Unruhen in der Türkei–homegrown protest!

Unruhen in der Türkei–homegrown protest!

Die türkischen Unruhen waren Thema bei meinem bevorzugten Dönerstand, wie auch in der Korrespondenz mit einem Bekannten im deutschen Auswärtigen Amt. Hier werden neuerdings Theorien diskutiert, wie sie Erdogan gegen die „untürkischen Unruhen“ neuerdings in Umlauf bringt. Sind die türkischen Proteste ein ethnopolitischer Konflikt von alewitisch-kurdischen Minderheiten, die von Assad unterstützt werden oder aber „homegrown protest“Dazu

Lieber Herr Ostner,

vielen Dank für Ihre Mails, deren Analysen mir einleuchten.

Aufgrund meiner Erfahrungen in Bosnien und Afghanistan bin ich allerdings gewohnt, in Kategorien der Ethno-Politik zu denken und folgende Überlegungen zumindest zu erörtern:

– Auffallend ist, dass die Ereignisse in der Türkei eine Woche nach einem nicht sehr erfolgreichen Treffen der syrischen Opposition in Istambul und vor dem Hintergrund einer zumindest zeitweiligen Konsolidierung des Assad-Regimes stattfinden.

– Könnte es sein, dass hinter den Unruhen alewitische und eventuell auch kurdische Gruppen stecken, die bereits in der Vergangenheit säkular-sozialistisch-kommunistische Neigungen zeigten?

– Könnte es sein, dass jetzt Assad und evtl. ihn unterstützende Regierungen den Spieß umdrehen und mit Hilfe von seit Jahren finanzierten, zwar kleinen, aber gut organisierten Sympathisantengruppen in der Türkei versuchen, Erdogan, dem Assad-Gegner, innenpolitische Schwierigkeiten zu machen?

– Anders formuliert: Wird jetzt das Szenario „jugendlich-säkulare Zivilgesellschaft gegen Autokraten“ von außen, evtl. sogar von Kräften inszeniert, die ihrerseits selbst ein solches Szenario im eigenen Land vehement bekämpfen?  Verbergen sich hinter der „jugendlich-säkularen Zivilgesellschaft“ nicht zuletzt auch von außen finanzierte alewitische bzw. kurdische Organisationen?

Ihre Meinung würde mich interessieren.

Herzlichen Gruß

Ihr Dr.X

Lieber Dr.X.

