Kann Integration dauerhaft funktionieren? Singapur und seine komplexe Migrantengesellschaft

Kann Integration dauerhaft funktionieren? Singapur und seine komplexe Migrantengesellschaft

Gastautor: Dr. Wolfgang Sachsenröder

Deutschlands Medien hangeln sich oft mehr schlecht als recht durch die Minenfelder des Migrationsthemas, die Leser sind verunsichert. Die Polizeistatistiken werden unterschiedlich interpretiert, der Zustrom Schutzsuchender geht zurück, bleibt aber hoch, und so wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Daß die viel beschworene Bekämpfung der Fluchtursachen in überschaubaren Zeiträumen etwas ändern könnte ist mehr als unwahrscheinlich.

Aber immer noch unzureichend aufgearbeitet bleibt die mit Abstand ¬wichtigste Folgefrage, nämlich wie die Bleibeberechtigten und die nicht Abgeschobenen in unsere Gesellschaft integriert werden können. Die Politik ist so tief gespalten wie die Öffentlichkeit. Wenn der bayerische Innenminister sagt, daß der Migrantenanteil in der Kriminalitätsstatistik höher ist als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung, wird von grüner Seite sogleich bemängelt, daß das der Integration schade. Solche Einwände lenken davon ab, daß das Thema mehr Aufmerksamkeit benötigt. Eine der staatlichen Kernaufgaben ist schließlich der Schutz der Bürger, und zwar zuerst im eigenen Land.

Während der Einsatz freiwilliger deutscher Flüchtlingshelfer und ihre hohe Motivation zurückgehen, arbeiten Verwaltungsgerichte und Ausländerämter weiter am Limit. Mit ghettoartigen Wohnsituationen einzelner Gruppen scheinen wir uns abgefunden zu haben, und Brennpunktschulen geraten nur noch gelegentlich in die Schlagzeilen. Viele Bürger sind empört über die Sozialtransfers an Migranten und magere Renten für Deutsche, die 30 oder 40 Jahre gearbeitet haben. Die Erfolgsquoten bei Sprachkursen und Berufsausbildung der Migranten bleiben überschaubar, die Volksparteien spüren die Enttäuschung der Wähler unmittelbar.

Wo funktioniert die gesellschaftliche Integration von ethnischen und religiösen Minderheiten eigentlich gut oder zumindest leidlich? Reichen Nachrichtensprecher, Parlamentarier oder erfolgreiche Unternehmer mit ausländischen Wurzeln als Vorzeige-Migranten aus, um von gelungener Integration sprechen zu können? An solchen individuellen Erfolgsbeispielen fehlt es eigentlich nirgendwo, aber in den ehemaligen Kolonialmächten England und Frankreich, und mehr noch in den USA, sind die Minderheiten- und aktuellen Migrationsprobleme alles andere als gelöst. Von dort sind also kaum Anregungen und Verbesserungsvorschläge zu erhoffen.

Als Modellversuch ausreichender Größe, wenn auch ohne Hinterland, bietet sich der Stadtstaat Singapur an, der seit zweihundert Jahren ein Schmelztiegel unterschiedlichster Migrantengruppen ist. 1819 kauft Thomas Stamford Raffles im Auftrag der britischen East India Company (EIC) die kleine Insel dem Sultan von Johor ab. Singapur besitzt einen sicheren Tiefwasserhafen in der Mitte zwischen Indien und China, der für die EIC von großem Wert in einer Wachstumsperiode wird, in der indisches Opium in den chinesischen Markt gedrückt wird, weil England immer mehr chinesischen Tee, Seide und Porzellan importieren will, die Chinesen aber kein Interesse an britischen Waren zeigen. So zieht die florierende Inselkolonie umgehend chinesische, indische und weitere Migranten aus der Region an und wächst rapide. Bei der Unabhängigkeit des modernen Stadtstaates, 1965, ist Singapur längst eine ethnisch und religiös komplexe Gesellschaft, allerdings mit einer deutlichen Mehrheit von Chinesen. Heute ist die ethnische Verteilung relativ stabil mit rund 75% Chinesen, 15% Malaien, etwas über 7% Inder und 3% „others“ (Sonstige). Von den rund 5 ½ Millionen Einwohnern sind mehr als 1 ½ Millionen weder Staatsbürger noch „permanent residents“, also Gastarbeiter mit sehr begrenztem Aufenthaltsrecht.  Um die ethnische Differenzierung in den Wohnvierteln zu überwinden hat die Regierung frühzeitig eine vereinfachte Klassifizierung nach Rassen eingeführt und stark reglementiert. Das Schema gilt bis heute unter dem Kürzel „CMIO“ (Chinese, Malays, Indians, Others) und hat eine ghettoartige Konzentration einzelner Gruppen erfolgreich verhindert. Das Zusammenleben der ethnischen Gruppen ist die Norm und weitestgehend konfliktfrei. Singapur feiert dies mit dem „Racial Harmony Day“ am 21. Juli, der an die Rassenunruhen erinnern soll, die 1964 zweiundzwanzig Todesopfer und hunderte Verletzte gefordert hatten. Organisiert werden die Feiern vor allem in Schulen, zivilgesellschaftlichen Gruppen und religiösen Organisationen. Auch die blutigen chinesisch-malaiischen Zusammenstöße von 1969 im benachbarten Malaysia haben die Singapurer Politik beeinflusst, die Rassen- und Religionsfragen sorgfältig im Auge zu behalten. Zahlreiche staatlich geförderte Organisationen pflegen den Zusammenhalt, wie die People’s Association mit kulturellen und sportlichen Programmen sowie religiöse Gremien und Beiräte. Gegen Störenfriede und Aufwiegler gibt seit 1990 der „Maintenance of Religious Harmony Act“ eine gesetzliche Handhabe, radikale Prediger aus dem Ausland werden schon im Vorfeld identifiziert und dürfen nicht einreisen. 

