General a. D. Klaus Naumann: Vom Scherbenhaufen zur Zeitenwende – Perspektiven europäischer Sicherheitspolitik

General a. D. Klaus Naumann: Vom Scherbenhaufen zur Zeitenwende – Perspektiven europäischer Sicherheitspolitik

                                                  

Festansprache aus Anlass 70 Jahre GSP am 5.10. 2022 in München

Es gilt das gesprochene Wort                     Sperrfrist 05.10.2022, 2000 Uhr

Ich danke für die Einladung bei dieser Festveranstaltung zu Ihnen sprechen zu können.

 Ich habe in meinen 41 Jahren als aktiver Soldat und in einer durchaus bewegten Zeit nach meiner Pensionierung das Wirken der GSP an verschiedenen Stellen erlebt, gelegentlich auch dazu beigetragen. Gerne nutze ich die Gelegenheit, der GSP für ihr unermüdliches Eintreten für eine wehrhafte Demokratie und für eine von unserer Bevölkerung geachtete und gestützte Bundeswehr zu danken. 

Einer Ihrer Gründerväter, Ewald Heinrich von Kleist, sagte im Rückblick als Begründung für die Arbeit Ihrer Gesellschaft vor siebzig Jahren: 

„In der Annahme, dass Deutschland in absehbarer Zeit aufgefordert werden würde, einen eigenen militärischen Beitrag zu leisten, wollten die Gründerväter“, der damals GfW genannten GSP, „aktiv daran mitwirken, Fehlentwicklungen der Vergangenheit zu vermeiden und die Neugestaltung der Streitkräfte den Erfordernissen des neuen demokratischen Systems in Deutschland anzupassen“.

Im Blick auf die Gegenwart mit ihrem Ringen in unserer Gesellschaft, den Herausforderungen einer globalen Zeitenwende zu begegnen, könnte man so, leicht abgewandelt, fast ein Motto für die GSP heute formulieren. Dieser Zielsetzung folgend freue ich mich, als gebürtiger Münchner, also einziger Bayer, der jemals ranghöchster Soldat der Bundeswehr und auch der NATO wurde, hier in der Herzkammer des demokratisch verfassten Freistaats Bayern heute zu Ihnen zum Thema: 

„Vom Scherbenhaufen zur Zeitenwende – Perspektiven europäischer Sicherheitspolitik“

sprechen zu können.

Ich werde wie folgt vorgehen: 

Ein kurzer Rückblick auf die deutsche Russland- und Sicherheitspolitik seit Ende des kalten Krieges und damit eine Antwort auf die Frage: Hat der Westen alles falsch gemacht, also Putin zum Handeln gezwungen?  Es folgt die kurze Beurteilung der Lage in der Ukraine. Sodann will ich skizzieren, welche Herausforderungen kurz- bis mittelfristig zu bewältigen sind und was die fernere Zukunft bringen könnte. Als Schluss will ich aufzeigen, was diese schwere Krise für unsere Gesellschaft, ja für Europa und den Weg in eine zugegeben raue Wirklichkeit bedeutet.

Der Blick zurück

Wir haben in den letzten Jahren eine Reihe von Wendepunkten passiert, die alle grundlegenden Veränderungen andeuteten, doch zum Zivilisationsbruch kam es erst mit Putins Angriffskrieg in der Ukraine ab dem 24. Februar dieses Jahres.

Ich habe bei der Gestaltung des Übergangs vom Kalten Krieg zu einer europäischen Sicherheitsordnung ein wenig mitwirken können und habe aufrichtig gehofft, man könne ein Europa gestalten, in dem Krieg und gewaltsame Veränderung von Grenzen durch Verträge dauerhaft gebannt werden können und in dem die Souveränität der Staaten respektiert wird. Diese Hoffnung ruhte auf der Schlussakte von Helsinki und Vereinbarungen wie der Charta von Paris 1990 und der NATO Russland Akte, mit der Russland die NATO-Erweiterung hinnahm und dafür Zugeständnisse erhielt.

