Myanmar in der Dauerkrise

Myanmar in der Dauerkrise

Autor: Dr. Wolfgang Sachsenröder

Myanmar ist wieder einmal in den Schlagzeilen und wieder einmal nach einem Militärputsch. Sein Image im Westen wird seit Jahrzehnten durch das Ringen um demokratische Reformen und die Auseinandersetzung zwischen einer allzu mächtigen Armee und der „National League for Democracy“ mit ihrer charismatischen Vorsitzenden Aung San Suu Kyi geprägt. Aber der Kampf zwischen demokratischen und autoritären Tendenzen ist nur eins von zahlreichen Problemen eines großen und wirtschaftlich noch wenig entwickelten Landes mit 135 anerkannten Minderheiten. Die Bevölkerung, von 20 Millionen 1960 auf 54,5 Millionen angewachsen, ist sehr jung, das Durchschnittsalter liegt bei 29 Jahren, rund 15 Jahre niedriger als in Deutschland. Etwa ein Drittel zählt zu den Minderheiten, unter denen die Rohingya zu den kleineren gehören. Die Einwanderung von Chinesen hat eine lange Tradition, in den östlichen Grenzgebieten sind sie teilweise die Mehrheit.

Alles andere als einfach ist bereits die Geografie: Mit 678.500 qkm ist Myanmar fast doppelt so groß wie Deutschland. Die 2.416 km lange Grenze zu Thailand ist bis heute schwer zu kontrollieren, die 2.185 km zu China vermutlich etwas besser, ohne für Schmuggler unüberwindlich zu sein, ähnlich wie die 1.468 km Grenze zu Indien. Am kürzesten ist Grenze zu Bangladesch, wegen der Rohingya-Problematik sind dort bereits 210 der 270 km mit einem Grenzzaun gesichert. Hinzu kommt noch eine 1.930 km lange Küstenlinie entlang der Andamanen See, die ebenfalls kaum zu kontrollieren ist. Diese geographischen Gegebenheiten haben den Schmuggel, vor allem den Drogenschmuggel, in alle Richtungen erheblich erleichtert, ebenso wie der schwierige Zugang zu großen Teilen der Grenzgebiete.

Kolonialgeschichte und Unabhängigkeit

Die ethnische Vielfalt und die langen Grenzen des Landes haben eine politische Einigung schwierig gemacht und zu häufigen Kriegen geführt, besonders Ende des 18. Jahrhunderts mit China, Laos und Siam, sowie mit den grenznahen Gebieten Indiens, aber auch der verschiedenen burmesischen Dynastien ​untereinander. Die britische Kolonisierung begann mit der British East India Company, die, nachdem sie ihre Herrschaft über weite Teile Indiens konsolidiert hatte, weiter nach Osten expandierte und die Burmesen aus Assam, Manipur und Arakan vertrieb. Den ersten Anglo-Burmesischen Krieg (1824-26) gewann noch die East India Company, die eine eigene Armee unterhielt, im zweiten und dritten Krieg griff dann die britische Armee ein, bis nach 60 Jahren, 1885, ganz Burma unterworfen war und seitdem als Teil Britisch-Indiens verwaltet wurde.

Erst 1937 wurde es als eine eigenständische britische Kolonie von Indien abgetrennt. Bis dahin kam es immer wieder zu gewalttätigen Aufständen gegen die Kolonialherren. Im Zweiten Weltkrieg hatte Burma zunächst auf Japan gesetzt, um der britischen Herrschaft zu entkommen, was aber erst im Zusammenhang mit der indischen Unabhängigkeit 1948 möglich wurde. Aung San, der Vater von Aung San Suu Kyi, war schon vor dem Krieg vom studentischen Aktivisten zum politischen Anführer geworden. Er ging 1941 nach Japan, bekam dort eine militärische Ausbildung und gehörte zu den Gründern der Burmesischen Unabhängigkeitsarmee. Ab 1943 diente er als Kriegsminister im japanischen Vasallenstaat Burma, schloss sich aber 1944 den Briten an, und wurde von 1946 bis 1947 zum Premierminister der Kronkolonie Burma. Nachdem er im Januar 1947 in London über die Unabhängigkeit verhandelt hatte, gewann Aung San im April mit seiner „Anti-Fascist People’s Freedom League“ (AFPFL) die Wahl zu einer verfassungsgebenden Versammlung.