Als Singapur im August 1965 aus der Malaiischen Föderation ausgestoßen und unverhofft selbständig geworden war, ging es zunächst um das wirtschaftliche und politische Überleben als kleiner Inselstaat ohne natürliche Ressourcen, dann aber auch sehr rasch zu einer Selbstfindung als Nation. Hilfreich war dabei ein nationales Gelöbnis, wohl nach dem amerikanischen Vorbild entstanden, das täglich bei Schulbeginn sowie bei öffentlichen Feierlichkeiten rezitiert wird. Der Text, in allen vier offiziellen Landessprachen, stellt das Gleichheitsprinzip für Rasse, Sprache und Region an die erste Stelle:

We, the citizens of Singapore,
pledge ourselves as one united people,
regardless of race, language or religion,
to build a democratic society
based on justice and equality
so as to achieve happiness, prosperity
and progress for our nation.

Diese Betonung der Gleichheit, die übrigens auch im ähnlichen Gelöbnis des Vielvölkerstaates Indien beschworen wird, ist nicht nur ein Fundament der Einheit als Nation, sondern auch eine Leitlinie für die Integration von Einwanderern. Mit seiner niedrigen Geburtenrate von 1,16 (2018) ist Singapur auf Migration angewiesen, versucht sie aber langfristig zu steuern und rigoros zu kontrollieren. Gering- und Unqualifizierte können mit Zeitverträgen zugelassen werden, haben aber keinerlei Chance auf ein Bleiberecht. Notwendige qualifizierte Arbeitskräfte können sich als „permanent resident“ bewerben, zugelassen werden rund 30.000 pro Jahr, den begehrten Pass erhalten etwa 20.000. Mit insgesamt 2,17 Millionen Ausländern und 3,47 Millionen Staatsbürgern hat Singapur derzeit einen Ausländeranteil von 37,5 %. Schon im Straßenbild zeigt sich aber sehr deutlich, daß es sich dabei fast ausschließlich um Asiaten handelt. Unter den 3% „Others“ sind fast alle „Caucasians“, also „Weiße“, die anderen Erdteile sind so gut wie nicht vertreten.

Die ethnische und religiöse Vielfalt ist damit auf einen sehr differenzierten, aber dennoch zusammenhängenden Kulturkreis in Ost- und Südostasien begrenzt, der besonders im Sozialverhalten eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweist, die das Zusammenleben eher nicht in Richtung „culture clash“ prädisponieren. Natürlich gibt es auch hier Grenzen der Geduld, aber Gesichtswahrung und Zurückhaltung im Umgang mit Fremden erleichtern durchaus den täglichen Umgang. Kindergärten und Schulen sowie der zweijährige Wehrdienst gewöhnen die Jugend an die allgegenwärtige Andersartigkeit, Freundschaften überbrücken sichtbare und weniger sichtbare Unterschiede. Ende Juli veröffentlichte Umfragewerte zeigen, daß unter 4000 befragten Bürgern viele die „Harmonie der Rassen und Religionen“ als hoch und sehr hoch einschätzen. Unter den Chinesen sind das knapp 50%, bei den Malaien 48%, bei den Indern 45% und den „Others“ ganze 65%. Von letzteren abgesehen, die offenbar noch positive Vorurteile aus längst vergangenen Kolonialzeiten genießen und sich eine eigene Diskriminierung kaum vorstellen können, sind die Ergebnisse nach 54 Jahren Integration eigentlich nicht umwerfend positiv. Malaien und Inder sind in dieser Umfrage skeptischer, denn sie sehen ihre gesellschaftliche Akzeptanz durch die chinesische Mehrheit offenbar nicht als zufriedenstellend an.