Die Hoffnung, so eine Zone von Sicherheit und Frieden von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen war keine Fiktion und die Entspannungspolitik auf der Grundlage des Harmel-Ansatzes der NATO war kein Fehler. Sie hat ganz Europa das Ende des Kalten Krieges, den Deutschen die staatliche Einheit und der Welt den Zerfall des von einer aggressiven Sowjetunion geführten Warschauer Paktes gebracht. Diese Politik war eine Erfolgsgeschichte, aber sie hat Rückschläge niemals ausgeschlossen. Deshalb habe ich stets gefordert, dann auch ab 1996 in der NATO, dass Sicherheit vor Russland, nicht Sicherheit gegen Russland, durch gesicherte Verteidigungsfähigkeit zu erreichen ist. Das war und ist der Schlüssel zu Stabilität mit Russland. Sicherheit wurde deshalb bis 1999 trotz großzügiger Friedensdividende nicht vernachlässigt. Wir haben also in der Epochenwende Ende des Kalten Krieges nicht alles falsch gemacht, vor allem Russland niemals gedemütigt, keinen Grund geboten, Nachbarn wie Georgien oder die Ukraine anzugreifen, aber wir blieben vorsichtig.

Nach 1999 aber haben es alle mit der Friedensdividende übertrieben, auch die USA. Doch Deutschland hat nicht nur übertrieben, sondern in hohem Maße leichtfertig gehandelt. Die Bundeswehr wurde in einer sträflichen Weise abgebaut, sogar Kämpfen aus dem Aufgabenkatalog der Soldaten gestrichen. Als die Bundeswehr in Afghanistan kämpfen musste, dies wieder lernte und sich im Kampf bewährte, erkannte man die Mängel und leitete mit der Trendwende 2016 den Wiederaufbau ein, politisch, aber halbherzig und ohne Nachdruck der Kanzlerin und gegen gewichtige Stimmen der heutigen Kanzlerpartei. Zusätzlich, und vor allem, hat sich Deutschland in unglaublicher Weise in strategische Abhängigkeiten von Russland und China begeben. Ein Anteil von 55% Gas aus russischen Quellen ist ein Beleg des Fehlens jeglichen strategischen Denkens. Wirtschaftliches Wachstum und Wohlergehen der Wahlbürger hatten Vorrang, dem meist kurzfristigen Gewinnstreben der Wirtschaft wurde freier Lauf gelassen. Am schlimmsten jedoch war das Einlullen der Bevölkerung mit der irrigen und historisch widerlegten Hoffnung, alle Krisen und Konflikte könnten friedlich gelöst werden. In internationalen Gremien gab es in Krisen immer nur eine stereotype, stets falsche deutsche Antwort: Es gibt keine militärische Lösung. Man glaubte Gegen alle Warnungen auch im Umgang mit Autokraten an das Prinzip Wandel durch Handel, übersah deren gegensätzliche strategischen Ziele und vermied Kontroversen und kritischen Dialog. Deutschland wurde so zum unsicheren Kantonisten in NATO und EU, der einst große Einfluss wurde verspielt.

Weckruf Ukraine

Das Glashaus, in dem die deutschen Trittbrettfahrer so behaglich und scheinbar sicher saßen, zerbrach mit den ersten Bomben in der Ukraine. Nun merkten endlich auch die Traumtänzer, dass Putin eine neue europäische Sicherheitsordnung will, dass er schon 2001 in seiner umjubelten Rede im Deutschen Bundestag die Trennung Europas von Nord Amerika gefordert hatte, dass er seit Georgien 2008 gewaltsame Veränderung von Grenzen niemals ausgeschlossen hatte.

Doch Putin hat sich nun verzockt, Ich habe das schon Anfang März gesagt. Er hat die alte Ordnung zerstört, doch bekommen hat er eine stärkere NATO und eine gefestigtere EU, denn er hat eine Zeitenwende in Europa, ja in der Welt herbeigeführt. Sein Angriff ist Völkerrechtsbruch und hat alle Grundlagen eines friedlichen Verhältnisses mit Russland zerstört. Ein Zurück mit Putin darf es nicht geben. Auch die Behauptung, Russland sei gedemütigt worden, ist aus der Luft gegriffen. Das Gegenteil ist wahr: Russland wurden keineswegs gebotene Zugeständnisse gemacht, wie beispielsweise die Beschränkungen für NATO-Truppen in den neuen Bündnisländern ab 1999 oder die Aufnahme Russlands in die G 8.

