Interview mit Sicherheitsexperten Dr. Joachim Weber – Europäische Atommacht: „Eine permanente nukleare Steuerungsgruppe des Europäischen Rates könnte das Entscheidungsgremium werden“

Interview mit Sicherheitsexperten Dr. Joachim Weber – Europäische Atommacht: „Eine permanente nukleare Steuerungsgruppe des Europäischen Rates könnte das Entscheidungsgremium werden“

Global Review hatte die Ehre ein Interview mit dem Sicherheitsexperten Dr. Joachim Weber zu führen. Dr. Joachim Weber ist als Senior Visiting Fellow im Bereich strategische Vorausschau und Risikoanalyse am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn tätig. Vor seinem Wechsel zu CASSIS beforschte er im Arktis-Projekt des Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (2017-2019) geostrategisch und sicherheitspolitisch relevante Entwicklungen im Hohen Norden. Weber ist Mitbegründer des Kavoma (Katastrophenvorsorge und -management)-Studiengangs an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (2006 ff.). Darüber hinaus bekleidete Weber diverse Positionen in verschiedenen Behörden, etwa im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und beim Bundesministerium für Wirtschaft (BMWi).

Global Review: Dr. Weber, Sie haben in einem Focusbeitrag „Der deutsche Fehler: Kein Ernstfall wurde je wirklich wahrgenommen“ eine recht fundamentale Kritik an der deutschen Scherheitspolitik und Politik generell ausgesprochen. Um ihre Vita zusammenzufassen, scheinen Sie ja das Humboldtsche Bildungsideal der gesamtheitlichen Bildung, der universitas  oder wie es immer hieß der „vernetzten Sicherheit“, zumal unter Carl Schmitts Denken vom angeblichen Ausnahmezustand in einer Person verinnerlicht zu haben. Deswegen fiel uns auch ihr Beitrag auf. Aber Sie fordern einen Nationalen Sicherheitsrat, der alle Probleme lösen solle. Die USA haben dies neben anderen Staaten, aber bewahrt ein solcher Nationaler Sicherheitsrat vor solch desperaten und desaströsen Entscheidungen wie den Irakkrieg 2003 oder einer Condoleza Rice oder eben Brzezinski ? Welche Funktionen sollte solch ein Nationaler Sicherheitsrat erfüllen, wie vermeidet man solche Dysoptien, welche Kompetenzen sollte er besitzen und welches Personalrekrutierung? Umgekehrt glaubt General a. D. Naumann, dass ein der Regierung unterstellter Sicherheitsrat ein Garantierezept für ein zukünftiges Versagen sei und anders wenngleich undefiniert- organisiert werden müsste. Wie sehen Sie das?

Dr. Joachim Weber: In der Tat schöpfe ich meine Empfehlungen aus einem bewußt gewähltem, um große Vollständigkeit bemühtem Ansatz, der vertiefte Erfahrungen aus der praktischen Arbeit von Regierungsorganisationen mit einer theoeriebasierten,vertieften wissenschaftlichen Analyse verknüpft. Es bewahrt einen einen vor allzu schnellen Denkfehlern und Kurzschlüssen, die alles nur auf das vermeintlich realistische, „alternativlose“ reduzieren und gleichzeitig aber davor, der politischen Wirklichkeit realitätsfremde Theoriekonstrukte überstülpen zu wollen, eine beliebte deutsche Neigung. Aus vielen Rückmeldungen auch der Praktiker erfahre ich dann oft, daß dieser Ansatz ein bißchen weiter tragen könnte, als das bislang Versuchte.

Aber zum nationalen Sicherheitsrat: Das muß nicht nach US-Vorbild sein, sondern sollte überparteilich gedacht werden. Wir sind keine binäre Demokratie, sondern haben ein breiter aufgestelltes Parteiensystem. Eine solche Institution müßte so gestaltet werden, daß verschiedene Perspektiven zur Lage der Dinge durch die im Bundestag vertretenen Parteien eingebracht werden. Federführend sollte aber eine Art Direktorium aus möglichst unabhängigen Fachleuten sein. Diese sollten einmal im Jahr einen Nationalen Lagebericht zur Sicherheit der BR Deutschland erarbeiten und vor das Parlament bringen, das sich dann in Grundsatzdebatte damit auseinandersetzten sollte. Aber es gibt viele weitere Ideen dazu, wir sollten sie anfangen ernsthaft zu erarbeiten, in einem möglichst großen Konsens der Parlamentsparteien. Wichtig ist soviel Unabhängigkeit für dieses Gremium, daß substanzielle Kritik vor allem am Unterlassen von Regierungen klar erkennbar möglich bleibt. Sonst können wir es uns sparen.

