Interview mit Alexander Rahr: „Anmaßung: Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“?“Die EU verliert ihr Monopol auf Europa“

Interview mit Alexander Rahr: „Anmaßung: Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“?“Die EU verliert ihr Monopol auf Europa“

Global Review hatte erneut die Ehre, ein Interview mit Prof. Alexander Rahr, Experte für russische Angelegenheiten, Politikwissenschaftler, Mitglied des Valdai Clubs, Berater von Gazprom für die EU und Autor des neuen Buches „ Anmaßung““,zu führen. Nach einem anfänglichen Rüffel, dass wir das Buch nicht genau gelesen hätten, gibt es am Ende dann auch wieder etwas Lob. Alexander Rahr ist Honorarprofessor am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen und Hochschule für Wirtschaft. Er studierte an der Staatlichen Universität München, arbeitete 1980-1994 für das Forschungsinstitut für Radio Free Europe, das Bundesinstitut für osteuropäische und internationale Studien. Er war Berater der RAND Corporation, USA. Von 1994 bis 2012 leitete er das Russisch / Eurasische Zentrum beim Deutschen Rat für auswärtige Beziehungen. Anschließend konsultierte er die Wintershall Holding und später Gazprom Brüssel zu europäischen Angelegenheiten. Desweiteren ist er auch als Gesprächspartner desöfteren bei Putin zu Gast gewesen. Seit 2012 ist er Programmdirektor beim Deutsch-Russischen Forum. Er ist Mitglied des Petersburger Dialogs, des Valdai Clubs, des Jalta European Strategy Network, Autor mehrerer Bücher über Russland.

Global Review: Prof. Rahr, Sie erheben, unter anderem auch in ihrem neuen Buch, recht weitreichende Vorwürfe gegen die deutsche Merkel-Regierung. Dass Russland wegen ihr das Vertrauen in Deutschland verloren hätte. Nun muss man sagen, dass aus den USA ja gerade gegenüber der deutschen Merkel- Regierung der Vorwurf kam, dass sie Georgien und die Ukraine nicht in die EU- und NATO aufnehmen wollte, Putin und seiner Aggression in die Hand gespielt hätte. Bei der Minsker Gruppe zur Ukraine bewusst die Krimfrage rausgehalten hätte, an Nordstream 2 festhält, mit Putin zu oft telefoniert. Das scheint ja mehr Goodwill seitens der deutschen Merkel-Regierung, ja würde auch unter Söder und Laschet aufrechterhalten, zumal dies andererseits als Appeasement und Naivität aus osteuropäischer und US-Sicht gesehen wird. Ist ihr Urteil da nicht höchst ungerecht und einfach falsch?

Alexander Rahr: Lesen Sie doch zunächst das Buch, bevor Sie mich kritisieren. Ich kritisiere gar nicht einmal die Merkel-Regierung für ihre Russland-Politik. Mein Buch heißt „Anmaßung. Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt“ und beschreibt die Entwicklung der deutsch- russischen Beziehungen, größtenteils aus russischer Sicht, aber zuletzt auch aus deutscher Sicht, wie aus einer Vogelperspektive. Der Leser wird auf seine Kosten kommen, wenn er erfährt, wie sich das bilaterale Verhältnis – ich gebrauche das Wort Hassliebe – über drei Jahrhunderte sich entwickelt hat. Ich selbst als Autor spreche gar nicht in dem Buch. Ich lasse andere reden: junge Russen, russische Unternehmer, russische Emigranten in Berlin, auch russische Politiker, Diplomaten, Meinungsforscher, Kulturschaffende, Geistliche. Ich habe Umfragen in Russland selbst organisiert, um das Buch authentischer zu gestalten. Das Bonbon am Schluss des Buches: eine Debatte über den Stand und Zukunft der Beziehungen zwischen einem möglichen Merkel-Nachfolger und einem möglichen Erben Putins. Mehr will ich nicht verraten, nur so viel: Die Russen sind hinsichtlich uns Deutschen stets lernbegierig, aber sie hassen es, wenn man sie mit dem erhobenen Zeigefinger zur Demokratie erziehen will. Und wir tun das oft unverfroren, oder halt anmaßend.

Global Review: Soll die deutsche Regierung zurück zu den Positionen der Schröderregierung? Russland und China in eine G9, eine „Eurasisierung“ der transatlantischen Bündnisse, in der Europa da als Mittler und eigene Kraft wirkt? Trump war für eine G 11 mit Russland, solange es sich gegen China wendet. Macron wollte da ein souveränes Europa mit der illusorischen Idee einer europäischen Armee unter der Force de Frappe und der Grand Nation, aber auch als Gegengewicht zu China. Ist Merkel-Deutschlands Position da nicht ausgeglichener oder was will Putin-Russland eigentlich? Sie meinten ja mal, dass Putin mit Trump eine neue Weltordnung beschließen wollte, aber wie sollte diese aussehen? Und nun mit einer Biden-Regierung?

Alexander Rahr: Die Frage, wie eigentlich Russland über die Welt denkt,möchte ich gerne beantworten. Darüber steht auch Einiges in meinem neuen Buch. Ich bemängele, dass wir in den westlichen Universitäten, Think Tanks und Medien Russland und seine Politik immer aus unserem Blickwinkel untersuchen und die russische Sichtweise ignorieren, oder meist missverstehen. Auch auf die Gefahr hin, dass man mich wieder als „Russland-Versteher“ und Kremlpropagandist brandmarken wird – ich bestehe darauf, dass wir uns in unseren Russland-Analysen auch in das russische Gegenüber hineinversetzen sollen. Ich sehe das nicht als schändlich an, im Gegenteil. Um konkret auf Ihre Frage zu antworten: Russland will (a) als Großmacht seine eurasische Einflusssphäre festigen, (b) dasselbe Mitspracherecht in Europa besitzen wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien, letztendlich auch wie die USA. Russland will (c) mit den Ständigen Mitgliedsstaaten im UN-Sicherheitsrat eine Weltregierung installieren, die die künftigen globalen Spielregeln bestimmt. Putin dachte, mit Xi Jinping, Trump, Macron (und ihm selbst) vier der Ständigen Mitglieder schon an Bord gehabt zu haben.