Für Putins Fehleinschätzung nenne ich drei Gründe: Erstens, er hat mit dem schnellen Sturz der Regierung in Kiew gerechnet, zweitens, hat er mit einem raschen, von den Ukrainern umjubelten Sieg seiner Truppen gerechnet und drittens, hat er wohl angenommen, dass der Westen, wie üblich, uneinig und zerfahren reagieren würde.  

Nichts davon wurde wahr und zusätzlich haben die mäßigen, durch Kriegsverbrechen beschmutzten Leistungen der russischen Truppen gezeigt, dass sie in einem Krieg mit NATO- Kräften nicht bestehen könnten. Es dürfte Jahre dauern, bis die erheblichen personellen und materiellen Verluste der Russen ausgeglichen werden können. Keines der vermutlichen anfänglich gesetzten Operationsziele wurde erreicht. Ein Beleg dafür ist, dass Russland vor dem 24. Februar 7% des ukrainischen Territoriums kontrollierte, heute sind es, nach sieben Monaten Krieg, rund 20 %.  Bewundernswert ist die Tapferkeit der ukrainischen Soldaten und die geschickte taktische Führung des ukrainischen Heeres, aber die Opfer sind beträchtlich und unsere Gedanken sollten daher auch in diesen Stunden bei den ukrainischen Familien sein, die unermessliches Leid zu tragen haben.

Dennoch, den derzeitigen brutalen Abnutzungskrieg in den nun rechtswidrig annektierten ukrainischen Gebieten könnte Russland dank seiner größeren Ressourcen, nun verstärkt durch die Teilmobilmachung, eventuell dank ausländischer Söldner und durch anhaltende Verletzung aller Regeln des Kriegsvölkerrechts, taktisch vielleicht gewinnen, sofern Russland eine Kriegsdauer von Jahren durchhält, auch ohne Ausweitung des Krieges und ohne die vom russischen Verteidigungsminister ausgeschlossene Nutzung atomarer oder chemischer Waffen. Doch nun, nach den Scheinreferenden und der rechtswidrigen Annexion gilt für sie die russische Doktrin, die im Fall einer Gefährdung der territorialen Integrität Russlands Atomwaffeneinsatz zulässt. Wir stehen somit vor einer sehr kritischen Schwelle des Krieges. Die jüngsten eskalatorischen Schritte wie die rechtswidrige Annexion oder die viele Fragen aufwerfende Sprengung der Ostsee Pipelines deuten an, dass Putin jedes Mittel nutzen könnte. Wir sollten allerdings entschlossen, furchtlos und zuversichtlich bleiben. Wir haben dafür starke Gründe: Würde Putin taktische Atomwaffen begrenzt einsetzen, würde er dadurch wohl kaum den Krieg gewinnen, aber es würde eine starke konventionelle Antwort des Westens geben und er wäre endgültig weltweit isoliert. Weder China noch Indien dürften diesen Tabubruch tolerieren. Vielleicht sehen wir schon beim G-20 Gipfel in Bali im November die Abwendung von Putin.

Doch auch der Westen sollte schon jetzt für zukünftige Konflikte lernen, dass man gewaltbereite Autokraten mit Sanktionen allein nicht zum Verzicht auf Gewalt zwingen kann. Es muss die glaubhafte Drohung mit Militäreinsatz dazukommen, im äußersten Fall auch ohne eine vertragliche Beistandsverpflichtung.