Global Review: Ihre richtige Sicht ist, dass es keine Gewissheiten mehr gibt, dass Deutschland und Europa sich emanzipieren müssen- auch militärisch, zumal einen Plan B haben sollte, sollte der US-Atomschutz, wahrscheinlich unter Trump entzogen werden. Aber inwieweit ist da eine deutsche oder gar europäische Atommacht realisierbar? Kann es eine europäische Militärmacht gegen Russland und vielleicht auch den USA und China geben, wenn doch alle diese Siegermächte dies nicht wollen Force de Frappe für Europa, GB für Europa, GB und Frankreich für Europa oder deutsch-französisch mit deutschen Atomwaffen? . Britische Atommacht für Europa? Ist das realistisch und ein Plan B?

Dr. Joachim Weber: Leider habe ich hier kein Patentrezept. Frankreich wird die FRA Atombombe nicht teilen. UK auch nicht die britische. Insofern wäre es Aufgabe der europäischen Sicherheitspolitker aller Coleur, die Brisanz dieses Themas zu erkennen, es beharrlich auf die Agenda zu setzen und zunächst einmal im Bereich der EU-Außen- und Sicherheitspolitik auf praktikable Verfahrensgänge qualifizierter Mehrheiten bei den GASP-Entscheidungsprozessen hinzuwirken. Ist hier eine gewisse Einmütigkeit der maßgeblichen Nationen vorhanden, dann müßte man sehen, von wem die Technologie kommt und unter Erstellung welcher Strukturen eine kleine, aber schlagkräftige strategische Verteidigungskomponente mit nuklearer Ausstattung zustanden kommen und den EU-Entscheidern an die Hand gegeben werden kann. Eine permantene nukleare Steuerungsgruppe des Europäischen Rates könnte das Entscheidungsgremium werden. Dazu müssen aber erst gewaltige Klippen umschifft werden, z.B. auch in Gestalt des Atomwaffensperrvertrages. Doch auch große Wege beginnen mit ersten Schritten.

Global Review: Inwieweit sehen Sie wie General Vad in Deutschland einen strukturpazifistischen Nachkriegsfreihändlergeist am Wirken, der zumal über die 68er und Hippiebewegung katalysiert wurde, als auch einen Sozialkundeidealismus? Was müsste man ändern, falls man Ihre Thesen teil?. Will man dann zu einem strukturellen Nachkriegsmilitarismus oder sind Pazifismus und Militarismus, auch aufgrund zweier Aggressionsweltkriege seitens Deutschlands und dann dem pazifistischen Weltexportmeister nur zwei Seiten einer Medaille, die uns eine realpolitische Zwischenbestimmung zwischen Ideal und praktischer Umsetzung verunmöglicht haben?

Dr. Joachim Weber: Wir dürfen nicht von falschen Annahmen ausgehen. Beim Ersten Weltkrieg, sollten Sie den meinen, haben Sie ein paar Jahrzehnte Forschung außer acht gelassen. Niemand, der international in dieser Debatte noch halbwegs ernst genommen werden möchte, würde eine solche These vom deutschen Aggressionskrieg heute noch vertreten. – Aber weg von der Geschichtswissenschaft: Ich glaube, daß Vad im Kern recht hat, Deutschland ist ein sehr pazifistisches Land geworden, aus guten Gründen und historischer Erfahrung. Das ist zunächst ja gar nicht schlecht, aber das Problem entsteht, wenn die Welt sich um einen herum so radikal wandelt, daß die Rezepte der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr weiterhelfen. Dann wird aus „gut“ schnell „gut gemeint“, was so ungefähr das Gegenteil davon sein dürfte. Unsere Strukturen und ein Teil unserer Einstellungen sind inzwischen dysfunktional, und damit befördert man nicht Sicherheit, sondern erzeugt Unsicherheit, für das eigene Land wie für Europa. Jedenfalls rufen die Ostmitteleuropäer unablässig nach mehr deutschem Militär und mehr realistischer Vernunft in deutschen Landen. Beide Bereiche sind hier weiterhin erkennbar defizitär.