Global Review : Putin weist die unter Gorbatschow und Jelzin mit dem Westen unterzeichneten Verträge zurück. Sei es der Budapester Vertrag, der die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine garantiert, sei es die NATO- Russland-Grundakte, die auch besagt, dass die jeweiligen ökonomischen oder

militärischen Bündnisse sich auf die Post-Sowjetunion ausdehnen dürfen. Würde Putin dann auch die deutsche Wiedervereinigung und die 2 plus 4- Verträge infrage stellen? Wie weit geht der russische Revisionismus und falls man die Verträge neu verhandeln würde, welche konkreten Forderungen hätte Russland dann und wann wäre es saturiert? Und inwieweit gilt für Putin noch die Schlussakte von Helsinki, die auch die freie Wahl der Bündnisse vorsah?

Alexander Rahr: Putin steht auf dem Standpunkt, dass die Verträge, die nach dem Ende des Kalten Krieges abgeschlossen wurden, in vielerlei Hinsicht „faul“ und deshalb obsolet seien. Sie wären mehr ein Diktat des Westens gegenüber Russland, verfasst und unterschrieben in einer historischen Schwächephase Russlands. Nun aber, sagt Putin in allen seinen Reden, spiele Russland wieder in der Ersten Liga der Weltpolitik. Er will im Grunde, dass eine neue Weltregierung im UN-Sicherheitsrat die „Fehler“ der Zwischenjahr 1990-2020 „korrigiert“. Bei der NATO-Osterweiterung auf Osteuropa fühlt sich Russland heute vom Westen verschaukelt. Ich kenne keinen Russen, auch nicht im liberalen Lager, der die gewaltsame Loslösung des Kosovo von Serbien gutheißt. Warum darf der Westen das Völkerrecht brechen und Russland in der Ukraine nicht? Russland sagt: Der Westen hat uns von vorne hinein als Verlierer des Kalten Krieges behandelt. Das russische Imperium gelte es für alle Zeiten zu verhindern. Aber Russland will seine verlorene Größe unbedingt wiederhaben – und stößt unweigerlich auf geopolitische Fronten im Westen. Im Buch finden Sie eine lange Liste von „Wünschen“, die Russland an uns im Westen stellt. Das sind alles Fragen, die wir mit den Russen überhaupt nicht diskutieren wollen, weil wir sie als aberwitzig betrachten. Russland habe den Kalten Krieg verloren und solle sich den demokratischen Spielregeln fügen.

Global Review: Putin-Russland ist eine autoritäre Diktatur. Aber liegt darin nicht gerade das Problem. Putin möchte nicht so neototalitär wie die KP China sein, lässt Wahlen zu, Oppositionsgruppen, ja auch Parteien, er kontrolliert das Internet und die sozialen Medien nur begrenzt, lässt viele Freiräume für Nawalny und die Opposition zu, greift manchmal auf politische Morde zurück, aber nicht die systematische Zerschlagung oppositioneller Strukturen, sondern nur einiger Führer. In China undenkbar. Ginge es nur um Werte, müsste sich der

Westen ja viel mehr gegen China echauffieren als gegenüber Putin-Russland. Oder liegt es einfach daran, dass der liberale Westen sich gegen die neototalitäre Gorilla-Ökonomie Chinas nicht rantraut und sich lieber auf das ökonomisch viel schwächere Russland und sein weniger autoritäres System zum Ausgleich stürzt. Was ist eigentlich von der These zu halten, dass es Kräfte innerhalb der russischen Eliten und Oligarchen gibt, die Putin wegwollen und daher diese Freiräume, auch für Nawalny, versuchen zu verbreitern? Was würde eigentlich passieren, wenn Putin zurücktreten sollte und einen Nachfolger bestimmt oder ein solcher sich ernennt?

Alexander Rahr: Gute und wichtige Fragen, die Sie mir stellen. Über den Fall Nawalny, seine Folgen für das bilaterale Verhältnis und die Demokratie in Russland können Sie ausgiebig in meinem Buch lesen. Warum ist der Westen gegenüber Russland kritischer als gegenüber China? Ganz einfach: Russland liegt in Europa, China nicht. Die NATO war dazu erdacht worden, die Sowjetunion, nicht China einzudämmen. Die NATO ist jetzt zu ihrer alten Aufgabe zurückgekehrt und dämmt jetzt Russland ein. Das hat die NATO- Bürokratie ja im Kalten Krieg gelernt. Gibt es Kräfte in Russland, die Putin weghaben wollen? Sicher, aber sie sind nicht stark genug. Putin hat ein einzigartiges politisches System erschaffen, dass auf ihn persönlich gestützt und nur von ihm abhängig ist. Mit dieser Architektur hat er alle seine Vorgänger an der Spitze Russlands übertroffen. Selbst Stalin musste sich ab und zu mit dem Politbüro konsultieren. Putin braucht kein Politbüro, er regiert Russland ganz allein. Deshalb wird es schwer sein, ihn zu ersetzen. Es ist undenkbar, dass ein einzelner Politiker diese gesamte Machtfülle einfach so erben kann. Und Putin weiß um die Risken des Machtwechsels. Deswegen kann und will er sein Amt nicht räumen.