Putins Nahziel dürfte nun sein, erst einmal das Erreichte zu sichern, als Voraussetzung für die Fortsetzung des Krieges im nächsten Jahr. Dessen Ziel könnte dann die weitgehende Fragmentierung der Ukraine sein, vielleicht der Besitz der gesamten Schwarzmeerküste einschließlich Odessas, um damit eine Rumpf-Ukraine vom Meer abzuschneiden. Gegenwärtig ist Russland dazu zu schwach. Putin dürfte deshalb versuchen durch Verhandlungen Zeit zu gewinnen. Die sind abzulehnen. Die Ukraine und auch wir, der Westen, dürfen nicht tolerieren, dass auch nur ein Quadratmeter ukrainischen Bodens besetzt bleibt. Täten wir es, dann öffneten wir die Tür zu einer Welt, in der nur noch das Recht des Stärkeren gilt.

Doch Putins eigentliche Zielsetzung geht weit über die Ukraine hinaus: Er will den in seinem Ultimatum vom Dezember 2021 beschriebenen Zustand, ich nenne ihn Jalta II, erreichen. Dazu braucht er nach den Rückschlägen in der Ukraine vermutlich deutlich mehr als mindestens ein weiteres Jahr und er muss die derzeitige Einheit des Westens durch Kriegsmüdigkeit brechen. Die Hoffnung auf einen kalten Winter, die als Folge der Sanktionen zu erwartenden erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Europa, in deren Folge vielleicht Unruhen in Europa, die abgenutzte Drohung mit Atom-Waffen- Einsatz, die durch den Zusatz: „Dies ist kein Bluff“ nicht glaubwürdiger wird, oder auch der Versuch, den Westen für den Hunger in der Welt verantwortlich zu machen, dürften seine Instrumente dafür sein. Gelänge es ihm, die derzeitige Einheit von EU und NATO sprengen, dann könnte, ja dürfte er versuchen, den Krieg auf NATO-Gebiet auszuweiten. Jedermann im Westen sollte daran stets denken. Putin wird nicht davon ablassen, eine Pufferzone vor Russland zu errichten, doch nach Möglichkeit will er weit mehr: Ein Imperium wie Peter der Große, oder in seiner Sprache, eine russische Welt. Das gilt es mit aller Kraft zu verhindern. Putins blutige Spur von Grosny über Aleppo und nun in die Ukraine muss ein Ende finden. Er muss in der Ukraine scheitern, denn sonst wäre das Tor zu einer Welt, in der nur Gewalt gilt, weit offen.

Putin will den Westen spalten.  Er verfolgt eine Doppelstrategie: Er will Europa von den USA trennen und er will die Wirtschaftslokomotive Deutschland schwächen, um damit die Europäische Union zu zerrütten. Er weiß, dass die Ziele Europas und der USA unterschiedlich sind. Die USA wollen Russland schwächen, um in Asien freie Hand zu haben. Die Europäer wissen, dass sie weiterhin mit einem Russland nach Putin auf einem Kontinent leben müssen. Das aber können sie nur, wenn sie die USA fest an ihrer Seite haben, denn bis auf weiteres gibt es keine Sicherheit für Europa ohne die USA. Doch die Europäer müssen den Amerikanern deutlich machen, dass auch die USA Europa brauchen. Der amerikanische Weltmacht- Status hängt davon ab, dass die USA die europäische Gegenküste kontrollieren und sie Europa auf ihrer Seite haben. Das bedeutet Partnerschaft auf Augenhöhe, niemals aber wirtschaftliche Abhängigkeit ohne Mitsprache.

Der Westen kann und muss weiteren Krieg durch Abschreckung verhindern. Dazu muss Europa aber wahr machen, was es zu Beginn der Zeitenwende versprochen hat, es muss schnell eigenständig handlungsfähig werden. Das wird nach dem Ergebnis der italienischen Wahlen vielleicht noch schwerer werden, doch Europa muss schon jetzt an die Unwägbarkeiten der amerikanischen Wahl 2024 denken. Das kann nur gelingen, wenn ein geeintes, handlungsfähiges Europa der Partner einer gespaltenen amerikanischen Gesellschaft ist.