Global Review: Wir sprechen uns schon lange für eine europäische Neue Seidenstrasse aus, wie sie nun ansatzweise über das EUprogramm Global Gateway und Bidens B3W angedacht wird, auch unter Berücksichtigung der kritischen und auch nicht kritischen Infrastruktur.  Global Review meint:Um Chinas Neuer Seidenstrasse BRI/OBOR etwas entgegenzuhalten, braucht es eine eigenewestliche und eine europäische Neue Seidenstrasse mit gesamteuropäischen Planung, Strategie und Finanzierung. Ansatzweise ist dies nun mit dem EU-Programm Global Gateway und Bidens B3W geschehen, doch bisher scheint es nur Stückwerk, man hört auch nichts in deutschen Medien oder seitens der EU darüber. Warum soll China eine Eisenbahnstrecke Budapest-Belgrad bauen und nicht die EU oder europäische Firmen? Warum nicht die kroatische Brücke, etc. Ebenso ist die Frage ,insofern man wie Georg Anastasiadis der Ansicht ist, dass wir uns in einer „Kriegswirtschaft“ befinden, ob man nicht ein Investment Monitoring durch die EU und die NATO oder unter Beteiligung dieser etablieren sollte, um die sicherheitspolitischen Effekte besser abschätzen zu können. Eine Europäische Neue Seidenstrasse hätte den Vorteil, China aus der 16 plus-Gruppe rauszudrängen, osteuropäische und Balkanstaaten an die EU anzubinden unterhalb und ohne EU-Mitgliedschaft, Arbeitsplätze zu schaffen, durch keynesianistische Muktiplikatoreneffekte die europäische Wirtschaft anzukurbeln und der nächsten Generation eine moderne und sichere Infrastruktur zu vererben. Hierbei sollte Deutschland eine Führungsrolle in der EU übernehmen und nicht mit deutschen Sonderwegen Wilhelmscher Weltpolitik glänzen-nicht nur als militärische Führungsrolle, zumal das ohne eigene oder europäische Atomwaffen oder ohne US-Atomschutz ohnehin eine Lachnummer ist. Inwieweit glauben Sie, dass Deutschland eine europäische militärische Führungsmacht werden könnte und inwieweit sehen Sie die Notwendigkeit, dass Deutschland in Sachen kritischer Infrastukturen, Neuer europäischer Seidenstrasse und einem zivilen Projekt der EU ebenso strategischer Vorreiter werden könnte?

Dr. Joachim Weber: Deutschland handelt leider überhaupt bislang nicht sehr strategisch, sondernimmer nur reaktiv und ängstlich darauf schielend, was die direkten Nachbarn und Uncle Sam sagen und wollen. Da hängt man sich dann an. Deswegen sieht es aus meiner Sicht so aus: Erst einmal die Probleme erkennen und erste Strukturen erzeugen, in welchen wir uns über unsere Defizite und die mangelnde Funktionalität unserer Aufstellung klarer werden, also mehr und intelligentere Diskurse in die Parteien und in die Gesellschaft bringen. Dann könnten wir anfangen, einzelne Politikfelder strategisch anzugehen, d.h. mit Planungshorizonten, die über die Dauer einer Legislaturperiode hinausgehen. Wenn wir 1 Jahr (Vor-)Wahlkampf haben, in dem nichts Gescheites geschieht und dann fast ein Jahr brauchen, bis sich Koalitionen ein bißchen zusammengerauft haben, dann bleiben 2 Jahre für das „performen“, und es geht wieder von vorne los. Die Chinesen dagegen planen für Jahrzehnte. Zu diesem strukturellen Defizit muß sich die Demokratie langsam mal etwas einfallen lassen, wenn sie nicht abstürzen will. Deutschland käme dabei wegen Größe, sprich Bevölkerungszahl und ökonomischem Gewicht sicher die Rolle eines Stabilitätsankers, gemeinsam hoffentlich mit Frankreich, innerhalb der Europäischen Union zu. Aber da brauchen wir auch viel institutionelle Reform, in Berlin wie in Brüssel. Dann lohnt es, über Seidenstraßen zu sprechen.

Global Review: Insofern Plan A nicht hält und Plan B, einer europäischen Atommacht oder deutschen Atommacht, inwieweit könnte Deutschland in Anlehnung an Indien oder der Erdogan- Türkei den Weg eines strategic balancing oder einer Naviagationststrategie gehen? General a. D. Naumann glaubt, dass Deutschland aufgrund seiner transatlantischen Orientierung, mangelnder Massenvernichtungswaffen und zu wenig Bevölkerung anders als Indien dazu nicht in der Lage sei. Aber Erdogan macht das ja sehr erfolgreich. Wäre dies nicht unter einer Trump- USA eine möglicherweise erfolgreiche Herangehensweise?

