Interview mit Michael Thumann(ZEIT): „Wenn Le Pen gewinnt, dann erringt Putin ganz unmilitärisch einen historischen Sieg über die EU“ / „Es ist erstaunlich, dass Russland die Entfremdung Europas von Trumps Amerika nicht als Chance begreift und auf die EU zugeht“

Interview mit Michael Thumann(ZEIT): „Wenn Le Pen gewinnt, dann erringt Putin ganz unmilitärisch einen historischen Sieg über die EU“ / „Es ist erstaunlich, dass Russland die Entfremdung Europas von Trumps Amerika nicht als Chance begreift und auf die EU zugeht“

Global Review hatte die Ehre eines Interviews mit Michael Thumann über Weltpolitik in der Trumpära, Rußland und den Greater Middle East.

Michael Thumann (* 8.Dezember 1962) ist Außenpolitischer Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit mit Sitz in Berlin und schreibt über Internationale Politik, Osteuropa und den Mittleren Osten. Von 2014 bis 2015 leitete er das Moskauer Büro der Zeit.

Bis 2013 war er Zeit-Korrespondent für den Nahen und Mittleren Osten mit Sitz in Istanbul. Bis Ende 2007 koordinierte er die außenpolitische Berichterstattung der Zeit. Von 1996 bis 2001 war er der Zeit-Korrespondent in Moskau und berichtete über Russland und die islamischen Völker des Kaukasus und Zentralasiens. Zuvor bereiste er als politischer Redakteur der Zeit Südosteuropa, insbesondere das zerfallende Jugoslawien.

Thumann forschte im Jahr 2000 an der Lomonossow-Universität in Moskau für ein Buch über den russischen Föderalismus. Im selben Jahr recherchierte er als Public Policy Scholar am Woodrow Wilson International Center for Scholars (WWIC) in Washington, D.C.

Veröffentlichungen

  • Das Lied von der russischen Erde. Moskaus Ringen um Einheit und Größe, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2002;
  • La puissance russe. Un puzzle à reconstituer?, Paris, 2003;
  • Der Islam und der Westen, Berliner Taschenbuch-Verlag, 2003;
  • Turkey’s Role Reversals, in: The Wilson Quarterly, Summer 2010;
  • A Very Secular Affair. The Power Struggle of Turkish Elites. Transatlantic Academy Paper Series, Washington, DC, 2010;
  • Der Islam-Irrtum. Europas Angst vor der muslimischen Welt. In: Die Andere Bibliothek. Band 319. Eichborn, Frankfurt am Main 2011,
  • mit Susanne Landwehr: Neue Anschrift Bosporus: Wie wir versuchten, in Istanbul heimisch zu werden. Rowohlt, Reinbek 2015

Global Review: Herr Thumann, rückblickend auf 9-11 und den War on Terror fällt doch auf, dass in der Folge die USA mit Ausnahme Afghanistans und der Taliban vor allem säkulare Despoten gestürzt haben. Sei es nun Saddam Hussein, Ghaddafi, Ben Ali, Mubarak. Man gewinnt den Eindruck, dass es eine unterschwellige regime change-Theorie gab, dass die Muslimbrüderschaften eine demokratische Entwicklung in diesen Ländern in Gang setzen könnten, wie auch die USA unter Obama, Bush jr. oder Clinton immer für eine EU-Mitgliedschaft der AKP-Türkei Erdogans waren,in die die Hoffnung einer islamischen Demokratie gesetzt wurde.Scheinbar schien die Hoffnung zu bestehen Islam und Demokratie nachhaltig zusammenzubringen trotz des islamistischen Kerns der Muslimbruderschaft.Was halten Sie von diesem Statement?