Das heißt vor allem für Deutschland die Bundeswehr rasch, schneller als bislang geplant, wieder aufzubauen und gefechtsbereit zu machen, die wirtschaftlichen Abhängigkeiten so weit wie möglich zu verringern und glaubhaft zu zeigen, dass Deutschland zum Schutz der Freiheit kämpfen wird. Stimmen, die jetzt schon wieder Abrücken von den Zielen des Bundeskanzlers fordern, die die Ukraine drängen, um jeden Preis zu verhandeln, begreifen nicht, dass sie Putin helfen, dass sie die Werte des Westens verraten und den Weg bereiten für eine Welt, in der nur noch die Gesetze des Dschungels gelten.

Strategisch betrachtet hat Russland durch Putins Krieg wohl aber bereits jetzt verloren. Putin hat schon jetzt drei „Erfolge“ erzielt, die er bestimmt nicht wollte: 

Erstens, NATO und EU sind geeint wie selten zuvor in den letzten 20 Jahren, zweitens, die ukrainische Nation ist gefestigter in ihrer Ablehnung russischer Herrschaft als je zuvor, ja wendet sich sogar von der russisch-orthodoxen Kirche ab, und, drittens, Schweden und Finnland haben den Antrag auf NATO- Mitgliedschaft gestellt und Dänemark will nun auch in Verteidigungsfragen Vollmitglied der EU sein. Die NATO wie die EU werden somit durch Putin stärker als je zuvor und Europa sicherer.

Russlands Preis für Putins „Erfolge“ ist allerdings hoch. Die Verluste Russlands an Menschen und Material sind beträchtlich, die Abwanderung junge Russen scheinen zuzunehmen, vor allem aber dürften mittel- bis langfristig die wirtschaftlichen Folgen für Russland verheerend sein: Das BIP ist schon jetzt um mehr als 4% gesunken und wird weiter sinken, mehr als 8700 westliche Firmen haben Russland verlassen und finanzielle Folgen dürften spätestens im Winter sichtbar werden. Russland wird somit nicht mehr einer der Pole einer multipolaren Welt sein, sondern nur ein nuklear bewaffneter Spielball in Chinas Händen, also nicht Partner auf Augenhöhe, sondern abhängiges Anhängsel. Putin wird Russland auf Dauer nicht stärker, sondern schwächer machen. Die Antike verband solche Erfolge mit dem Namen Pyrrhus.

Wie es weiter gehen wird, ist noch offen. Die Sanktionen, die natürlich auch Europa wirtschaftlich schädigen, werden den Krieg nicht beenden. Der Westen muss sich deshalb auf einen längeren Konflikt von unbestimmter Dauer einzustellen. Dazu muss Europa neben Verteidigungsfähigkeit seine vielfältigen Abhängigkeiten beenden, ohne den Irrweg der Autarkie zu gehen und Globalisierung völlig zu beenden. Das bedeutet nun vor allem zu erreichen, dass nicht kurzsichtiges industrielles Gewinnstreben die Politik treibt, erneut die bereits sichtbaren Fehler der Wirtschaft gegenüber China zu tolerieren. Nur so kann der Westen Krieg in und um Europa und das Stolpern von einer Krise in die nächste verhindern, denn vermutlich ist

Die Ukraine – nur Vorspiel einer globalen Zeitenwende?

Die Welt hat in den vergangenen zehn Jahren viele Wendepunkten erlebt.

Erinnern wir: Die Präsidentschaft Trumps stellte die transatlantische Sicherheitsarchitektur in Frage, dann hat die globale Pandemie das System der globalisierten, verflochtenen Wirtschaft schwer beschädigt, sodann dankten die USA am 6. Januar 2021 als Leitbild und Modell der Demokratie ab als ein vom abgewählten Präsidenten aufgehetzter Mob das Kapitol stürmte, und schließlich im Sommer 2021, der chaotische und schmähliche Abzug aus Afghanistan, der die Glaubwürdigkeit westlicher Sicherheitsversprechen erschütterte. Doch die dramatischen Veränderungen unserer Welt zeichneten sich schon lange davor ab, vor allem durch den Aufstieg Chinas. Dessen vorläufiger Höhepunkt war die Gründung der regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit RCEP im Herbst 2020. Damit schlossen sich im pazifisch- asiatischen Raum 15 Staaten, darunter Demokratien wie Japan und Australien, unter Chinas Führung zusammen, das somit über 44 % des Welthandels kontrolliert. 