· Zur Türkei: Die Frage ist, wie sich die Proteste bei den nächsten Wahlen konkret niederschlagen werden. Verliert die AKP ihre absolute Mehrheit oder ist der Protest nicht doch nur auf das liberale und kemalistische Spektrum begrenzt? Ich glaube, damit es zu Veränderungen in der Türkei kommt, müssten auch Teile der bisherigen AKP-Wähler, moderat gläubige Muslime von Erdogan frustriert sein. Jedenfalls möchte Erdogan ja mittelfristig eine Verfassungsänderung hin zu einer islamischen Präsidialdikatur. Möglicherweise könnten die Proteste sich in diesem Falle noch ausweiten.Die Frage wird sein: Versucht er die Verfassungsänderung in einem Schritt oder aber mittels einer Salamitaktik. Jedenfalls dürfte Westerwelle etwas betroffen aus der Wäsche schauen, nachdem er mit Davotoglu in der FAZ einen gemeinsamen Artikel geschrieben hat, in dem er Deutschland und die Türkei als Stabilitätsanker portraitierte. Weitere Parameter sind: Der Syrienkonflikt, die Kurdenfrage und die wirtschaftliche Entwicklung (manche sprechen schon von einer Immobilienblase die bald platzen wird).Das sind die weiteren Unbekannten, die Erdogan unbeliebter machen könnten. Also ein alewitisch-kurdisches Komplott gegen Erdogan, von außen, d.h. Syrien unterstützt. Wäre denkbar, aber das spricht dagegen: Die Aleviten haben in der letzten Zeit vermehrt gegen die Islamisierung der Türkei durch Erdogan protestiert. Könnte insofern passen, aber die Aleviten sind eine kleine Gruppe, die nicht die Massen, die sich da zusammenfinden erklären können. Zweitens: Die Kurden haben ja momentan höchst fruchtbare Beziehungen zur AKP. Erdogan und Öcalan hatten Gespräche, die PKK zieht sich nach Nordirak zurück und geht einen Waffenstillstand ein, die Kurden könnten sogar die Türkei als neue Schutzmacht gegen die Schiiten/Sunniten Iraks und gegen Assad in Syrien gebrauchen.Aus Sicht der Kurden ist eine Regierung Erdogan einer CHP, MHP-Regierung gegenüber zu bevorzugen, da Erdogan aufgrund seiner islamischen Prägung den Nationalismus und die Ethnienfrage nicht so ins Zentrum stellt wie die kemalistischen CHPler.Warum sollten also die Kurden diese vorteilhafte Konstellation selbst torpedieren. Bestenfalls würden kurdische Hardliner, die keinen Frieden mit der Türkei wollen und die PKK als Verräter sehen, sich zu solchen Aktionen hinreissen lassen. Aber das dürfte eine zu negierende Größe sein. Den einzigen Ansatz für Assad sehe ich weniger bei den Kurden, sondern eher bei den Aleviten und zudem bei der Antikriegsbewegung in der Türkei, die sich aus Biotürken rekrutiert und gegen die Einmischung Erdogans in Syrien wendet.Dies wären potentielle Kräfte mit denen Assad sich verbünden könnte. Aber: Erdogan hat bisher selbst nicht den Vorwurf oder gar den Verdacht geäussert, dass ausländische Kräfte, vor allem Syrien hinter der Rebellion stehen.Das wäre ja wohl zu erwarten, wenn es Hinweise in dieser Richtung gäbe.Es könnte ja möglich sein, dass alewitische und kleine kurdische Gruppen, die mehr säkular-sozialistisch ausgerichtet sind, den Zündfunken legten und als sensibelste Teile der Türkei hier initiativ wurden. Dennoch kann der Zündfunken nicht die benzingetränkte Atmosphäre unter den zumeist diesen Gruppen nicht zugehörigen Biotürken zu erklären. Die Auseinandersetzungen als ethno-politisches Problem zu reduzieren, erscheint mir aberwitzig angesichts der absoluten Mehrheit an türkischen Demonstranten.Mindestens 70% der Demonstranten sind Biotürken, die weder Kurden noch Alweiten sind und sie sind der dominierende Teil. Erdogan hat jetzt vor seiner Abreise nach Tunesien verkündet, dass der türkische Geheimdienst die Verbindungen der Opposition zu Auslandskräften untersuchen werde, sowie mit den Rädelsführern gründlich aufräumen werde.Er scheint also wie Sie die türkischen Proteste als von außen gesteuert und als Machwerk subversiver ethnopolitischer Minderheiten, kurz als „untürkisch“ ausmachen zu wollen.Ich schätze nur, dass ihm die meisten Biotürken ohne Ethnohintergrund da nicht zustimmen werden.Mir kommt diese Theorie vom ethnopolitischen Minderheitenkomplott ein wenig vor wie im Kalten Krieg, als die Friedensbewegung als von Moskau bezahlt und kontrolliert, als 5. Kolonne Moskaus portraitiert wurde. Daran richtig ist zwar, dass die DKP 50 Millionen aus dem Ostblock erhielt, aber sie hatte bei Wahlen immer nur 0.1 % und war in der Friedensbewegung nie eine dominante Kraft.Und das ist Polizeilogik: Man verhaftet ein paar Rädelsführer und die Bewegung kommt zum Erliegen. Das halte ich ebenso für falsch.Soll man jetzt alewitische und kurdische Gruppen verhaften–glauben Sie ernsthaft, das würde den Protest zum Erliegen bringen? Da wird ein politisches Problem doch etwas naturalisiert und ethnisiert.Damit sollte man vorsichtig sein, denn in Deutschland gab es ja auch Theorien, wonach der Kommunismus ein ethnisches Problem der Juden und speziell der galizischen Juden sei.