Michael Thumann: Ich glaube, man darf die Regime-Change-Politik von George W. Bush nicht mit der zögerlichen Interventionspolitik von Barack Obama durcheinanderwerfen. Irak war regime change im klassischen Sinne mit allen schlimmen Folgen. Libyen 2012 war eine verdruckst-unvollendete Intervention mit dem Einheizer Sarkozy an der Spitze, die reichte, um Gadhafi zu stürzen, das war es dann aber auch, das Chaos folgte. In Tunesien und Ägypten war ich selbst vor Ort und konnte mich davon überzeugen, dass die Menschen die Amerikaner nicht brauchten, um Ben Ali und Mubarak zu stürzen. Im Blick auf den politischen Islam gab es vor allem unter Obama eine Reihe von Beratern um das Weiße Haus, die im pragmatischen Flügel der Muslimbruderschaft die Chance sahen, gläubige Bevölkerungen im Mittleren Osten an demokratische Prozeduren zu gewöhnen. Viele dieser Berater waren durchaus intime Kenner der NMO-Region, aber vor allem des arabischen Teils. Das erklärt das Missverständnis hinsichtlich der Türkei. Die AKP war seit ihrer Gründung etwas anderes als die Muslimbruderschaft, die sich eher mit der Refah-Partei vergleichen ließ. In ihrer pluralistischen Phase mit drei Führern an der Spitze von 2002-2011 war sie eine konservative Partei mit wirtschaftlicher Modernisierungsideologie, in ihrer autoritären Phase seit 2012 die parteiliche Basis für Tayyip Erdogan, der alle innerparteilichen Abweichler und Gegner kaltstellte. Als türkische Führerpartei neuen Typs hat die AKP heute nur noch wenig gemein mit der Muslimbruderschaft.

Global Review: Der arabische Frühling wurde ja anfangs sehr positiv gesehen. Twitterrevolution, eine Rebellion junger säkularer, prowestlicher junger Menschen, die nur nach Demokratie dürsteten. Hatte man die seit 1928 schon existierenden Muslimbruderschaften Hassan Al-Bannahs in allen sunnitischen Ländern nicht auf dem Radar, die organisatorisch viel besser und breiter aufgestellt waren? War es ein Versäumnis der Twitterrevolutionäre nicht eine neue durchorganisierte junge Partei zu haben, die den Islamisten mit offenem Visier entgegenwirken konnte? Oder ist diese neue Generation zwar technikaffin, aber schon zu dem Punkt globalisiert und individualisert, dass sie keine Organsiationsformen mehr schätzt wie eben eine Partei, sondern nur spontaneistisch und dezentralisiert agiert?

Michael Thumann: Die jungen Araber, die 2011 auf die Straßen gingen, waren wie so viele Aufstandsbewegungen nicht von A bis Z durchgeplant, ihnen fehlte die Organisationskraft und der Zynismus eines Lenins und Trotzkis. Ihr größtes Problem war aber, dass sie sich nicht einig waren, dass sie sich in immer neuen Parteien und Bewegungen aufspalteten, in Nebenfragen zerfransten und sich in die Schraubzwinge zwischen Altem Regime und Muslimbrüdern/Islamisten zerquetschen ließen. Beide Gruppen arbeiteten teilweise zusammen, um die junge spontaneistische Bewegung zu zerstören. Es gab schon in den ersten Tagen der Aufstände in Tunesien und Ägypten Leute, die sagten „Oh, jetzt kommen die Muslimbrüder!“ und wenn ich sie fragte, warum, dann hörte ich meist, das sei in Iran auch so gewesen. Das Argument fand ich schwach. Ich selbst sah die Möglichkeit darin begründet, dass die Unabhängigen bei der ägyptischen Wahl 2005 so gut abgeschnitten hatten, und die Unabhängigen war fast alle Muslimbrüder. Sie waren eben eine potenzielle Volkspartei, und dagegen hätten sich die Liberalen, Sozialdemokraten, liberalen Muslime etc pp in einer anderen Volkspartei zusammenschließen müssen. Sie wären mindestens ebenso stark gewesen, wie die Präsidentschaftswahl 2012 zeigte. Das haben sie leider nicht geschafft.