Die Herausforderung der Zukunft wird die Bewältigung des Konflikts zwischen den beiden globalen Mächten unserer Zeit sein, den USA und China. Chinas Anspruch, bis 2050 in allen Kategorien internationaler Machtausübung die Nummer eins zu sein, ist eindeutig formuliert und wird zielstrebig mit dem Programm der neuen Seidenstraße, dem Technologie-Konzept China 2025 und nun, in Umsetzung der Forderung Präsident Xis, bis 2050 eine neue überlegene Weltordnung anzubieten, mit der China Development Initiative CDI, verfolgt. Letztere bietet die Alternative zu westlicher Demokratie an. Wir stehen somit in einem systemischen Konflikt zwischen Autokratie und rechtsstaatlicher Demokratie. 

Doch keines dieser Ereignisse führten zu der spätestens seit 2014 erforderlichen Änderung deutscher und europäischer Sicherheitspolitik. Das geschah erst mit dem Krieg in der Ukraine, der dann Bundeskanzler Scholz am 27. Februar angesichts des Scherbenhaufens der bisherigen Politik von Zeitenwende sprechen ließ. Es ist aber eine globale Zeitenwende, der Krieg in Europa ist nur Vorspiel. Das heißt, dass in der Regel künftig wohl mehrere Krisen, die sich zum Teil überlappen und/oder in Wechselwirkung verbunden sind, gleichzeitig zu bewältigen sind. Darauf ist keine Regierung im Westen vorbereitet, die zudem mit dem Handikap leben muss, gemeinsam in Bündnissen, also einstimmig, zu handeln und in der Regel aus der Reaktion heraus die Initiative zurückzugewinnen hat und zudem durch Organisation in oft starr abgegrenzte Ressorts im Krisenmanagement immer zu langsam ist. In der Krise gilt aber stets: time is of the essence, schnelles Handeln ist entscheidend.

Das skizziert die Herausforderung für NATO und EU. Ihre neuen Grundsatz-Dokumente, das Strategische Konzept und der Strategischen Kompass der EU genügen nicht, um der Zukunft gewachsen zu sein.  Sie sind zu vage, oft unbestimmt. Fragen, die sich als Hemmnis erwiesen haben, werden nicht angesprochen wie beispielsweise das in Krisen hemmende Einstimmigkeitsprinzip. Wege zu Mehrheitsentscheidungen, zumindest in der Durchführung getroffener Grundsatz- Entscheidungen, sind zu gestalten. Weit darüber hinaus stellt sich auch die Frage, ob die Vereinten Nationen als oberstes Instrument der Wahrung des Friedens noch handlungsfähig sind, wenn eine Vetomacht, die Recht bricht, durch ihr eigenes Veto-Recht geschützt bleibt. Die Generalversammlung müsste das Veto von Rechtsbrechern überwinden können, die Ausgestaltung der von der Generalversammlung bereits gebilligten R2P könnte dazu ein Weg sein.  

Sicher, der Ukraine muss weiterhin geholfen werden, gerade jetzt durch Waffenlieferungen, später dann im Wiederaufbau und auf dem Weg in rechtsstaatliche Demokratie und Organisationen wie die EU, aber die anderen, schon erkennbaren Krisen dürfen nicht aus dem Auge verloren werden. 