Global Review : Möglicherweise gibt es ja in der Nord Stream II Frage einen Kompromiss. Nordstream II wird zu Ende gebaut und auch in Betrieb genommen, wenn ein West-Stream für die USA auf der anderen Seite über den  Atlantik nach Westeuropa eingerichtet wird. Aber wenn dieser Streitpunkt zwischen den USA, der EU und Russland beseitigt wäre, welche Entwicklung werden dann die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland nehmen? Das Start-Abkommen will man ja verlängern, aber welche Bereiche bleiben und wo bestehen Lösungsoptionen und wo nicht?

Alexander Rahr: Oh, da kenne ich eine Menge Bereiche, wo Kooperation, ja Bündnisse möglich sind. Ich nenne Ihnen mehrere mögliche Felder der Zusammenarbeit: Green Deal, als gemeinsamer Kampf gegen Umwelt- und Klimaverschmutzung. Wiederaufbau des Mittleren Ostens, Bekämpfung des Islamismus, der vom Süden alle bedroht. Russland als Brücke zwischen Europa und Asien – das Schlüsselwort heißt Connectivity. Nicht-Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Gemeinsame Weltraumexploration. Und wenn Sie wollen: Eindämmung Chinas.

Global Review: Polen plant eine Baltic Pipe, um Osteuropa und die Ukraine mit Gas zu beliefern, zumal scheinbar auch in Konkurrenz mit Litauen. Inwieweit ist dies ein Mittel, um Polen als Regionalmacht aufzuwerten und realistisch? Wie schätzen Sie die Rolle Polens nach dem Brexit GBs ein und die des Weimarer Dreiecks?

Alexander Rahr: Ich sag es einmal ganz frech. Im Buch nehmen meineProtagonisten auch kein Blatt vor den Mund. Polen will die RolleGroßbritanniens als dritte Führungsmacht in der EU einnehmen. Polen versucht, die Ostmitteleuropäer um sich zu scharen und (a) das Weimarer Dreieck zur europäischen Regierung zu machen und (b) die Visegrader-Staatengruppe dem deutsch-französischen Machtanspruch in Europa gegenüberzustellen. Wir dürfen nicht vergessen, die Mittelosteuropäer haben sich dem Westen über die NATO und nicht die EU angeschlossen.

Global Review: Wie schätzen Sie ein, wie wird die neue Biden-Regierung Europa gegenüber Asien, vor allem Deutschland, Frankreich und Polen behandeln? In Deutschland wird es wahrscheinlich dieses Jahr zu einer neuen schwarz-grünen Regierung kommen und in Frankreich sind 2022 wieder Präsidentschaftswahlen. Welchen Einfluss denken Sie wird dies auf die von Macron geforderte europäische Souveränität und die Beziehungen zu Russland haben?

Alexander Rahr: Die Ostmitteleuropäer, dabei meine ich Polen, die Balten und Rumänien, wollen keinen gemeinsamen europäischen Raum mit Russland. Sie wollen, dass die EU in der Transatlantischen Gemeinschaft verankert wird und dort aufgeht. Eine europäische Autonomie unter deutsch-französischer Führung lehnen sie ab. Die USA wollen ein Europa von Vancouver bis Donezk, also mit der Ukraine – aber ohne Russland. Deutsche und Franzosen wollen langfristig ein gemeinsames Europa von Lissabon bis Wladiwostok. Biden wird diese Idee bestimmt vorantreiben und solange die USA die Sicherheitspolitik Europas bestimmen, wird es kein Europa mit Russland geben, niemals. Andererseits werden in Europa die Karten neu gemischt. Großbritannien ist jetzt, neben der EU ein „anderes“ Europa, die Türkei will Mitspracherecht in Europa und hält plötzlich das Erbe des Osmanischen Reiches hoch. Russland will, dass Europa von einem Konzert der stärksten Mächte regiert wird. Die EU verliert das Monopol auf Europa, was die europäischen Eliten nicht verkraften werden. Aber ich will hier nicht den Nostradamus spielen.

Global Review: Biden hat in seiner ersten Rede Russland und China als Hauptrivalen des Westens und der USA benannt, den Start-Vertrag um 5 Jahre verlängert, gleichzeitig, anders als Trump, die Wichtigkeit der NATO und der Gültigkeit des Artikel 5 betont, den Abzug von US-Truppen aus Deutschland zurückgenommen, B-2 – Bomber nach Skandinavien verlegt. Wie schätzen Sie die neue Außenpolitik der Biden-Regierung ein? Ein einfaches Reset der Obama-Regierung?

Alexander Rahr: Die vordergründige Aufgabe des neuen US-Präsidenten wird es sein, sein Volk wieder zu einen. Das wird nicht einfach, weil Trump in der Politik mitmischen wird. Ich halte Biden für politisch schwach. In den USA wird der Deep State das Ruder übernehmen. Und in der Außenpolitik die Maxime ausgeben: Um jeden Preis eine multipolare Welt verhindern, in der China und Russland den Ton angeben wollen. Eine Verschärfung der Konflikte ist sicher. China wird in seinem Wirtschaftswachstum durch Handelskriege gestoppt werden, die USA werden das jedenfalls versuchen und die Europäer indieses Great Game einschließen. Russland wird die Moralkeule der westlichen Menschenrechtspolitik zu spüren bekommen – die Biden-Administration hofft, dass man mit vereinten Kräften, die russische Oppositionsbewegung inbegriffen, Putin spätestens 2024 loswerden kann. Für die Biden-Administration, die bis 2025 und vielleicht länger an der Macht bleibt, ist das ein verführerisches, aber nicht zu verwirklichendes Ziel.

Global Review: Wie entwickeln sich die Beziehungen zwischen Russland und China, Indien und Rest-Asien? Gibt es da nennenswerte Veränderungen? Was ist mit der Drohung Putins eine Militärallianz mit China eingehen zu wollen? Stößt dies überhaupt auf chinesische Gegenliebe?