Global Review: Wenn man sich die heutige Situation im Greater Middle East betrachtet, besteht da überhaupt noch die Hoffnung, dass es zu einem zweiten arabischen Frühling kommen könnte oder in welche Richtung wird sich diese Region bewegen? Viele failed states, die noch längere Zeit für ihren Zusammenhalt kämpfen werden müssen, andere Staaten, die weiter ins Chaos absinken,verbleibende noch einigermassen stabile Staaten, in denen die Jugend dieAutokratie der Instabilität vorzieht?Also keine Hoffnung mehr für eine Demokratisierung des Greater Middle East?t“

Michael Thumann: Die Demokratie ist mittlerweile weit über die NMO-Region hinaus bedroht, wir reden in Europa nur noch von Verteidigung und Erhaltung – und nicht von Verbreitung, was ohnehin ein zweischneidiges Konzept war. Ich hatte immer ein Problem mit dem Begriff „Frühling“, weil ich die Lieschen-Müller-Metapher der fachfernen Publizistik vom arabischen „Herbst“ oder „Winter“ schon früh vorausahnte. Die billige Pointe musste ja folgen. Es waren einfach Aufstände, auf Englisch „uprisings“ oder „upheaval“, die in manchen Ländern revolutionäre Züge hatten, und die hatten ihre Zeit und ihre historischen Umstände. Sie folgen nicht Jahreszeiten. Ich sehe derzeit nicht die Voraussetzungen und Umstände, die neue Aufstände in naher Zukunft ermöglichen würden. Über die NMO-Region hat sich eine Glocke von Angst und Schrecken gesenkt, sie erstickt derzeit alle Rufe nach Freiheit, Rechtsstaat und Partizipation aller Bevölkerungsschichten. Die Logik des Krieges beherrscht die Region. Das wird sich irgendwann wieder ändern, und dann werden die Widersprüche von Macht und Gesellschaft, Diktatorenarroganz und individuellen Lebenswünschen wieder auftreten. Keines dieser Probleme wurde gelöst.

Global Review: Gibt es denn im muslimischen Raum überhaupt neue Vordenker des Islam, die eine Modernisierung einleiten können, eine Art muslimsicher Luther? Al Sissi hielt ja eine Rede an der Al Aznar-Universität, in der er die Imame und Theologen dazu aufrief, den Islam so zu reformieren, dass keine Muslimbruderschaft, Al Kaida oder ein Islamischer Staat mehr dadurch legitimiert werden könne. Ist das realistisch?

Michael Thumann: Nein. Al Sissi ist so ziemlich der unglaubwürdigste Vertreter, der zu einer Modernisierung islamischen Denkens aufrufen könnte. Wirkt für mich so, als würde Kardinal Ratzinger die nächste Gay-Pride-Parade anführen. Aber überhaupt sind Vordenker rar gesät oder stark unter Beschuss. Man schaue nur auf die Türkei, wo es gefährlich ist, Anhänger von Fethullah Gülen zu sein. Gülen hatte vor Jahrzehnten als knochenkonservativer Prediger angefangen, entwickelte sich aber zuletzt zu einem durchaus pragmatisch-modernen Sufi-Prediger. Leider hatte er, vor allem aber auch manche seiner Anhänger, einen zu starken Hang zur Politik. Heute werden er und seine Anhänger verfolgt. Und leider stärker als der IS-Dschihadismus.

Global Review: Besteht im syrischen Bürgerkrieg überhaupt die Chance einer politischen Lösung? Es scheint schwer vorstellbar wie die säkular-autoritäre Baathpartei, die islamistischen Mulimbrüder und Gruppen wie Ahrar Al-Sham, Jayesh El Islam, Jayesh El Fatah, etc und die säkular-demokratische FSA und Südliche Front in einem politischen Gemeinwesen koexistieren sollen. Schon gar in einer Demokratie. War der Plan der Stiftung Wissenschaft und Politik „The Day after“jemals realistisch?