Dr. Joachim Weber: Nun ja, nur wenige Entwicklungen in Deutschland und den USA stimmen mich derzeit allzu hoffnungsvoll. Klar ist nur: Wenn wir unsere Hausaufgaben nicht machen, wird die Geschichte über uns hinwegschreiten. Die Geschehnisse in der Ukraine könnten unser letzter Weckruf gewesen sein.

Soweit das GR- Interview mit Dr. Joachim Weber. Schwerpunkt: Nationaler Sicherheitsrat, Europäische Atommacht und Europäische Seidenstrasse.  Ob so ein NSR nach diesen Vorstellungen so die wirkliche Neuerung wäre, da habe ich Zweifel. Man muss aufpassen, dass er vor lauter Parteienpluralismus nicht zu einer neuen Schwafelrunde verkommt. Interessant ist die Idee einer permanenten nuklearen Steuerungsgruppe unter der Ägide des Europäischen Rates. Leider führt er das nicht aus und wäre das vergleichbar mit der Nuklearen Planungsgruppe der NATO? .Alles viel zu schlagwortmassig ohne Vertiefung. Neue Seidenstrasse und solche Projekte sind scheinbar für Weber nicht ohne zu zuvorige institutionelle Reform in Deutschland und der EU denkbar. Vielleicht richtig, aber auf das schon existierende EU- Seidenstarssenprojekt Global Gateway-geht er gar nicht ein. Aber nochmals zur institutionellen Reform:

Inzwischen glaube ich nicht an eine institutionelle Reform der NATO und der EU innerhalb dieser existierenden Institutionen, da Erdogan, die Pis-Polen und Orban das immer blockieren würden. Letztere vielleicht eine NATO-Reform nicht, aber der bisherige Zweiklang NATO- und EU- Erweiterung und Mitgliedschaft wird nicht mehr so eingehalten werden können.  Ich glaube, die NATO und die EU insofern sie als Wertegemeinschaft weiter existieren will und zudem als kriegsfähiges Bündnis, sollte eher eine Art Neugründungskonferenz machen, bei denen sich alle sonstigen Staaten zusammensetzen und die EU und die NATO ohne diese Arschlöcher neugründen, vielleicht auch unter einem anderen Namen, aber das ist Geschmacksfrage. Oder zuvor schon das gründen und es ihnen androhen, wenn sie nicht einfach zu einer Reform zustimmen, dass man einfach eine Parallel- ud Neugründung ohne sie durchzieht. Und dann auch auf Basis von Mehrstimmigkeitsprinzip und Ausschlussmöglichkeit, wenn sie nicht den gemeinsamen Wertekonsens und sonstige Mitgliedsbedingungen einhalten und sich als Zecken im Pelz betätigen, wie zuletzt Orban, der angesichts von EU- Subventionskürzungen wegen Korruption und Rechtsstaat die Ukrainehilfe blockieren will, wie ERdogan die NATO- MItglieschaft Finnaldns und Sschwedens. Aber wer hat da den Mut einfach mal den Schnitt einer kurzen proforma-Auflösung und Neugründung ohne Konstruktionsfehler zu machen? Wobei auch denkbar ist, dass US- Kräfte auf eine NATO- Neugründung hindrängen könnten, , nur von Staaten, die die 2%- Ziele beim BIP auch einhalten. Da wäre Deutschland und einige andere auch wieder draussen. Zumindestens ist die Hoffnung auf eine Reform der Institutionen innerhalb der Institutionen hoffnungslos.

 „Der deutsche Fehler: Kein Ernstfall wurde je wirklich ernst genommen

Dienstag, 18.10.2022

Zu denen in der Sicherheitspolitik ist an dieser Stelle einiges zu sagen. Wir kommen in Deutschland aus einer Lagewahrnehmung, in welcher im Politikbetrieb parteiübergreifend davon ausgegangen wurde, dass das Land nur noch „von Freunden umgeben“ sei und jeder sich anbahnende, größere Konflikt eine jahrelange Vorwarnzeit eröffne, in der man kurzerhand wieder die fehlende Verteidigungsfähigkeit des Landes nachinstallieren könne.