Ich möchte nochmals zu dem Bild vom Funken und dem Ölfass, bzw. dem Tropfen und dem Wasserfass kommen.Dies am Beispiel Georg Soros. Soros wird so in allen Publikationen als der Schurke und Auslöser der damaligen Pfundkrise und damaligen Finanzkrise gesehen. Dennoch war Soros nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Dass das Fass nahezu voll gelaufen war und warum wird dabei nicht mehr thematisiert. Diese Konstellation wurde ja eher durch das Herdenverhalten vieler Kapitalgruppen ausgelöst und durch die finanzpolitischen Rahmenbedingungen.Soros zog Nutzen aus der Situation, aber er hat diese Situation nicht verursacht. Auslöser ist nicht Ursache.Aber und das macht es für viele Menschen einfacher:Man hat einen Schuldigen, personifiziert das Problem, zumal sich Soros als ungarischstämmiger Jude dafür auch bestens eignete (und andere wiederum Soros und Greenspann als Beleg für eine Verschwörung des Finanzjudentums,d as die Welt beherrsche zusammenbrachten)..Ähnlich ist es mit den Unruhen in der Türkei. Da füllte sich das Ölfass aufgrund der Unzufriedenheit gegenüber Erdogan bei vielen gesellschaftlichen Gruppen. Wenn jetzt eine Gruppe beim Taksirpaltz auftritt oder aber mehrere Gruppen in der gesamten Türkei, sieht man nur den Funken, aber nicht das Benzin, das sich im Ölfass sammelte. Im übrigen: Warum sollte man bevorzugt alewitsiche und kurdische Gruppen und nicht die CHP-, MHP-, TKP- nahen Biotürken verdächtigen? Damit soll doch abgelenkt werden und der politische Konflikt naturalisiert, ethnisiert werden.

Die Ethnisierung von politischen Phänomenenbei der Analyse in multiethnischen Staaten mag zwar ein Orientierungsfaden sein, aber man sollte ihn nicht verabsolutieren. Der Afghanistankonflikt wurde auch im wesentlichen als Paschtunenkonflikt portraitiert, zuerst als Kampf der Ghilzaipaschtunen gegen einen anderen Paschtunenstamm und dann als die Kategorisierung nicht mehr so passte, ging man eine Stufe weiter und machte den Hotaklistamm als Kern der Taliban aus. Dies vernachlässigt meiner Ansicht nach die allgemeinpolitisierende Kraft der Taliban über Stämme hinweg und liefert nur eine Momentanaufnahme.Nehmen wir einmal an, die NATO würde eine ethnische Säuberung in Afghanistan an den Hotaklis vornehmen, ich garantiere ihnen die Taliban würden weiter exitsieren und sich aus anderen Stämmen und Gruppen rekonstruieren.Dazu ist die Türkei nicht Afghanistan und sind die Minderheitengruppen viel mehr integriert, wie auch die Türkei alle mal mehr die Kriterien eines Nationalstaates erfüllt als Afghanistan.Da hinken solche Vergleiche. Und wie gesagt: Selbst wenn man alewitische und krudische Rädelsführer inhaftieren oder liquidieren würde, würden die Biotürken trotzdem weiterhin gegen Erdogan sein.Das läuft vielleicht den NATO-Kalkulationen gegenüber Syrien entgegen, weil Erdogan hier der hilfsbereite Lakai ist, aber es gibt auch sehr viele Türken, denen passt nicht:

 

1) Dass Erdogan eine Präsidialdiktatur einführen will und sich jetzt auch schon wie der autoritäre Herrscher aufspielt

2) Dass Erdogan Frieden mit den Kurden macht und sogar über eine türkisch-kurdische Föderation nachdenkt, die Nordsyrien und Nordirka umfassen soll

3) Dass Erdogan langsam die Scharia einführt und als Vorbote dessen Alkoholverbote, Verbote öffentlichen Küssens,Blasphemieverbote, etc. einführt

4) Dass Erdogan unter dem Deckmantel des Ergenkonprozesses viele Kemalisten und kritische Staatsbürger hinter Gitter bringen will

5) Dass Erdogan einen säkularen Staatschef wie Assad der Muslimbruderschaft und den Salafisten opfern will und die Türkei immer weiter in den Krieg hineinzieht

 

Wozu braucht man angesichts dieser eigentlich türkischen Probleme noch eines alewitisch-kurdischen Komplotts mit Assads Hilfe?Das ist homegrown protest!

 

Darauf kam als Entgegnung:


„Dennoch würde ich nicht von vornherein auf den Versuch verzichten, politischen Protest und politische Auseinandersetzungen auch und nicht zuletzt gruppenspezifisch zu definieren.

Gruppenzugehörigkeit und -identität kann viele Ursachen haben

-ethnische,

-religiöse,

-ökonomische,

-ideologische.