Michael Thumann: Die Voraussetzung einer politischen Lösung in einem Bürgerkrieg oder einem ethnisch-religiösen Rachefeldzug des Regimes, wie ich den syrischen Krieg eher nennen würde, bestehen in einer klaren militärischen Lage. Und diese zeichnet sich gerade ab, dank der russischen und iranischen Intervention in Syrien aufseiten des Regimes. Ich halte die Verhandlungen in Astana für ebenso wenig aussichtsreich wie die von Genf. Den Ausgleich könnte es nur in Syrien geben, und der wäre für Assad 2011 mit einigen wenigen Zugeständnissen leicht zu haben gewesen. Er wird ihn jetzt nie mehr bekommen. Seine Herrschaft ruht künftig auf den Bajonetten der iranischen Revolutionsgarden. Das ist die Lösung für ein ganz neues Land, das früher mal Syrien hieß.

Global Review: Was erwarten Sie unter einer Administration Trump für den Greater Middle East?

Michael Thumann: Nichts Gutes.

Global Review: Wie lange wird es dauern, bis der Islamische Staat besiegt ist? Ist es auch denkbar, dass aus seinen Resten eine neue islamistische Bewegung hervorgeht oder ist der IS nicht mehr zu „toppen“?

Michael Thumann: Ich kann nicht sagen, wie lange es dauern wird, bis ISIS besiegt ist, aber wenn man Moskau und Washington, Teheran, Riad und mittlerweile auch Ankara gegen sich hat, hat man einfach schlechte Karten. Aber das Ende von ISIS ist nicht das Ende des Problems. Radikale Bewegungen hat es in der islamischen Welt immer gegeben. Mit mehr oder weniger Erfolg. Die Voraussetzungen, unter denen radikalislamische, dschihadistische Bewegungen an Zulauf gewinnen, sind heute weiterhin gegeben. Mangelnde Partizipation, diktatorische Regime, geringe Bildung, die durch Prediger ersetzt wird, grassierende Armut. Die Unterdrückung des politischen Islams wie in Ägypten, Algerien u.a. Ländern tut das Übrige. Es war interessant zu beobachten, wie al-Qaida und der ISIS-Vorläufer im Irak (die Zarqawi-Gruppe) ihren Niedergang erlebten, als die USA im Irak zunächst einmal die gläubigen Scheichs konsultierten und sie schließlich (mit ordentlich Geld) kooptierten. Noch interessanter war der Rückfall der Dschihadisten in die Fast-Irrelevanz während der Aufstandsphase und kurzfristigen MB-Regierung in Ägypten 2011 und 2012. Als der politische Islam politisch sein durfte, nahm die Attraktivität des Dschihadismus in der Arabischen Welt ab. Aber diese Lehre hört man ja heute nicht mehr so gern, weil sie im allgemeinen Anti-Terror-Kriegswahn auch nichtmilitärische Mittel nahelegen würde.
Global Review: Trump scheint Putin-Rußland in ein Bündnis gegen China bringen zu wollen und zu einer Verständigung mit ihm über die Ukraine und Syrien kommen zu wollen, ja vielleicht auch die Annektion der Krim zu akzeptieren.Inwieweit kann es zu solch einer Verständigung kommen und wo liegen die Grenzen? Ist America great again nicht dem chinesisch-russischen Ziel einer multipolaren Welt entgegegesetzt?

Michael Thumann: Trumps Russland-Politik ist genauso unausgegoren wie der Rest seines Gold-Brokat-umrahmten Schwarz-Weiß-Weltbildes. Er versteht Russland nicht und meint deshalb, er könne mit Putin Front gegen China machen. Putin wird die Chinesen als Gegengewicht zum Westen nicht aufgeben. China ist für ihn wichtiger als die USA, als Nachbar, als Regime-Verwandter, als Gasexportmarkt. Putin und Xi sind nicht formal verbündet gegen Amerika, Putin wird sein eigenes Spiel treiben, wenn Trump gegen China zieht. Umgekehrt hat China Russland auch nie offen bei der Krim-Annexion unterstützt. Aber Putin wird immer wohlwollend neutral gegenüber China bleiben. Und „America great again“ ist genau das, was beide nicht wollen. Da werden sie an einem Strang ziehen.