Alexander Rahr: Nein, China hat ein Militärbündnis mit Russland dementiert. China will nicht für Russland die Kastanien aus dem Feuer holen. Wenn es darum geht, der NATO ihre Grenzen aufzuzeigen, sagt China, Russland muss sich mit dem Westen selbst einigen oder streiten. Doch Putin ist anderer Auffassung. Er ist überzeugt, dass ein Militärpakt Russland-China die logische Antwort auf die westliche Offensive gegen die beiden Mächte, die Kontrahenten es Westens sind, sein wird. Ich persönlich denke, dass Putin nicht Unrecht hat. Nach Hongkong wird China, wenn es Weltmacht werden möchte, früher oder später Taiwan in sein Staatsgebiet inkorporieren. Das wird schwer, denn damit würde sich China – wie Russland mit der Krim-Annexion – gegen die gesamte Weltgemeinschaft stellen. Spätestens zu diesem Moment, wird sich Xi an die Einladung Moskaus zum Militärbündnis gegen den Westen erinnern.

Global Review: Die NATO strebt an, sich zu reformieren. Dazu gibt es ein NATO-Reform-Papier NATO 2030, das von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von Thomas De Maiziere und Wess Mitchell erarbeitet wurde, in dem als Hauptgegner Russland und China genannt werden. Annegret Krampf- Karrenbauer hat zudem mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr Zorn ein 8- seitiges Positionspapier herausgegeben, das weitgehende Reformen der Bundeswehr, die vermehrte Umorientierung auf Landesverteidigung wie auch der staatlichen Institutionen- von Nationalem Sicherheitsberater bis hin zu parlamentarischer Sicherheitswoche – vorsieht. Wie schätzen Sie, dass sich die NATO- und Bundeswehrreformen auf das Verhältnis mit Russland auswirken wird?

Alexander Rahr: Russland nimmt die Bundewehr nicht ernst. In Russland weiß man von den technischen und operativen Schwierigkeiten innerhalb der deutschen Truppe. Das NATO-Papier wird dagegen studiert. Die Russen nehmen die USA bitterernst. Die Antwort darauf wird eine Intensivierung der russisch-chinesischen Manöver sein, und Versuche, die Türkei an die Eurasische Union zu binden und aus der NATO zu locken, werden massiv zunehmen. Gleichzeitig wird Putin immer offen für eine Rückkehr zur ebenbürtigen Kooperation mit der NATO sein, die es ja vor der NATO-Erweiterung in den Nullerjahren gab.

Global Review : Putin scheint am Ressource-Empire festzuhalten, während die EU und nun die Biden-Regierung einen neuen New Green Deal und eine klimaneutrale EU 2060 will. Zumal wird es wahrscheinlich eine schwarz-grüne Regierung nach den Bundestagswahlen 2021 geben. Während Europa kein Erdöl und Erdgas mit Ausnahme Großbritanniens und Norwegens hat, sind die USA die führende Fracking- und Öl- und Gasexportnation geworden. Sind da

möglicherweise die US- Interessen trotz aller verbalen Bekenntnisse der Biden- Administration zu erneuerbaren Energien und einem New Green Deal mit Russland und der OPEC näher als mit der EU?

Alexander Rahr: Zunächst einmal: Sie wiederholen schon zum zweiten Mal, dass Sie im Herbst mit einer neuen schwarz-grünen Regierung rechnen. Ich dagegen rechne mit einer Ampelkoalition: CDU/CSU-SPD-FDP. Zwischen CDU und Grüne gibt es einfach viel zu große Unterschiede. Die Grünen werden vielleicht die zweitstärkste Partei werden, aber es wird für eine andere Regierungskoalition reichen. Die SPD-Spitzen sind verdächtig still in der Frage der Regierungsbeteiligung nach den Bundestagswahlen. Ein Green Deal zwischen den großen Ländern USA-Russland und China ist zielführender als die großen klimaneutralen Versprechungen der EU. Die EU kann allein den Klima- und Umweltschutz nicht stemmen. Nur wenn die „Großen“ die Initiative übernehmen, kann die Welt langfristig vor der gefährlichen Erwärmung gerettet werden.

Global Review: Liberale Regime-change-Befürworter sagen: Alles wird besser ohne Putin. Momentan ist die Hoffnung, dass Nawalny es richten wird. Dennoch sind die Einschätzungen im Westen bezüglich Nawalnys Rolle unterschiedlich. Die einen sehen ihn als neuen russischen Präsidenten, gestehen aber zu anderen ein, dass er in seinen politischen Positionen von ultranationalistisch bis demokratisch alles war. Der chinesische Oppositionelle Wang Dan preist in Jimmy Lais Hongkonger Oppositionszeitung The Apple Daily Nawalny für seine politische Bandbreite, die von ganz links bis ganz rechts alles einbeziehe, damit eine Massenbewegung erzeugen könne neueste Medien und Technologien nutze und ein Musterbeispiel sein könne, wie man die KP China stürzen könne. Keiner weiß aber so genau, was Nawalny will. Die deutschen Korrespondenten wie Ina Ruck und der Ex- ZEIT-Redakteur Theo Sommer beschreiben Nawalny bestenfalls als „demokratischen Nationalisten“. Andere meinen, er habe nur eine „Eisbrecher“-Funktion, sammele also Kräfte von allen Seiten und schlage die Bresche gegen Putin, ohne dass er der Führer bleibt oder gar Präsident wird, sondern da eine Eigendynamik der Opposition einen Weg bereitet, von der keiner weiß, welche Kraft sich letztendlich durchsetzen wird. Selbst Boris Reitschuster, exponiertester Putin-Kritiker in Deutschland, weist darauf hin, dass die russische Opposition recht wenig liberal-demokratische Kräfte hätte, sondern sehr viele Nationalisten und rechtsextreme Anhänger. Es fällt auch auf, dass die westliche Berichterstattung nur die urbanen jugendlichen Anhänger Nawalnys und alteingesessenen Russendemokraten zitiert, gleichzeitig aber auch Schirinowskis Leute, wie den abgesetzten Gouverneur oder durchgeknallte Schamanen wie die grüne taz als echte Optionen ernsthaft diskutiert, zumal Nawalny nun eine landesweite Bewegung initiiert hat. Wie wird Putin darauf reagieren? Hin zum Neototalitarismus ala China, Repression, politische und ökonomische Reformen, Ausbürgerung oder Ermordung von Nawalny?