Da ist die Instabilität im West Balkan, vor allem in Bosnien-Herzegowina, wo Russland als Unruhestifter wirkt, da ist das Risiko, dass es über Bohrungsrechten im östlichen Mittelmeer zu einem Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei kommen könnte, da ist ferner das ungelöste Iran Problem, ein Land, das im Inneren keineswegs stabil ist, das an der Grenze der Türkei zündelt, das weltweit Terrorismus unterstützt und das durch die fehlerhafte Kündigung des allerdings mängelbehafteten Atomabkommens nun bereits als virtuelle Atommacht zu bezeichnen ist. Und da sind all die ungelösten Fragen Afrikas: Wie kann man Migration auffangen, in diesem Jahr vermutlich verstärkt durch den Hunger als Folge der eingeschränkten Weizenimporte aus Russland und der Ukraine? Doch das ist nur ein erstes Warnsignal für die vermutlich drängendste, aber noch nicht einmal angepackte Krise: Die Bewältigung der Folgen des globalen Klimawandels, der weltweit zu Nahrungs- und Ressourcenmangel, zu Naturkatastrophen und vermutlich auch zu Kriegen führen wird.

Schließlich, das darf nicht unerwähnt bleiben, steht im Hintergrund in Asien die ungelöste Taiwan Frage. China wird diesen Anspruch kaum aufgeben. Doch China ist geduldig und ist vorsichtig. Es wird nicht wie Putin durch Ungeduld strategische Fehler machen und sich selbst schwächen. Sollte sich aber aus der Schwäche seiner Gegner eine Gelegenheit ergeben die „abtrünnige Provinz“ heimzuholen, dann wird China die Chance nutzen. Versichernd mag sein, dass China derzeit militärisch wohl kaum in der Lage ist, Taiwan einzunehmen, sofern die USA und Japan an Taiwans Seite stehen. Das werden sie, denn mit der Inselkette Japan-Taiwan-Philippinen wird die Kontrolle der Straße von Malakka, des wichtigsten Nadelöhrs des Welthandels, durch China verhindert und das rohstoffabhängige China eingehegt. Zudem, die enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten Chinas als Folge der Null-Covid-Politik und der gewaltigen Infrastrukturblase erlauben bis auf weiteres keine Abenteuer. Man wird im Oktober sehen, welche Zielsetzungen der Parteikongress beschließt. Ein frühestes Datum könnte 2027 sein, der 100. Geburtstag der Volksbefreiungsarmee. Doch Xi geht es um weit mehr als Taiwan: Sein Zieldatum ist 2049. Bis dahin will er die USA in allen Handlungsfeldern übertrumpfen können.

Zur Lösung all dieser erkennbaren Sicherheitsprobleme ist nun ein Konzept zu entwickeln, das wirklich alle Felder der Politik erfasst und definiert, welche Instrumente man zur Umsetzung braucht und das auch Europas Mitwirkung im Pazifik und in der Arktis einschließt. Vor allem aber ist dazu die Zustimmung der Bevölkerungen Europas zu gewinnen. 

Was bedeutet das für Deutschland und Europa und deren Weg zurück in die Wirklichkeit?

Der Westen hat noch immer die Kraft und die Mittel durchzuhalten, wenn er seinen Menschen zeigt, dass nur im Westen Entfaltung durch Freiheit, also Kreativität zum Guten, möglich und nur in Freiheit Wohlergehen zu sichern ist. Doch dazu müssen die Menschen nun aufgerüttelt werden, ihnen ist endlich die Wahrheit zu sagen, dass wir uns in einer existenziellen Krise befinden, dass wir in einer Welt voller Unsicherheit und Ungewissheit leben, dass wir die Freiheit, die wir so selbstverständlich nehmen wie die Luft, die wir atmen, nur erhalten können, wenn wir bereit sind für sie einzutreten. Dazu müssen Alle den Willen haben, Risiko zu tragen, alle Mittel zu nutzen und vor allem entschlossen zusammenzustehen. Deshalb ist nun endlich ernst zu machen mit der Gestaltung eines handlungsfähigen Europas, dazu gehören auch koordiniert entwickelte Streitkräfte der europäischen Länder, die in allen fünf Dimensionen modernen Krieges kämpfen und auch die kritische Infrastruktur schützen können.