Wie problematisch die Situation im Einzelfall werden kann, zeigte sich gerade in den Tagen vor dem Nationalfeiertag am 9. August, der traditionell die nationale Einheit beschwört, an einem Zwischenfall, der breit in den Medien diskutiert wird und auch die Politik beschäftigt. In einer Kampagne für elektronische Bezahlsysteme sollte gezeigt werden, daß das System für alle ethnischen Gruppen geeignet sei. Ein chinesisch-stämmiger Schauspieler trat dort in zwei anderen ethnischen Rollen auf, einmal als Malaiin mit Kopftuch, dann mit dunkel getönter Gesichtsfarbe als Inder. Dies erboste ein rappendes Geschwisterpaar aus der indischen Minderheit, das sich mit einem vulgären Video gegen „die Chinesen“ auf Youtube für das „brownface“ revanchierte. Werbespot und Rap-Video wurden schnell entfernt, die Beteiligten haben sich öffentlich entschuldigt, der Innenminister hat beide ermahnt und die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe erläutert. Im Hinblick auf die gefährliche Geschwindigkeit, mit der solche Zwischenfälle durch die sozialen Medien verbreitet werden, wird auch über zusätzliche gesetzliche Anpassungen diskutiert. Der alarmierende Vorgang wird in Leserbriefen und Diskussionen weiter behandelt, denn er zeigt, daß bei aller Integration ein latenter Rassismus weiterlebt und jederzeit an die Oberfläche kommen kann.

Wie auch die aktuelle amerikanische Debatte zeigt, hat das Phänomen Rassismus mindestens zwei Seiten. Der Mehrheit, ob weiß in den USA oder chinesisch in Singapur, fehlt fast immer das Gespür für die Empfindlichkeiten der Minderheiten, die sich bevormundet und gegängelt fühlen. Ob vermeintlich oder tatsächlich durch Hautfarbe, Sprache, Kleidung oder Benehmen persönlich diskriminiert, Minderheiten reagieren empfindlich und pochen umso mehr auf ihre Gruppenidentität. Daß es auch innerhalb der Mehrheit viele Spielarten von subtiler sozialer Diskriminierung gibt und auch innerhalb der Minderheiten selbst spielt dagegen keine Rolle. Unsere zwei Prozent verbliebenen Neanderthaler-Gene verlangen offenbar ein gewisses Maß an Konformität und Mißtrauen gegen Andersartigkeit, das selbst in Gesellschaften eine Rolle spielen kann, die wie Singapur schon länger äußerst heterogen und pluralistisch sind. Verschiebungen im religiösen Umfeld wie die zunehmende Islamisierung in Südostasien eröffnen weitere Problemfelder.

Deutschland hat seit 2015 insgesamt 1,8 Millionen Zuwanderer aufgenommen. Nur ein Teil davon ist in der Lage, sich sprachlich und wirtschaftlich aus eigener Kraft und Motivation schnell zu integrieren. Durch die oft geradezu ideologische Spaltung der Deutschen in Befürworter und Gegner der Migration ist die Wichtigkeit der Integrationsfrage nicht ausreichend im Bewußtsein der Öffentlichkeit angekommen. Und trotz politischer Anstrengungen mit einer Integrationsbeauftragten der Bundesregierung und einer ganzen Reihe von Integrationsgipfeln mit Teilnehmern aus allen beteiligten Bereichen bleiben Zweifel an der Integrationsfähigkeit oder sogar der Integrationswilligkeit vieler Zuwanderer. Proteste gegen Rassismus bringen wenig, weil sowohl Mißstände und Mentalitäten unter Zuwanderern wie „Biodeutschen“ davon unberührt bleiben. Bei allen sonstigen Baustellen, die unser Land in diesen Jahren plagen, wird die Integration der 1,8 Millionen die zentrale Schicksalsfrage bleiben. Sie darf nicht durch einen als prioritär gefühlten Abwehrkampf gegen „die Populisten“ zu einem Randproblem werden. Das Beispiel Singapur zeigt, daß die Integrationsproblematik für Politik und Zivilgesellschaft eine Daueraufgabe bleibt, die ständig höchste Umsicht und Mut zu Entscheidungen und Eingriffen erfordert.

Singapur, den 11. August 2019           Wolfgang Sachsenröder

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