Alexander Rahr: Da bin ich schier überfragt. Entschuldigung, dass ich immer auf mein Buch zurückkomme. Ich bin kein Angeber. Aber im Buch beschreibe ich den Fall Nawalny auch aus der Perspektive des russischen Mainstreams, der hierzulande niemanden interessiert. Nawalny hat eine elektorale Unterstützung von 4-5 Prozent in Russland. Schirinowski und der Kommunist Sjuganow haben vielmehr. Putin führt die Liste der Spitzenpolitiker mit 35 Prozent an. In Russland glaubt das Volk, dass der Fall Nawalny eine Provokation des Westens gegen Russland ist. Man klammert im eigenen Denken die Vergiftung Nawalnys völlig aus, als ob es sie nicht gegeben hat. Man sieht in seinen investigativen Filmen gegen den FSB und über das vermeintliche Putin-Schloss plumpe Versuche des Westens, Russland zu schwächen. Sie sagen ja selbst, dass Russland eher nationalistisch gesinnt ist als demokratisch. Viele im Westen reiben sich ungläubig die Augen: man dachte, das russische Volk würde jetzt für Nawalny demonstrieren. Stattdessen werfen ihm große Teile der patriotisch- gesinnten Eliten Volksverrat vor, weil er mit westlichen Geheimdiensten gegen Putin kooperiere. Für eine Demokratie wie im Westen gibt es im heutigen Russland keine Mehrheiten. Wir im Westen fassen uns da an den Kopf und glauben diesen Umfragen aus Russland nicht. Trotzdem sind sie wahr.

Global Review : Gerne zitieren Sie immer zwei wesentliche Punkte, bei der Änderung der deutsch-russischen Beziehungen. Zum einen die Kündigung der Modernisierungspartnerschaft, zum anderen den Pussy Riot- Moment, als Merkel und die russischen Vertreter sich trafen und Merkel Pussy Riot zum Thema machte, was für Perplexität der russischen Gegenseite sorgte, da sie nicht erwartet hätten, dass eine marginale, unbedeutende Punkband ein ernsthafter Tagespunkt für geopolitische Konsultationen sein könne. Sie haben aber nicht dargestellt, warum die Modernisierungspartnerschaft scheiterte, sondern nur wer eventuell dafür verantwortlich gemacht werden könne: die Grünen. Aber was beinhaltete die Modernisierungspartnerschaft? Schröder dürfte da vor allem an ökonomische Modernisierung Russlands gedacht haben, vielleicht noch mit Rechtsstaatsdialog. Menschenrechte und Demokratie für den „lupenreinen Demokraten“ Putin da nicht mal gefordert, sondern schon bewilligt. Lag es daran, dass Putin weder eine Demokratisierung will noch eine ökonomische Modernisierung anstrebt? Weil auf ein Ressourcen-Empire setzt und andere Industrien von IT- bis Dienstleistungen gar nicht möchte?

Alexander Rahr: Sie sollten schleunigst mal nach Russland fahren. Und nicht die täglichen Medienberichte hierzulande lesen, die alle fälschlicherweise berichten, die russische Wirtschaft würde bald einkrachen. Der Westen hat Russland nie verstanden und nie verstehen wollen. Heute ist Russland in Sachen Digitalisierung Deutschland weit voraus. Eine ökonomische Modernisierung ist im Gange, aber ohne Demokratie, liberale Werte, Menschenrechte und Rechtssicherheit. Das Staatsbudget wird heute nur noch zu 49 Prozent vom Verkauf von fossilen Energiestoffen aufgefüllt. Russland entwickelt sich zu einem Land mit einem hochentwickelten Dienstleistungssektor. Das eigentliche Problem ist der fehlende Mittelstand, der in Deutschland das Gerüst für die Wirtschaft darstellt. Russland braucht die Modernisierung aus dem Westen, die mit Demokratietransfer einhergeht, nicht. Auch in Sachen Modernisierungspartnerschaft orientiert sich Russland heute Richtung Asien. Die Russen haben erkannt. Die Musik spielt heute in Asien, nicht in Europa. Die asiatischen Industriemotoren heulen auf, nach dem Ende der Pandemie wird Asien gegenüber der EU noch stärker sein. In Russland ist überall der Lockdown aufgehoben, in den Medien werden die Menschen beruhigt, und nicht – wie in Westeuropa – noch ängstlicher bezüglich der Virusansteckung gemacht.

Sputnik V scheint der beste Impfstoff der Welt zu werden, in Deutschland versagen die staatlichen Behörden beim Impfen, Produktion der Vaccine, bei Maskenbeschaffungen und bei Schnelltests. Hier sieht jedermann den Unterschied, niemand kann mir, wenn ich das sage, vorwerfen, ich betreibe Propaganda für Russland. Russland will sich wirtschaftlich nach Asien, nicht nach Europa integrieren. Aber mit Europa brechen will Putin keinesfalls. Ich denke, er wartet auf Veränderungen in der EU.