Und die Identifikation mit einer Religion oder Volksgruppe als starkes Element politischer Gruppenbildung ist nun mal ein Faktum, ob uns das gefällt oder nicht. Fact is fact.“

 

Meine Antwort:

 

„Lieber Dr. X,

 

Ideologien wie Nationalismus,Säkularismus,  Kommunsimus, Islamismus,etc. haben eine übergreifende Gruppenbildung. Sonst hätte Mohammed auch nicht die arabischen Stämme einigen können und ein arabisch-islamisches Reich gründen können. Schon zur damaligen Zeit waren diese Ideologien oder Religionen über engstrinigen Stammesloyalitäten.NUn deklinieren wir mal ihre obigen Punkte:

 

1) Ethnisch– Türken, Alewiten, Kurden, ganz wenige Christen

Die Alewiten werde von Erdogan am meisten ausgegrenzt, aber weniger ethnisch, sondern eben weil sälular-religiös.Mit den Kurden versteht sich Erdogan besser als alle anderen türkischen Parteien, ja will sogar eine türkisch-kurdische Föderation, die Nordirak und Nordsyrien umfasst und da ist ihm Ethnie oder der Marxismus der PKK egal.

 

2) Religiös  Die meisten Türken sind Muslime, aber man kann nciht sagen: Muslim gleich Muslim. Es gibt da ein Spektrum von Fundamentalisten zu konservativen M;uslimen zu säkularen Muslimen, die Religion eher als Familentradition sehen und zumal säkular sind. Zudem gibt es neben der AKP als Hauptmulsimbewegung auch noch die Gülenbewegung, die eine mehr protestantisch-clavinsitische Strömung des Ilsam ist und weniger auf Volksparteienbildung sondern auf Marsch durch die Institutionen setzt (eher Jesuitenmäßig).

 

3) Ökonomisch  Ziemlich alle Gruppen der Gesellschaft fahren mit Erdogan gut. Wie Malaysia und Indonesien gehärt die Türkei uter Erdogan zu den wenigen muslimischen Staaen, die eine hohe Wirtschaftswachstumsrate aus eigener Kraft haben ( Ölscheichtümer jetzt nicht dazu gerechnet, da diese Rentencouponschnedier der Rohstoffmarktentwicklung sind).Wirtshcfatlich beschwert sich auch kaum ein Türke. Es gab keine Streiks, noch wurden die Gewerkschaften als treibende Kraft der Oppositzionsbewegung ausgemacht, die Kapitalisten, seien es nun die mehr westlich-säkularen orientierten Istanbuler oder die mehr östlich-ilsmaischorientierten neue Mittelstände und Kapitalisten aus Kayseri und Anatolien sind mit Erdogan zufrieden, zumal von Staatsaufträgen auch in gewissem Masse abhängig.Zumal kontrollieren sie die Medien und kann Erdogan sie mittels Sanktionen auch hier treffen, deswegen die anfänglichen Schweigetage der türkischen Medien zu den Protesten.Die einzige Auseinandersetzung, die es in wirtschaftlichen Kreisen geben dürfte, sit die Frage EU oder nicht. Erdogans Weg zur Präsidialdktatur und seine Islamisierung könnten dies infrage stellen. Aber umgekehrt: Wollen diese Kreise überhaupt noch in die EU, wo sie ein tragfähiges Wirtschaftswachstum, keine Europroblem haben und ihren Nachbarn Griechenland als abschreckendes Beispiel sehen?

 

4) Ideologisch  Hier ist eben die Trennlinie Säkularismus-Islamismus zu sehen. CHP, MHP sind im wesentlichen für eine säkular orientierte Ausrichtung der Türkei, vile Teile der Verwaltzung, des Staats, der Jugend, Erdogans AKP geht in die andere Richtung, die Alewiten sind eher säkualr, die BNP der Kurden wie auch die PKK ebenso säkular, aber eher für Erdogan, da sie in seinem Islamismus eher die Chance der Schwächung des türkischen Nationalismus sehen und mehr Freiraum für ihre Autonomie, bzw. für ihren eigenen kurdischen Nationalismus sehen, zumal eben auch eine mögliche türkisch-kurdische Föderation gut finden.

 

Wenn man also all dieses Spektrum betrachtet: Wie kann man dann von einem ethnopolitischen Minderheitenkomplott ausgehen?50% der Türken sind gegen Erdogan, 50% für ihn. Ein paar Alewiten gegen ihn, die meisten Kurden für ihn. So sieht die Situation aus und wie sie konkret aussieht, werden wir erst in den nächsten Wahlen sehen.

 

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