Die deutsche Sicherheitspolitik steht mit heruntergelassen Hosen da. Das hat Putins Überfall auf die Ukraine nur allzu deutlich gezeigt. Für den Ernstfall ist unser Land in keiner Weise ernsthaft vorbereitet. Was jetzt militärisch dringend geboten ist.

Die am 24. Februar 2022 eingetretene „Zeitenwende“ markiert nicht nur den Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, sie steht auch für den Offenbarungseid der deutschen Sicherheitspolitik und ihr krachendes Scheitern. Ein Scheitern, das nicht nur eine militärische Dimension hat, sondern in einem umfassenden Sinne offen legt, dass die Bundesrepublik Deutschland keinen Ernstfall je wirklich ernst genommen hat – auch nicht in Fragen der Energiepolitik, der kritischen Infrastrukturen wie zum Beispiel Pipelines noch der hybriden oder sonstiger Bedrohungen.

Und dies geschieht nur kurze Zeit, nachdem die Unfähigkeit zum Krisenmanagement in der Migrations- und dann in der wenige Jahre später folgenden Coronakrise dieses Gemeinwesen bereits schwer erschüttert hatten. Allen diesen Krisen ist gleich, dass enorme Mittel aufgewendet werden müssen, welche die zuvor durch Schleifenlassen erzielten Einspareffekte völlig konterkariert haben.

Deutschland „von Freunden umgeben“ – eine Fehleinschätzung

Den Totalschaden des eigenen Hauses zu sanieren, ist und bleibt immer teurer, als die rechtzeitige Erledigung von einigen regelmäßigen Überprüfungen, Korrekturen und Vorbereitungen. So vermeidet man, plötzlich Wegwerfartikel wie FFP2-Masken in China für Milliardensummen zu erwerben oder bei den US-Rüstungskonzernen zur plötzlichen Shoppingtour anzutreten. Doch es geht hierbei nicht primär ums Geld, es geht vor allem um Mentalitäts- und Realitätsdefizite.

Das war zu Beginn der 2010er-Jahre eine vielleicht noch vertretbare Position, aber was nützen die Vorbereitungszeiten, wenn sie nicht genutzt werden und man die Flammenschrift an der Wand nicht auslesen will oder mag? Es scheint für viele eine Zumutung, in ihrer Realitätsverweigerung gestört zu werden.

Wehrhaftigkeit wurde nicht ernsthaft erhöht

Putins erster Überfall auf den Osten der Ukraine geschah bekanntlich 2014, und zwei unionsgeführte Kabinette haben danach wenig getan, um die Wehrhaftigkeit des Landes wirklich ernsthaft zu erhöhen, während Teilen der damaligen Opposition das Kaputtsparen der Bundeswehr gar nicht schnell genug gehen konnte. Zugleich wurde die energiepolitische Abhängigkeit von Russland beim Gas noch von 40 auf 55 Prozent gesteigert.

Während die umfassende Analyse dieser und anderer Defizite die Historiker noch lange beschäftigen wird, soll hier in einigen kurzen Thesen schlaglichtartig aufgezeigt werden, wovon wir ausgehen sollten (Lage) und was militärpolitisch jetzt zu tun wäre:

  • Die Einbindung Deutschlands in die EU und das transatlantische Bündnis bleibt Dreh- und Angelpunkt deutscher Politik, weil realistische Alternativen auch weiter nicht zu sehen sind.
  • Dieser Bezugspunkt deutscher Politik ist aber akut gefährdet. Die EU steht im Ukrainekrieg noch einigermaßen zusammen, aber Bruchlinien zwischen Mitgliedern und Staatengruppen sind unübersehbar. Und das transatlantische Bündnis, so revitalisiert es derzeit scheint, ist dennoch akut gefährdet. Erschiene in gut zwei Jahren Donald Trump wieder im Weißen Haus – kein unwahrscheinliches Szenario – dann kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Nato dies nicht überlebt. Unmöglich? Warten wir es ab. Deutschland lehnt sich seit fast 75 Jahren an die Schulter von Uncle Sam. Was tun, wenn dieser zur Seite tritt?
  • Während wir hoffen mögen, dass das Szenario 1 sticht, weil es die geringsten Verwerfungen beinhaltet, so müssen wir im Sinne einer strategischen Vorausschau doch das Undenkbare des Szenarios 2 zu denken anfangen. Auch ein großer Staatenkrieg mitten in Europa schien den meisten noch zu Jahresanfang völlig undenkbar.
  • In Fragen von Leben und Tod verlässt man sich am besten und in erster Linie konsequent auf sich selbst. Das heißt konkret, dass wir endlich regelmäßige und realistische Lageeinschätzungen für die Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik in der Hauptstadt brauchen, zum Beispiel durch einen Bericht zur Lage der Nation, einen institutionellen, nationalen Sicherheitsberater oder einen deutlich modifizierten Bundessicherheitsrat. Warum geht hier noch immer fast nichts voran? Festzuhalten ist: Wir müssen gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge viel umfassender denken (Militär, Energie, KRITIS und Bevölkerungsschutz, Cyber, Migrationen, Schutz unserer Seewege usw).
  • Man darf bei den Lagebildern nicht stehen bleiben. Nötig ist ein Sofortprogramm für die Streitkräfte, das die dringendsten Defizite ohne jede weitere Verzögerung sofort angehen muss. Dazu gehört unter temporärem Absehen von den üblichen Vergabewegen die sofortige Schaffung einer durch Wirtschaftspraktiker geführten, temporären Beschaffungsagentur mit dem Zweck von Tempo, also zum Beispiel die sofortige Erhöhung von Munitionsbeständen und Wirkmitteln, idealerweise durch die Restkerne der deutschen Rüstungsindustrie und wo unvermeidbar durch die Industrien anderer Länder. Der Volkssport des oftmals höhnischen und gewollten Abbaus unserer letzten Rüstungskerne muss gestoppt werden. Dies ist prioritäre Aufgabe der beteiligten Ministerien unter Initiative des Kanzleramtes.

Deutschland ist ein Land geworden, in dem alle zwar gerne verteidigt werden wollen, aber selten jemand dazu einen Eigenbeitrag erbringen möchte. Nicht nur die Politik, die ganze Gesellschaft steht vor der Klärung der Frage, ob und wie sie in einer Welt dramatisch zunehmender Konfliktentwicklungen überleben möchte. So wie es ist, kann es nicht bleiben. Es muss unter anderem dringend das Projekt einer allgemeinen Dienstpflicht für junge Frauen und Männer angegangen werden, bei dem es möglich sein sollte, zumindest sechs oder acht Monate bei Streitkräften, THW, Feuerwehren oder einer Grenzpolizei-Reserve einen (Regel-) Dienst zu leisten, der die Verletzlichkeit des Landes an so vielen Stellen reduzieren könnte.

Für die Streitkräfte muss neu überlegt werden, was sie können sollen. Als mit Abstand größte Nation in Europa mit 84 Millionen Menschen sollte es möglich sein, zum Rückgrat einer europäischen Verteidigung zu werden, was Rüstungskooperationen und pooling and sharing mit gleichgesinnten EU-Staaten nicht ausschließt. Dennoch muss Deutschland vorangehen und für zentrale Bereiche, zum Beispiel auch gemeinsam mit Frankreich, eine Rolle in der Führung der Union übernehmen – von der Rüstungsbeschaffung bis zur Aufstellung einsatzbereiter battle groups. Anders wird Abschreckung nicht glaubwürdig.

Die Glaubwürdigkeit der Abschreckung verlangt angesichts immer neuer nuklearer Drohgebärden aus Russland auch, dass die Frage einer europäischen Nuklearstreitmacht neu diskutiert wird. Mit Briten und Franzosen sind zwei Mächte in Europa vorhanden, die über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen. Ist eine europäische Nuklearstreitmacht denkbar? (Was kostet uns der Verzicht darauf?) Welche Alternativen sind zu sehen? Die Debatten von gestern helfen nicht mehr weiter, die Herausforderungen sind jetzt nicht mehr nur theoretische, und sie werden neue Antworten verlangen.

Ja, diese Thesen wollen und sollen provozieren. Aber wer die Zu-Mutungen in ihnen nicht sehen möchte oder nicht erträgt, der soll nun umgekehrt einmal erklären, was eine Fortsetzung unserer selbstverschuldeten Misere für die Verletzlichkeit dieses Landes und seine völlig unzureichend ausgeprägte Resilienz bedeuten würde. Man darf wohl gespannt sein. Kalte Winterabende jedenfalls laden zum Nachdenken ein.

https://m.focus.de/perspektiven/focus-online-serie-deutschland-2025-der-deutschland-fehler-wir-haben-keinen-ernstfall-je-wirklich-ernst-genommen_id_163394032.html

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