Global Review: Zwischendurch eine persönliche Frage. Was hat es mit der Bellingcat-Ableger The Insiderstory über Baron von Bossner auf sich, der Leseveranstaltungen mit Ihnen über seine russisch-orthodoxe Philantropen- Gesellschaft abgehalten haben soll, und angeblich ein FSB-Agent Lawrows und Putins ist, der Kokainschmuggel organisiere wie auch andere zwielichtige Geheimdienstgeschäfte. Auf dem Foto sind Sie und Sarah Wagenknecht mit Baron von Bossner zu sehen. Mal abgesehen davon, dass die USA und die CIA wahrscheinlich ähnliche Gesellen wie einen Baron von Bossner auf ihrer Payroll haben, was ist ihre Erklärung?

Alexander Rahr : Der Baron ist ein bekannter russischer Mäzen in Deutschland. Googeln Sie ihn – da finden sich alle Informationen über ihn. Fotos mit viel wichtigeren Politikern als Wagenknecht oder meine Wenigkeit. Er sponsort Kirchen, den Wiener Ball in Berlin und andere Fest- und Clubveranstaltungen in Berlin. Alles koscher. Er handelt nicht mit Drogen, sondern ist ein ehrenwerter Unternehmer, der sich auf die Produktion von Zigarren und Cognac konzentriert. Ich traf ihn öfters vor Corona auf Berliner Partys. Er lud mich mal ein, meinen Politroman „2054“ einem breiteren Publikum vorzustellen. Dass Bellingcat und seine Ableger auch Fake News produzieren, ist nun wirklich nichts Außergewöhnliches und sollte auch Sie nicht überraschen.

Global Review: Wie stehen die Chancen für eine ökologische Zusammenarbeit der EU mit Russland von der Aufforstung der sibirischen Wälder, Entwicklung sanften Datscha-Tourismus, Umstellung auf Methanol- und Hydrotechnologie, Unterstützung vonZusammenarbeit mit russischen Start-ups und Firmen in den Bereichen Green und smart Cities, nachhaltige landwirtschaftliche Kooperation inklusive der Erwägung von Kunstfleisch und einem Schutzabkommen für die Arktis? Ist ein New Green Deal zwischen Russland und der EU sowie mit anderen Großmächten und Staaten möglich?

Alexander Rahr: Die Antwort auf diese Fragen lautet eindeutig Ja. Ich denke, Organisationen wie der Club of Rome, der sich um Zukunftsfragen kümmert, aber auch andere Institutionen und NGOs sollten ein brauchbares Konzept erarbeiten, wie man einen gemeinsamen grünen ökologischen und irgendwann einmal klimaneutralen Raum von Lissabon bis Wladiwostok schafft. Ein solches Konzept, das auch eine Wasserstoffkooperation statt einer Gasallianz einschließt, wird Begeisterung auslösen. Russlands Wälder und Steppen sind für uns noch wichtiger als die Amazonas Wälder in Amerika. Ich frage mich allen Ernstes, warum Politiker hierzulande nicht auf die Idee eines Green Deals mit Russland kommen. Die Grünen sind in ihrer Russland-Ablehnung leider viel zu verbohrt. Der CDU-Vorsitzende Armin Laschet, sollte er einmal Merkels Nachfolger werden, würde sich – da bin ich sicher – dieser Problematik sofort annehmen.

Global Review : Putin hat Trump, den Front National und die AfD und andere rechtsradikale Parteien und Agitatoren im Westen unterstützt. Dennoch war dies sehr inoffiziell und eher geheim. Nun hat aber Lawrow die AfD offiziell in den Kreml eingeladen und nicht die sonstigen prorussischen Unterstützer in Deutschland wie die Linkspartei oder Gysi oder eine Schwesig oder Platzeck, sondern Neofaschisten. Putin bemüht immer wieder den Zweiten Weltkrieg, ehrt die Verdienste dieser Veteranen und beschmutzt sie im selben Zug, wenn er deutsche Neofaschisten und Verharmloser von Hitlers Reich einlädt. Soll demnächst ein Nazi-Höcke auf der Ehrengallerie am Roten Platz zu den Feierlichkeiten für den Großen antifaschistischen Vaterlandskrieg stehen? Es scheint nur noch darum zu gehen, keine realpolitischen Lösungen zwischen einem liberalen Westen und einem semiautoritären Putin-Russland einzuleiten, sondern nur noch um Regime Change und Unterstützung noch der radikalsten, vielleicht auch faschistischen Kräfte. Was sagen Sie zu Lawrow und Putin?

Alexander Rahr: Ich habe in Russland nachgefragt, was es mit der Einladung an die AfD auf sich hatte. Ich erhielt eine gepfefferte Antwort: Ihr in Deutschland unterstützt Nawalny, einen Gegner des Kremls. Ihr wollt ein Regime Change über ihn erzwingen. Wir Russen halten euch jetzt den Spiegel vor und sprechen mit euerer wichtigsten Opposition – der AfD. Ist euch das unangenehm? Dann seht ihr, wie wir fühlen, wenn ihr mit Nawalny Politik macht. Putin selbst hat nicht mit der AfD zu tun, trifft sich nicht mit ihr und finanziert sie auch nicht. Lawrow sagt immer wieder, dass Russland Teil Europas ist. Russland lasse sich nicht aus Europa vertreiben. Wenn die liberalen Führungseliten in der EU Russland die kalte Schulter zeigen, kooperiert Moskau in Zukunft mit den Ländern, Nationen und politischen Kräften in Europa, die ein  freundschaftliches Verhältnis zu Russland pflegen wollen. Ich erwarte demnächst eine Einladung Lawrows an die Linke. Moskau wird schon auf die richtige Balance achten müssen, wenn es mit Oppositionellen in Deutschland zusammenarbeiten will. Trotzdem bleibt die SPD mit ihrer Tradition der Ostpolitik der konstruktivste und liebste Partner der russischen Führung und Bürgergesellschaft. Ich denke, Russland würde sich über einen Bundeskanzler Olaf Scholz ungemein freuen. CDU und Grüne sind in Bezug auf Russland zu fundamentalistisch eingestellt. Die FDP hat das Erbe Genschers, der ein Freund Russlands war, dummerweise verspielt.