Zwischen Russland und Amerika aber bestehen viele strukturelle Gegensätze, die Nuklearrüstung, die Ausdehnung, der Machtanspruch jenseits der Grenzen, die Rivalität in Europa und Nahmittelost. Zugleich haben sie zu wenig gemeinsame Interessen (Handel, Rohstoffe etc), die in Zeiten, in denen das Politische die Ökonomie übertrumpft, die Gegensätze dämpfen könnten. Ich halte Trumps Russland-Avancen für eine kurzfristige Anwandlung des flatterhaften Präsidenten, er wird ein furchtbar herzliches erstes Treffen mit Putin haben, in dem sich beide ewige Freundschaft schwören und auf die Schultern klopfen. Putin wird eine adäquate Judo-Übung für Trumps gefürchteten Hand-shake parat haben und sie werden darüber Scherze machen. Danach wird wieder die Realität einsinken und die strukturell feindlich gesinnten Machtapparate in Moskau und Washington werden das Prozedere übernehmen. Das reicht für gemeinsame Angriffe auf ISIS- Stellungen, vielleicht auch für eine vergängliche Etappenabsprache über die Ukraine, aber mehr nicht. Dann: business as usual.

Global Review: Anfangs bestand Putins Hoffnung scheinbar darin, dass die EU mit ihm einen Freihandelszone von “Lissabon bis Wladiwostok”herstellt und man die EU friedlich aus der NATO rauslösen könne, ähnlich wie es der Linkspartei mit ihrer “kollektiven europäischen Sicherheitsarchitektur”vorschwebt und Gorbatschow als Idee eines “europäischen Hauses”hatte.
So konnte Wladimir Putin in Berlin bei seiner Rede vor dem Bundestag 2001verkünden: „Niemand bezweifelt den grossen Wert Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa einen Ruf als mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturresourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotentialen Russlands vereinigen wird“ Da dies aber keinen Erfolg hatte, ist Putin nun auf die Zerschlagung der EU und die Errichtung autoritärer prorussischer Regime in Europa aus, die seine Vision eines Eurasianismus teilen. Ist das eine geeignete Zusammenfassung der Ziele Putins?

Michael Thumann: Putin betreibt heute klassische russische Einflusspolitik in Europa. Für ihn ist die EU ein Ärgernis, weil sie geschlossen mächtiger ist als die vielen kleinen Staaten im Einzelformat. Siehe die für ihn überraschende Verhängung umfassender Sanktionen. Damit hatte er nicht gerechnet. Also hat er ein natürliches Interesse an der Schwächung, womöglich Zerschlagung der EU. Russland liebt bilaterale Beziehungen zu Zwergen. Warum und seit wann das so ist, darüber können wir uns alle reichlich streiten. Manche behaupten, Enttäuschung über Europa spiele eine Rolle, andere sagen, Putin habe schon immer so gedacht. Ich glaube, es hat einfach nicht gepasst. Es ist ja nicht so, dass nur Putin Vorschläge machte ab 2001, auch die Deutschen haben ja einiges vorgeschlagen, siehe Schröder bis 2005, dann die Modernisierungspartnerschaft Steinmeiers, da ist einiges gekommen. Wenn einer versagt hat in der EU, dann war es doch Schröder, der bis 2005 Nägel mit Köpfen hätte machen können. Aber die Wahrheit ist, er konnte nicht, weil die moderne EU und das unmoderne Russland nicht zueinander passten. Putins Wende gegen Europa vollzog sich in seiner zweiten Präsidentschaft ab 2012, nach der Erfahrung der Bolotnaja-Aufstände in Moskau und insbesondere nach dem Majdan 2013. Er begriff, dass Europas Attraktivität ihm gefährlich werden konnte. Also muss Europa weniger attraktiv sein. Ganz einfach.