Bevor er erster Premierminister des unabhängigen Staates Burma werden konnte, wird er aber am 19. Juli 1947 zusammen mit sechs seiner künftigen Kabinettsmitglieder während einer Sitzung ermordet. Der Hintergrund des Attentats ist bis heute ungeklärt, aber Aung San wird als Wegbereiter der Unabhängigkeit, Nationalheld und Märtyrer verehrt. Sein Nimbus und sein politisches Erbe haben zum Charisma und Sendungsbewusstsein seiner Tochter Aung San Suu Kyi beigetragen. Dieser schwierige Start in die Unabhängigkeit enthielt aber noch eine andere politische Zeitbombe, die seitdem immer wieder für Gewaltausbrüche sorgt. Die britische Kolonialherrschaft hatte die mehr als unwegsamen Bergregionen im Osten, die Shan-Staaten, die fast ein Viertel der Landfläche Burmas ausmachen, nur sehr bedingt unter Kontrolle bringen können und separat verwaltet. Die Shan und weitere Minderheiten in diesem Gebiet waren traditionell von der Bamar-Mehrheit unabhängig und politisch in zahlreichen kleinen Feudalstaaten organisiert.

Im „Panglong Vertrag“ im Februar 1947 ​treten ihre Führer der „Union of Burma“ bei, allerdings auf Probe, nämlich mit einer Austrittsoption nach zehn Jahren, und unter der Bedingung von Autonomie und Selbstverwaltung. Das geht zunächst auch gut, da der neue Staat kaum die Mittel hat, um in diesem „Wilden Osten“ einzugreifen. Unter Premierminister U Nu beginnt eine demokratische Epoche mit drei konsekutiven Wahlen, 1952, 1956 und 1960 mit mehreren Parteien, 1961 wird der Diplomat U Thant Generalsekretär der Vereinten Nationen. Diese Phase endet abrupt im März 1962 durch einen Militärputsch unter General Ne Win, der das Land mit eiserner Hand und seiner „ Burma Socialist Programme Party “ (BSPP) auf einen „Burmesischen Weg zum Sozialismus“ führt.

Die Folgen sind wirtschaftlich und sozial dramatisch, Burma verarmt. Immer wieder aufflammende Studentenproteste werden gewaltsam unterdrückt. Als sich die Proteste 1988 landesweit verbreiten und Tausende von Demonstranten getötet werden, tritt Ne Win zurück, General Saw Maung übernimmt das Heft und kontrolliert das Land mit dem ominösen „ State Law and Order Restoration Council “ (SLORC). Als er 1990 den demokratischen Forderungen entgegenzukommen versucht und freie Wahlen ausschreibt, gewinnt überraschend Aung San Suu Kyi mit der National League for Democracy rund 80 Prozent der Parlamentssitze. Das Wahlergebnis wird ignoriert, der SLORC regiert nach einer manipulierten Wahl mit der „Union Solidarity and Development“ Party weiter als ob nichts gewesen wäre, bis 1997 als SLORC und danach als „State Peace and Development Council“ (SPDC) bis zu dessen Auflösung 2011. Die experimentelle Phase einer Aufteilung der Macht zwischen der National League of Democracy unter Aung San Suu Kyi und einer sich wichtige Besitzstände vorbehaltenden Armee sind noch zu frisch in Erinnerung als dass sie hier noch einmal dargestellt werden müssten.