Global Review: In den USA herrscht nun eine Debatte, ob die USA mehr Engagement, Competition oder Containment gegenüber China machen sollen. Engagement ist out. Die Gewichtungen sind jedoch unterschiedlich. Biden scheint wieder mehr gegen Russland zu mobilisieren als bezüglich China wieder Rücksicht zu nehmen. Die Trumpisten und die Republikaner sind sich da nicht einig. Trump sah vor allem China und Iran als Hauptfeind, Russland und Nordkorea als zu überzeugende Partner, während Mike Pompeo gegen alle 4 mehr trommelte wie in der National Security Strategy (NSS), auch Russland.

Bei der letzten Cyberattacke auf die USA war bezeichnend, dass Trump China dahinter vermutete, während Mike Pompeo Russland dahinter sah. Nun ist beim Atlantic Council ein Papier in der Tradition von George Kennans Containment aufgetaucht „The Longer Telegramm“, das scheinbar die Positionen von Trump und Pompeo in eine neue Synthese bringen soll. Zum einen Multilateralismus und Bündnisse mit NATO, EU, Quad, etc., zum anderen in Trumps Vision eine Kooperation mit Putin-Russland- „whether we like it or not“-, um China zu bekämpfen. Aber wer könnte neben Trump und Pompeo solch einen außenpolitischen Konsens innerhalb der Republikaner zusammenbringen, zumal der Freihandel noch gar nicht diskutiert wird, wenn er nicht erfunden wird? Wie sieht Putin und Russland das Longer Telegramm? Setzt Putin darauf, Trump 2024 wieder reinzubekommen, um einen Pompeo zu verhindern oder ändert der Kreml seine außenpolitische Linie mehr zu einem pragmatischen Kurs, der zwischen Biden und der nächsten Wahl eines Republikaner-US- Präsidentschaftskandidaten abwartet?

Alexander Rahr: Es ist, gelinde gesagt, viel zu früh, darüber zu spekulieren, wie die Beziehungen zwischen Russland und den USA in vier Jahren sein werden, wenn in den USA und in Russland neue Präsidenten gewählt werden. Sie wollen von mir die russische Sicht hören, richtig? Nur will ich dafür medial nicht verprügelt werden, wenn ich Überbringer schlechter Nachrichten bin. Ich will nicht Russland nach dem Mund reden, oder Deutschland ständig kritisieren. Dass die FAZ mir vorwirft, mein Ruf in Deutschland sei beschädigt, weil icheine Nähe zu Putin besitze, ist absurd. Das Gegenteil müsste der Fall sein. Deutschland sollte froh sein, Staatsbürger zu haben, die sich in den Angelegenheiten der Nachbarländer grundlegend auskennen. Ich trete für eine Normalisierung der bilateralen Beziehungen ein und kritisiere, dass jemand von außen ständig versucht, die historisch gewachsenen Beziehungen zwischen Moskau und Berlin in Frage zu stellen. Was also will Russland? Ganz einfach: Respekt. Respekt für russische nationale Interessen – vor allem von den USA, aber auch von der EU. Die russischen globalen Interessen habe ich am Anfang unsereshochinteressanten Interviews skizziert. Ich sollte sie nicht wiederholen, um den Leser nicht zu ermatten. Abschließend muss ich aber gestehen, dass sich die Beziehungen nicht verbessern werden. Russland wird von uns verlangen, die Krim als Teil Russlands zu akzeptieren. Wir werden das aber nicht tun. Dennoch glaube ich, dass sich mit der Zeit das Krim-Problem verflüchtigt, so wie Nord- Zypern, von der Türkei besetzt, heute keinen Zankapfel mehr in der internationalen Politik darstellt.

Global Review: Wie beurteilen Sie die Entwicklung im Greater Middle East? Wo sind Russlands Schwerpunkte und was versucht es in diesem Krisenbogen zu erreichen, speziell auch in Bezug auf die Türkei, Iran, Israel und Saudi- Arabien?

Alexander Rahr: Ganz einfach, Russland will als Weltmacht bei der Neuordnung des Mittleren Ostens mitspielen. Russland sieht, dass der US- Einfluss auf die Region zurückgeht und der Mittlere und Nahe Osten gegen Mitte unseres Jahrhunderts unter chinesischen Einfluss kommt. Russland bietet dem Westen heute an, die neue Weltordnung gemeinsam zu kreieren. Sollte der Westen Russland diese Bitte abschlagen, wird sich Moskau immer stärker an China anlehnen, um als Partner der Chinesen die Zukunft der Weltpolitik zu bestimmen – in einer multipolaren Welt. Die Türkei will Russland in die Eurasische Union locken. Mit dem Iran bleibt Moskau eng verbunden. Saudi- Arabien ist Russlands wichtigster Partner in der neuen OPEC+1. Mit Israel hat Russland beste Beziehungen. Ein Drittel der israelischen Bevölkerung besteht aus ehemaligen Sowjetbürgern oder ihren Nachfahren.

Global Review: Putin umwirbt zunehmend Pakistan, wie sich umgekehrt Pakistan auch mehr als Vermittler zwischen den USA, Indien, China und Russland im Great Game um die Seidenstraße gebärdet. In Pakistan wurden auch gemeinsame Manöver zwischen US-, chinesischen- russischen und NATO- Staaten abgehalten? Inwieweit beeinflusst das die indisch-russischen Beziehungen?