Global Review: Ist es wahrscheinlich, dass Russland auch im Baltikum einmarschieren wird und einen Krieg mit der NATO riskieren würde oder ist dies eher Panikmache seitens des Pentagons? Wie kommt man aus diesem neuen Kalten Krieg wieder heraus?

Michael Thumann: Das halte ich derzeit für nicht wahrscheinlich, weil Putin das nicht braucht. Er schaut jetzt einfach nur zu, wen sich die Europäer zu ihren Präsidenten und Kanzlern wählen, und dann wägt er seine Schritte neu. Wenn Le Pen gewinnt, dann erringt Putin ganz unmilitärisch einen historischen Sieg über die EU. Wenn Emmanuel Macron gewinnt, dazu Merkel bleibt oder selbst Schulz übernähme, dann weiß er, dass es mit dieser ärgerlichen EU so weiter geht wie bisher. Was er dann macht, kann ich nicht voraussagen. Es ist erstaunlich, dass Russland die Entfremdung Europas von Trumps Amerika nicht als Chance begreift und auf die EU zugeht. Offenbar setzt man doch so sehr auf Le Pens Magie, dass man sich die historische Gelegenheit entgehen lässt, die EU zu umgarnen in einer Zeit der transatlantischen Wirren.

Global Review:War die geplante NATO- und EU-Mitgliedschaft der Ukraine ein strategischer Fehler, da Rußland dies niemals akzeptieren würde. Aber Rußland hat auch die NATO-Rußland-Gründungsakte 1997 unterschrieben, in der es sich einverstanden erklärt, dass die ehemaligen postsowjetischen Staaten die Mitgliedschaft in Bündnissen und Organisationen frei wählen dürfen.Geht es in Syiren und der Ukraine vor allem um die Militärbasen in beiden Ländern oder ist der Anspruch Rußlands nicht nur militärisch-geopolitischer Natur?

Michael Thumann: Die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine war eine Idee der Bush-Administration und wurde von Angela Merkel 2008 gestoppt und auf einem Nato-Gipfel so verwässert, dass allen klar war, daraus wird nichts. Seither wurde Kiew kein offizielles Angebot unterbreitet, auch nicht in den Maidan-Aufständen. Auch war von einer EU-Mitgliedschaft nicht die Rede. Das DCFTA-Freihandelsabkommen ist eine Annäherung an die EU, aber kein Anschluss. Sieht man übrigens auch ganz gut an Moldau, die so ein Abkommen haben und deren neuer Präsident nun trotzdem gen Russland schielt. Es bleibt alles offen. Was ein historischer Fehler war: Manuel Barroso zum EU-Kommissions-Präsidenten zu machen. Er hat mit seiner Aufforderung an Kiew, sich zwischen Russland und Europa zu entscheiden, sehr viel Schaden angerichtet. Da konnten EU-Chefs von Merkel bis Renzi noch so oft sagen, dass ein DCFTA keine geostrategische Entscheidung für alle Zeiten sei, zitiert wurde fortan nur noch der mit seinem Job hoffnungslos überforderte Barroso. Russland hat mit dem DCFTA solange kein Problem gehabt, wie Putin sich in Moskau sattelfest fühlte. Es war die oben erwähnte Attraktivität der EU, die ihn überzeugte, dass er hier einschreiten musste. Er fürchte in der Tat, dass die EU ihm die Ukraine wegnehmen würde, aber nicht wegen des DCFTA, sondern wegen ihrer Anziehungskraft. Deshalb der gewaltige Umschwung in der russischen Propaganda gegen die EU seit Ende 2013, deshalb die Stilisierung Merkels als Hauptfeind Russlands, deshalb die Darstellung Europas und Deutschlands als ein von Flüchtlingen und Islamisten überranntes Sodom&Gomorrah im russischen Fernsehen. Es geht darum, den Mythos Europa zu zerschlagen, die Sehnsüchte der eigenen Bevölkerung auszulöschen und die Wirkung der EU in Osteuropa so gut es geht zu neutralisieren.

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