Der Erdrutschsieg der NLD im November 2020 trotz Covid und vielen logistischen Problemen hat gezeigt, dass die Mehrheit der Bevölkerung eine demokratische Regierung wünscht und dafür auch Risiken und Opfer in Kauf nimmt. Nach dem französischen Diplomaten und Politiker Talleyrand ist der schwerste Abschied im Leben der von der Macht, und das wird uns gerade eindringlich von der Armee in Erinnerung gerufen. Für ihr Konzept einer „gelenkten Demokratie“ berufen sie sich gern auf die ebenso unrühmlichen Beispiele in Indonesien unter Suharto und die andauernde Hängepartie im benachbarten Thailand.

Militär, Minderheiten und Drogen

​Myanmar gilt wegen der Vielfalt seiner Minderheiten und Migranten als Paradies für Ethnologen, was für seine Regierbarkeit allerdings alles andere als vorteilhaft war. Beim Putsch von 1962 ging es auch um den möglichen Austritt der Shan-Staaten aus der Union und die „patriotische“ Aufgabe der Armee, das Land zusammenzuhalten. Bei den Minderheiten im Osten, weit weg von der Hauptstadt, war die Armee seit der Unabhängigkeit mehr als unbeliebt, weil sie die versprochene Autonomie unmöglich machte. Dazu kamen weitere und ökonomisch fundamentale Gründe, die sowohl die Dominanz der Bamar- Mehrheit als auch die Kontrollversuche der Armee unerträglich machten. Da Steuermittel für den Unterhalt und die Einsätze der Armee weitgehend fehlten, musste sie sich eben selbst versorgen. Aus der langen Kriegsgeschichte in Europa ist das als fouragieren und requirieren wohlbekannt. Da genau dies auch von den nach Myanmar versprengten nationalchinesischen Truppen nach dem Sieg der Kommunisten 1949 in den Shan Staaten praktiziert und von den USA im Kampf gegen den Kommunismus auch noch unterstützt wurde, hatte die Armee keinerlei Hemmungen, die lokale Bevölkerung in dieser Form auszubeuten, schließlich waren das ja „Rebellen“.

Der von der „Heimlichen Armee“ der Nationalchinesen in den 1950er Jahren forcierte Opiumanbau bildete dann den Baustein, den die burmesische Armee zur Konsolidierung und Eigenfinanzierung noch brauchte. Die Gewinnspannen für den Opium- und Heroinhandel von den Bergbauern in Myanmar, die am wenigsten bekommen, bis zum Straßenhandel in New York sind mit mehreren Tausend Prozent geradezu abenteuerlich und steigen von Stufe zu Stufe und Transitland zu Transitland. Es geht jährlich um erhebliche Milliardenbeträge. Deshalb landete der Geldsegen, der mit der wachsenden Heroin-Nachfrage in Europa und den USA über das Goldene Dreieck hereinbrach, zum Teil auch in den privaten Taschen von Offizieren und Generälen.

Die zurzeit publizierten Artikel über die Geschäfte des Oberkommandierenden Min Aung Hlaing und anderer Spitzenoffiziere zeigen das Ausmaß dieser Methoden in Umrissen. In der Region sind solche Auswüchse auch bei der Polizei, beim Zoll und bei anderen Beamten nicht unüblich, bei unzulänglicher Bezahlung aber auch zu erwarten. Die Konkurrenz aus Afghanistan hat den Opiumhandel aus Südostasien vielleicht etwas weniger lukrativ werden lassen, dafür gilt Myanmar jetzt als Marktführer bei Methamphetaminen. Die Grundstoffe können leicht über die langen Grenzen aus China oder Indien bezogen werden, das inzwischen zur „Apotheke der Welt“ avanciert ist, die Laboratorien sind entweder versteckt oder mobil, und die weltweite Nachfrage steigt ständig weiter. Während der ​demokratischen Phase unter Aung San Suu Kyi hat sich weder für die Minderheiten noch für die Drogenindustrie viel verändert, und falls die Junta sich gegen die Massenproteste behaupten kann, wird man kaum positive Veränderungen erwarten können.

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