Alexander Rahr: Was die russisch-indischen Beziehungen angeht, verweise ich auf unseren gemeinsamen russischen Freund und Politikwissenschaftler Vladimir Kulikow in Moskau. Er glaubt, Russland würde sich in asiatischen Allianzen weitaus wohler fühlen als im Beziehungsgeflecht ständiger Konflikte mit seinen europäischen Nachbarn. In Asien wird Politik derzeit wesentlich weniger ideologisch gemacht, was früher anders war. Indien spielt für die asiatische Sicherheits- und Wirtschaftspolitik den Stabilitätsanker. Moskau wirdalles tun, um die Schanghai Organisation für Zusammenarbeit zum Nukleus einer asiatischen Ordnung zu machen. Mitgliedsstaaten wie China, Indien, Pakistan werden mit Russland und den zentralasiatischen Ländern zusammengeschweißt. Der Westen übersieht hier eine historische Entwicklung. Erlauben Sie mir zum Schluss, Global Review ein Kompliment zu machen. Durch die Veröffentlichung wichtiger Interviews mit Persönlichkeiten wie Gregor Gysi, Jürgen Todenhöfer, General Klaus Naumann und anderen Analysen leistet Global Review einen wichtigeren Beitrag zur außenpolitischen Debatte in Deutschland als zahlreiche Think Tanks hierzulande, die immer nur Mainstreampolitiker zu Worte kommen lassen.

Kommentar Global Review:

Dr. Rahr steht Putin sehr nahe und wurde auch schon ein paar Mal zum Essen mit ihm eingeladen. Man muss jedoch bedenken, dass Teile unseres Interviews Kreml-Propaganda sind, während andere Teile ein Einblick und ein Rückkanal sein könnten, um dies herauszufinden , was Putin und die Russen sich vorstellen und wollen.

Soweit ich es bisher verstanden habe,sollte man das Interview und das Buch unter zwei Aspekten untersuchen:

1)Kremlpropaganda,die die Schwächen Russlands vergessen machen und es stark erscheinen lassen will.Indizien:Putins angebliche Stalinstärke, Sputnik bestes Serum der Welt,Kommende SCO trotz indisch-chinesischen Konflikt und Quad,Beurteilung der russischen Wirtschaft.

2)Wunschvorstellungen und Forderungen Putins:Neue Weltregierung,Revision der Zeit von 1990 bis Nachfolgezeit,Wunschliste im Buch.Sind dasPutins Forderungen,sind sie nicht wishful thinking.Inwieweit kann der Westen darauf eingehen? In diesem Falle: Spekuliert Putin wegen eigener Schwäche auf einen Taiwan-Konflikt,der eine sino-russische Militärallianz ermöglicht,um sich noch irgendwie zu retten.

Aber die wichtigste Frage:Bleibt Putin angesichts russischer Schwäche noch ein rationaler Akteur oder flieht er nicht in eine irrationale Mythenwelt oder ist das gespielt,um bedrohlicher zu wirken und dadurch eine Einschüchterung des Westens zu erzielen wie es damals Reagan gegenüber der Sowjetunion mit seinem “Reich des Bösen” und seinen Atomkriegswitzen gemacht hat?

Neben den revisionisschen Forderungen, den Drohgebärden und der Betonung von Russlands vermeintlicher Stärke, sind aber auch konstrukttive Töne zu vernehmen, falls der Westen die Krimfrage in Zukunft so nebensächlich behandeln wird wie die Zypernfrage und sein regime change- Verhalten ändert. Dann könnten auch folgende Perspektiven möglich sein:

Alexander Rahr: „Oh, da kenne ich eine Menge Bereiche, wo Kooperation, ja Bündnisse möglich sind. Ich nenne Ihnen mehrere mögliche Felder der Zusammenarbeit: Green Deal, als gemeinsamer Kampf gegen Umwelt- und Klimaverschmutzung. Wiederaufbau des Mittleren Ostens, Bekämpfung des Islamismus, der vom Süden alle bedroht. Russland als Brücke zwischen Europa und Asien – das Schlüsselwort heißt Connectivity. Nicht-Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Gemeinsame Weltraumexploration. Und wenn Sie wollen: Eindämmung Chinas.“

Ob diese Lockangebote ernst gemeint sind oder nur ein Appeasement in Europa fördern sollen, dass Putin dann für eine Revision der Einflusssphäre Europa nutzt, bleibt dahingestellt. Jedenfalls sind sich da auch Topstratgen in den USA nicht sicher: Zumindest gibt es zwei Fraktionen in der US-Regierung, dem Pentagon und dem US-Militär. Eine Fraktion betrachtet Russland und China als die wichtigsten Feinde, gegen die man gleichzeitig kämpfen muss, während die andere Fraktion China für den Hauptfeind, Hauptkonkurrenten und Rivalen hält, während Russland nicht so wichtig und mehr vergleichbar mit Nordkorea, dem Iran und dem Islamischen Staat wäre wie General Milley oder General Berger, der die russische Bedrohung herabstufen will, oder dem Längeren Telegramm des Atlantic Council, der sogar über eine umfassende und nicht selektive Zusammenarbeit mit Russland nachdenkt, um China einzudämmen – „ob wir mögen es oder nicht “. Ähnlich wie Trump zuvor, der eine anti-chinesische G 11 vorangetrieben hat, was ein illusionärer Ansatz war. Ebenso glaubt John Mearsheimer, Vordenker des „offensiven Realismus“, dass Russland mittel- und langfristig eine umfassende Kooperation, wenn nicht gar Allianz mit den USA und dem Westen eingehen wird, da China zu mächtig werde, Russland sich bedroht fühle und nicht eine Kolonie und Rohstoffanhängsel Chinas werden wolle-vorausgesetzt auch der Westen verhält sich in einer Weise, dass Russland das Lager wechseln kann. Wie auch immer, es ist jedoch auch Sache Moskaus, Signale zu geben, dass es an weniger angespannten Beziehungen interessiert ist.

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