserte Nabuco-Pipeline stark machte, während Schröderals Eurasier eben für die North Stream-Pipelines agierte.Zudem sehen viele auch in Northstream eine Bedrohung des Ziels einer EU-Energieunion, die ja Europa von rußischen Erdöl- und Erdgaslieferungen unabhängiger machen soll.Wie beurteilen Sie die Rolle der Energielieferungen in der außenpolitischen Beziehungen zwischen Deutschland, der EU, den USA und Rußland und gibt es darüber hinaus nicht auch andere Möglichkeiten der Kooperation, die weniger umstritten wären?

Alexander Rahr: Die ganze Putinversteherei geht mir langsam auf die Nerven. Ich plädiere für einen Dialog, statt eines Monologs, wie ihn der Westen heute leider immer noch fördert. Dass ich als Berater für EU-Angelegenheiten bei Gazprom fungiere (neben meinen weiteren beruflichen Tätigkeiten als Politikwissenschaftler), sollte man als einen großen Nutzen sehen. Was ist schlecht daran, wenn russische Großunternehmen nach Europa expandieren und – wohlgemerkt – sich an die europäischen Spielregeln halten, sich dahingehend beraten lassen? Was das große Gasgeschäft angeht: wichtig ist hier die Diversifizierung. Die EU will sich nicht von russischen Gaslieferungen einseitig abhängig machen, deshalb kauft es ja inzwischen auch Flüssiggas bei den Amerikanern ein. Aber Diversifizierung bedeutet auch, dass Russland sich nicht einseitig von einem Transitland wie der Ukraine abhängig machen will. Es ist ja kein Geheimnis, dass russisches Gas, das an den Westen adressiert gewesen ist, in der Ukraine abgezweigt wurde. Deshalb ist die Ostseepipeline für mich eine logische Folge davon. Ich finde, der Markt muss die Probleme regeln. Wenn die Nabucco Pipeline, die aus den weite entfernten Steppen Zentralasiens Erdgas nach Europa bringen sollte, angesichts der fallen Gaspreise einfach zu teuer wurde, war es richtig, auf sie zu verzichten. Ich finde, wir müssen fair spielen. Es ist ein Unding, wenn Amerikaner jetzt Sanktionen gegen russische Gaslieferungen verhängen und die entstehenden Lieferpässe mit eigenen Flüssiggas füllen wollen. Nennt man sowas lauteren Wettbewerb? Mitnichten.  

 

 

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