Doch Sicherheit ist nicht alles, es gilt auch Globalisierung so zu denken, dass lähmende Abhängigkeit ebenso vermieden wird wie ein Rückfall in nationale Autarkie, aber dennoch beiderseitig nutzbringende Verflechtung erhalten bleibt. Das bedeutet vermutlich Jahre der Umstellung, in denen steigende Preise und Inflation das Durchhaltevermögen der Menschen auf eine harte Probe stellen werden. Es gilt im Inneren kritische Infrastruktur zu schützen, die Kranken- und Energieversorgung anzupassen, die Infrastruktur zu modernisieren und die Energiewende durch schnelle Nutzung erneuerbarer Energie unumkehrbar zu machen. Nach außen gibt es, die Lieferketten neu zu orientieren. Es hat sich als Irrtum erwiesen, dass gegenseitige Abhängigkeit Konflikte verhindern könnte. Man sollte für jedes gehandelte Gut mehrere Partner haben, um nicht erpressbar zu werden und man muss in Teilen sicher Produktionsfähigkeiten zurückverlagern, um auch in künftigen Pandemien handlungsfähig zu bleiben. Vor allem aber sollte Handel nicht mit politischen Forderungen als Voraussetzung für Handelsbeziehungen belastet werden. In diese Kategorie fällt auch, als Fußnote angemerkt, dass Deutschland seine sehr rigide Ablehnung von Rüstungsexport als Mittel der Friedenssicherung überdenken muss.

Für all das anhaltende Zustimmung der Völker zu erlangen, dürfte vor allem in Deutschland schwierig sein. Man erkennt zwar, dass das Ende aller Illusionen gekommen ist. Man sieht, dass es keine mit historischen Lehren begründete Sonderstellung Deutschlands gibt. Nur Friedensmacht sein zu wollen, sich damit vor Risiko zu drücken, das hat ebenso ausgedient wie der Irrglaube im Besitz einer vermeintlich überlegenen Moral zu sein. Aber noch ist das Eis der Zustimmung zu einer wehrhaften Demokratie und zu einer kampfbereiten Bundeswehr sehr dünn. Zudem, in ganz Europa sind die europäischen Gesellschaften jahrelange Krisen, Entbehrungen und Krieg nicht gewöhnt, deswegen ist mit der Forderung, Entbehrungen zu ertragen, die glaubhafte Hoffnung auf die Rückkehr zum Wohlstand zu verbinden. Doch Schutz erreicht nur, wer beiträgt, wer Verantwortung übernimmt und wer Risiko trägt. Die bequeme Stabilität der vergangenen Jahre, die Nichthandeln erlaubte, ist vorbei. Europa muss begreifen, was die estnische Ministerpräsidentin ganz schlicht ausdrückte: Die Heizkosten können nahezu unerträglich werden, aber Freiheit ist einfach unbezahlbar. Nur Menschen, die begreifen, dass Freiheit niemals Freiheit von allen Bindungen bedeutet, sondern Freiheit für Verantwortung ist, können in dieser Welt der Zukunft bestehen. Wir, unser Land, der beste, weil freiheitlichste Staat unserer langen Geschichte, auf den wir alle stolz sein sollten, gehört zur freien Welt, die sich behaupten kann und wird, weil im Wettstreit mit den Autarkien Freiheit unsere stärkste Waffe ist.  Die Idee, durch die Macht des Rechts den Einzelnen sogar vor der Gewalt des eigenen Staates schützen zu können, ist die beste Idee, die Menschen jemals für ihr Zusammenleben erfunden haben. Das ist unsere Idee des Westens und das ist die Waffe, vor der die Putins und Xis dieser Welt zittern. Deren Idee ist nichts Anderes als Unterwerfung, deshalb müssen wir die Freiheit bewahren, wir müssen sie schützen, das ist Aufgabe der Politik. Doch wir alle sind gefordert, die Politik dabei zu unterstützen. Wir müssen für den Schutz der Freiheit überzeugen und eintreten, so wie Ihre Gesellschaft das in den letzten 70 Jahren getan hat und so wie Sie Alle, vor allem aber unsere Jugend es weiter tun müssen.

Dazu wünsche ich Ihnen viel Erfolg, denn Ihr Erfolg schützt uns Alle.

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